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Der Hunger blickt uns an

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EIN DRITTEL DER ERDBEVÖLKERUNG ist unterernährt, 10 bis 15 Prozent aller Menschen hungern. Ist dieser Umstand eine mehr oder minder selbstverständliche Erscheinung, die sich gleichbleibend durch die Geschichte zieht? Keineswegs. Hunger wird zu einer immer größeren Gefahr für die Menschheit. Setzen sich die gegenwärtig feststellbaren Entwicklungstendenzen fort, droht der Erde eine gewaltige, vielleicht die gigantischeste Katastrophe ihrer Geschichte. Indien, Pakistan und China würden schon in wenigen Jahren Zentren dieser Katastrophe sein, und 1980 wären praktisch alle Gebiete Asiens, Afrikas und Lateinamerikas betroffen — wenn nichts geschieht, um zu helfen, um dieser Entwicklung vorzubeugen. Diese Bedrohung durch eine Welthungerskatastrophe ist unter Umständen eine viel größere Gefahr für die Erde als die Atombombe. Millionen, ja Milliarden würden unmittelbar darunter leiden. Malthus’ pessimistische Theorie von der notwendig eintretenden Welthungerskatastrophe würde sich bewahrheiten.

OBWOHL DIE ZAHL DERER, die vom Hunger betroffen sind, und denen die Katastrophe primär droht, weltweit im Steigen begriffen ist, explodiert die Bevölkerungszahl gerade jener Gebiete, in denen bereits der Hunger herrscht. Asiens (ohne China und Japan) und Afrikas Bevölkerung wird innerhalb der nächsten 20 Jahre eine jährliche Bevölkerungszuwachsrate von 2,5 Prozent haben, Lateinamerika von 2,9 Prozent.

Gleichzeitig wird in Europa die Bevölkerung nur um 0,9 Prozent jährlich steigen, in Nordamerika und in der UdSSR jeweils um 1,7 Prozent. Die Zuwachsraten der . Entwicklungsländer sind die höchsten der Geschichte, und sie erhöhen sich noch immer. Die Fortsetzung dieser Entwicklung würde bedeuten, daß sich bis zum Jahr 2000 die Bevölkerung der Gebiete, die immer ärmer werden, mehr als verdoppelt hat.

Die überwiegende Mehrheit der Menschheit in einer Hungerkatastrophe von noch nicht erlebtem Ausmaß, ein hoher Prozentsatz dieser Menschen buchstäblich am Verhungern — unter diesen Umständen ist auf eine evolutionäre Entwicklung in diesen Gebieten nicht zu hoffen. Wer aber kann glauben, daß eine Minder heit von immer wohlhabender Werdenden der überwältigenden, zui Revolution bereiten Mehrheit vor immer ärmer Werdenden gegenüberstehen kann, ohne daß es zur Ex- ‘ plosion kommt? Es wäre eine Illusion, zu glauben, von einer Welthungerskatastrophe wären nur die Hun- . gernden und Verhungernden betroffen.

DAS COMITE CATHOLIQUE CONTRE LA FAIME de France (Paris) hat sich die Aufgabe gesetzt, mit einer Ausstellung auf dieses viel zuwenig beachtete, mit einigen Almosen vermeintlich zur Seite zu schiebende Problem aufmerksam zu machen. Das Wiener Institut für Entwicklungsfragen, dessen Direktor der bekannte Publizist Jules Klanfer ist, übernahm die Ausstellung „ … denn sie sollen satt werden” für Österreich und wird sie in verschiedenen Städten Österreichs zeigen. Am 26. Jänner wurde die Ausstellung von Bundespräsident Jonas in Gegenwart der Bundesminister Bock, Kreisky und Schleimer eröffnet.

Ein Gang durch diese Ausstellung rüttelt auf. Die Bilder und Zahlen beweisen, daß wir, die Satten, die Besitzenden, die zur wohlhabenden Minderheit dieser Erde Zählenden, es uns zu einfach machen. Wir belügen uns selbst, wenn wir Ausreden erdichten: Es geschieht ohnehin genug für die Hungernden, die Amerikaner verschenken doch ihre landwirtschaftlichen Uberschußgüter. Oder, noch schlimmer, wir sagen: Die Völker, die hungern, sind eigentlich selbst an ihrem Unglück schuld; wir wissen doch, daß sie bequem und arbeitsscheu sind; übrigens, sind sie so, wie sie jetzt leben, nicht zufrieden?

DIE AUSSTELLUNG ERBRINGT DEN BEWEIS, daß Menschen, die vom Augenblick ihrer Geburt an mit den physischen und psychischen Stigmata des Hungers gezeichnet sind, unter den gegebenen Umständen nicht dasselbe vollbringen können wie Menschen, denen die tägliche Infragestellung ihrer nackten Existenz völlig fremd ist, denen Sattheit immer eine Selbstverständlichkeit war. Säuglinge an der Mutterbrust mit den aufgedunsenen Bäuchen des Hungerödems und dürren, vertrockneten Gliedern sind ebenso eine erschütternde Anklage wie eine Gegenüberstellung des Elends der Hungergebiete mit den in Silos aufgehäuften Uberschußgütem.

Die Aussage der Ausstellung ist klar: Helft den Hungernden, damit sich diese selbst helfen können. Almosen vermögen nur individuelle Augenblicksnot zu lindern, sie können aber nicht die Wurzeln des Welthungers und damit auch nicht die schreckliche Anklage derer, die zu

Millionen jährlich an den mittelbaren und unmittelbaren Folgen des Hungers sterben, aus der Welt schaffen.

WIRKSAME HILFE IST:

• Bekämpfung des Analphabetentums — nur dann werden die hungernden Völker imstande sein, sich selbst zu helfen.

• Modernisierung der Landwirtschaft — noch immer ist für die Mehrheit aller Landwirte der Welt der Pflug ein unbekanntes Gerät; auch die Verwendung von Kunstdünger könnte den Ertrag des kärglichen Bodens gewaltig steigern.

• Aufbau einer Industrie — die Entwicklungsländer leiden unter dem Monokulturcharakter ihrer Wirtschaft, die deshalb von den geringsten Preisschwankungen an den großen Börsen schwer getroffen werden kann; sie leiden auch unter dem immer größer werdenden Mißverhältnis zwischen den ihnen zufallenden Rohstoffpreisen und den von ihnen zu zahlenden Preisen für Finalprodukte.

Gewähren die Industriestaaten Hilfe dieser Art, so ist das auch kein Almosen im Sinne eines einseitigen Profits derer, denen geholfen wird. Helfen auf solche Weise bedeutet auch Profit für die Geberländer: politischen Vorteil bedeutet der Abbau der den Weltfrieden bedrohenden, immer gewaltiger werdenden Kluft zwischen reichen und armen Staaten; wirtschaftlichen Vorteil bedeutet der Aufbau neuer Märkte und Handelspartner, die von den Industriestaaten die Gefahr der Überproduktion abwenden können.

UND ÖSTERREICH? Was kann ein kleines Land tun, das zur weniger wohlhabenden Hälfte der reichen Länder zählt? Die Besucher der Ausstellung erfahren, daß ohne viel Aufsehen und Unterstützung einige Organisationen Projekte in und für die Entwicklungsländer durchgeführt haben. Unter anderem erfährt man von landwirtschaftlichen Projekten des „Österreichischen Komitees der Weltkampagne zur Bekämpfung von Hunger und Not”, von der sozialen Aktivität der österreichischen Caritas und vom Aufbau von Bildungszentren in Afrika durch den österreichischen Gewerkschaftsbund. Man ist fast überrascht, daß es auch in Österreich schon mehrere Organisationen und die dahinter stehenden Menschen gibt, die nicht über den Welthunger reden, sondern auch mithelfen, ihn einzudämmen.

Die Durchführung von Schwerpunktprogrammen, die ganz spezielle Ziele an bestimmten Orten erreichen will, dürfte für ein kleines Land wie Österreich die Form von Entwicklungshilfe sein, bei der unsere Mittel am effektivsten eingesetzt werden können. Das bisher Geleistete darf nur ein Anfang sein für unsere Beteiligung an der weltweiten Aktion gegen den Hunger und seine Ursachen.

ZWISCHEN 25 UND 40 MILLIONEN MENSCHEN sterben jährlich an den Primär- und Sekundärfolgen des Hungers — so schätzt man. Jeden Tag verhungern 100.000 Menschen! Jede Sekunde stirbt ein Mensch, weil die einen auf dieser Welt fast alles, die anderen fast nichts besitzen! Und gleichzeitig werden immer wieder neue und bessere Erfindungen gemacht, die es ermöglichen würden, auf der Erde eine Vielzahl der Menschen zu ernähren, die gegenwärtig leben. Doch was geschieht? Der technische Fortschritt wird nicht dem Leben, sondern der Vernichtung dienstbar gemacht. Statt an einer Intensivierung des Kampfes gegen den Hunger wird an einer Intensivierung des Kampfes gegen da Leben gearbeitet…

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