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Zuerst der Hirsebrei?

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Brav eines nach dem anderen, treten die großen Horrorthemen der Weltöffentlichkeit in das Bewußtsein: Die weltweite Rezession, der Nahe Osten, der Terror, die ölpreisbedingten Krisen der Weltwährungsordnung. Über den Hunger in der Dritten Welt spricht man jetzt weniger — andere, eigene Sorgen stehen uns näher. Außerdem aber grassiert er heute in weniger spektakulären Formen als noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als etwa in Indien eine einzige Hungersnot Hunderttausende Menschenleben auslöschte.

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Brav eines nach dem anderen, treten die großen Horrorthemen der Weltöffentlichkeit in das Bewußtsein: Die weltweite Rezession, der Nahe Osten, der Terror, die ölpreisbedingten Krisen der Weltwährungsordnung. Über den Hunger in der Dritten Welt spricht man jetzt weniger — andere, eigene Sorgen stehen uns näher. Außerdem aber grassiert er heute in weniger spektakulären Formen als noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als etwa in Indien eine einzige Hungersnot Hunderttausende Menschenleben auslöschte.

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Sarkastisch formuliert der Bevölkerungstheoretiker und FAO-Mitar-beiter Heinrich von Loesch: „Es ist die Kunst unserer Zeit, den Hunger besser zu strecken. Es ist unsere große, aber problematische Errungenschaft, akute Hungersnöte in chronische Unterernährung verwandelt zu haben.“

Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Welt daran gewöhnen müssen, daß aus Getreideüberschüssen auf dem Weltmarkt chronische Mangelzustände wurden, während die Bevölkerungswissenschaftler längst jede Hoffnung aufgegeben haben, irgendwelche Maßnahmen zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums könnten vor dem Jahr 2000 sichtbare Wirkungen zeitigen.

In den von Thomas Frejka für den amerikanischen Bevölkerungsrat errechneten Projektionen etwa werden alle Berechnungen, die zu weniger als sechs Milliarden Menschen Weltbevölkerung im Jahr 2000 gelangen, als unrealistisch ausgeschlossen, und auch ein Minimum von sechs Milliarden erscheint ihm „plausibel, aber im Lichte gegenwärtiger Erfahrung und Lehre nicht unbedingt realistisch“. Selbst die mittlere Variante der offiziellen Bevölkerungsprojektionen der Vereinten Nationen gelangt zur Annahme, daß sich die Weltbevölkerung in einem knappen Jahrhundert. zunächst auf einem Stand vea 13 bis 14 Milliarden Menschen einpendeln wird.

Wieviele es wirklich sein werden,

wissen wir heute sowenig, wie wir sagen können, wovon sie leben werden. Einigkeit besteht hingegen in zwei Punkten: Keine wie immer geartete bevölkerungspolitische Maßnahme kann noch in diesem Jahrhundert wesentliche Wirkung zeitigen, anderseits nimmt niemand an, daß das Wachstum der Weltbevölkerung länger als einige wenige Jahrzehnte so weitergeht wie heute.

Allen Untergangsprognosen, die deshalb das Ende der Menschheit nahen sehen, hält Heinrich von Loesch, der in seinem Werk „Stehplatz für Milliarden? Das Problem Übervölkerung“ (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart) eine Fülle neuer und origineller Gedanken zum Thema Bevölkerungspolitik vorlegt, die Feststellung entgegen, daß die Erde offenbar immer übervölkert war, da

Armut der „geschichtliche Normalzustand der Menschheit von Anbeginn“ war. Angesichts der immerhin kaum abzustreitenden Tatsache, daß in den letzten beiden Jahrzehnten der Lebensstandard der Völker der Dritten Welt fast überall ein wenig gestiegen ist, fragt er: „Könnte es sein, daß der Grad der Übervölkerung gesunken ist, obwohl in dieser Zeit die Bevölkerung kräftig wuchs?“

Loesch hält der heutigen Bevölkerungswissenschaft einen solchen Wust einander widersprechender Lehrmeinungen, Rezepte und Zukunftsprognosen vor, daß man von gesichertem Wissen auf diesem Gebiet überhaupt kaum sprechen könnte, und konstatiert ein gewaltiges Theoriedefizit. Eines seiner zentralen Probleme ist die so oft diskutierte Frage nach den Zusammenhängen zwischen Lebensstandard und Urbanisierung auf der einen und Geburtenfreudigkeit auf der anderen Seite. Wobei er zu dem Resultat gelangt, daß alle jene Optimisten, die auf einen sozusagen automatischen Geburtenrückgang im Gefolge steigenden Wohlstandes (oder zunehmender Urbanisierung) hoffen, Opfer ihres eigenen Wunschdenkens sind.

Loeschs wichtigster Beitrag zum Thema ist die Herausarbeitung individueller psychologischer Faktoren der Geburtenfreudigkeit und sein vehementes Auftreten gegen alle „karnickeltheoretiker“, die in den Menschen der Entwicklungsländer

sich hemmungslos und gegen ihre eigenen Interessen vermehrende, vernunftlose Wesen sehen wollen. Loesch liefert demgegenüber eine sehr handfeste Deutung für das Nichtfunktionieren der Versuche, die Menschen zur Familienplanung «und Geburtenkontrolle zu veranlassen — oft gerade in jenen Ländern, in denen solche Versuche am heftigsten betrieben werden.

Er arbeitet eine ganze Reihe von Gründen heraus, die das Interesse der Menschen in den Entwicklungsländern, bei steigender Lebenserwartung mehr Kinder zu haben, begreiflich erscheinen lassen. Neben der Sohnespräferenz, die auch in vielen Industriestaaten die Geburtenzahlen steigert, steht das Sinndefizit, das gerade durch steigende Lebenserwartung entsteht: Menschen, deren El-

tern damit rechnen mußten, mit 30 Jahren zu sterben, bereiten sich heute auf ein langes Leben vor, doch niemand bietet ihnen Inhalte, um dieses längere Leben in erreichbare Ziele, in Aufstiegschancen zu investieren. Kinder sind ihre einzige Chance, dieses Manko zu füllen, und sie handeln, aus ihrer individuellen Perspektive, richtig und sinnvoll, wenn sie mehr Kinder in die Welt setzen als ihre Eltern.

Dazu gesellt sich das tiefe Mißtrauen der Menschen in den Entwicklungsländern gegen alles, was ihnen „von oben“, vor allem aber „von außen“, aufgedrängt wird: Je öfter sie darauf aufmerksam gemacht werden, welcher Wert in den Industriestaaten auf ihre Enthaltsamkeit

gelegt wird, desto mehr festigt sich ihre Überzeugung, das Kinderkriegen müsse womöglich noch weitere Vorteile haben, die ihnen gar nicht bewußt sind. Dies nicht im Sinne einer Trotzhaltung, sondern eines überlegten Kalküls auf Grund des ihnen zugänglichen Wissens, ihres begrenzten Erfahrungsschatzes.

Loesch verordnet daher den Industriestaaten propagandistische Enthaltsamkeit in Sachen Bevölkerungspolitik in den Entwicklungsländern, wenn sie wollen, daß deren eigene Bevölkerungspolitik zum Tragen kommt. Nur im nationalen Rahmen betrieben, könne sie Erfolg haben. (Wofür ja auch der relative Erfolg der Propaganda für „family plann-ing“ in Indien und der Mißerfolg in den lateinamerikanischen Slums spricht. In Lateinamerika dürfte die Familienplanung eher in der Oberschicht populär sein als in den fave-las.)

Stellt dies nicht eine Aufforderung dar, in einem auf einen Abgrund zurasenden Zug auf den Gebrauch der Notbremse zu verzichten? Loesch sieht zwar die Ernährungssituation

der Welt in den kommenden Jahrzehnten dramatisch genug, setzt aber auf die zunehmende Bereitschaft der Industriestaaten, den Entwicklungsländern zu helfen, um Katastrophen zu< verhindern: Die Sensibilität der westlichen Bevölkerungen für Hungerkatastrophen in anderen Ländern ist heute größer, als viele Politiker annehmen, und die Bereitschaft zur Mehrarbeit aus Solidarität mit den Hungernden eine durchaus mobilisierbare Hilfsquelle.

Um die langen und mehr als lesenswerten Ableitungen in sträflicher Verkürzung wiederzugeben: Selbst größter Optimismus sieht keine Möglichkeit, Milliarden Menschen eine lange „Hirsebreiperiode“ der Kargheit zu ersparen, doch am Ende dieser Periode winkt die Hoffnung auf Schrumpfung der Bevölkerungszahlen, sobald Einsicht ein neues Verhalten herbeigeführt hat. Das Ergebnis eines solchen Schrumpfungsprozesses in der Zukunft aber wäre ein schneller Anstieg des zur Verfügung stehenden Kapitals pro Kopf der Bevölkerung und damit eine Phase der Prosperität.

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