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Wozu Wirtschaftswachstum?

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Brauchen wir das Wirtschaftswachstum? Können wir es uns überhaupt noch leisten? Fragen, die nach der Zwenten-dorf-Abstimmung auch in Österreich neu virulent geworden sind. Sie geistern durch die ganze westliche Welt. Der „Rheinische Merkur“ sprach kürzlich mit dem Vorstandsvorsitzer der Daimler Benz AG, Prof. Joachim Zahn, und dem Vorstandsvorsitzenden des Gutehoffnungshütte AV, Manfred Lennings. Wir zitieren aus diesem Fachgespräch.

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Brauchen wir das Wirtschaftswachstum? Können wir es uns überhaupt noch leisten? Fragen, die nach der Zwenten-dorf-Abstimmung auch in Österreich neu virulent geworden sind. Sie geistern durch die ganze westliche Welt. Der „Rheinische Merkur“ sprach kürzlich mit dem Vorstandsvorsitzer der Daimler Benz AG, Prof. Joachim Zahn, und dem Vorstandsvorsitzenden des Gutehoffnungshütte AV, Manfred Lennings. Wir zitieren aus diesem Fachgespräch.

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RHEINISCHER MERKUR: Eine normale Volkswirtschaft, soll im Idealfall dem „magischen Viereck“ von Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität und ausgeglichener Handelsbilanz etwa gleichrangig gerecht werden. In den ersten zwanzig Jahren hat dies einigermaßen funktioniert. War dies, vor allem was das Wachstum betrifft, nur in der Ausnahmesituation des enormen Nachholbedarfs möglich, oder läßt es sich vielleicht doch in Zukunft wiederholen?

ZAHN: In der Tat lagen in dem von Ihnen genannten Zeitraum die jährlichen Zuwachsraten des realen Bruttosozialprodukts anfangs noch bei über 9 Prozent, während von 1970 bis 1977 nur noch Wachstumsraten von durchschnittlich 2,5 Prozent erreicht wurden. Die Investitionen stiegen in den Anfangsjahren um mehr als 12 Prozent p. a., seit 1970 dagegen nur noch um 3,5 Prozent. Wenn man das Ganze auf eine Kurzformel bringt, zeigt sich von Anfang der 50er bis Ende der 60er Jahre etwa folgender paralleler Vorgang: Einem außerordentlichen Bedarf auf allen Gebieten entsprach die Motivation der Bevöl kerung, die durch ihre Arbeit wieder zu etwas kommen wollte.

Wenn man aber fragt, ob wir in Zukunft noch Wachstum haben müssen, dann muß man gleichzeitig fragen, ob der erreichte Lebensstandard unserer Bevölkerung gehalten werden soll. Wollen wir dies, dann brauchen wir auch Wachstum. Wer humanere Arbeitsplätze, Entwicklungshilfe, besseres Wohnen, bessere Bildung, Umweltschutz/ und vieles andere verlangt, kann nicht gleichzeitig auf Wachstum verzichten.

RM: Bedürfnisse sind immer uferlos. Es muß also die menschliche Vernunft Grenzen setzen. Es gibt wohl auch Grenzen in den Ressourcen. Kann der vernünftige, richtig verstandene Fortschritt nicht in Bescheidung, Genügsamkeit, Zuwendung zu Idealen außerhalb des ökonomischen liegen? Gibt es da eine Art Klimawechsel? Oder gibt es einen stillen Gegenkonsens quer durch die politischen Kräfte?

LENNINGS: Es gibt vielleicht einen Klimawechsel, aber ich glaube, daß der eindeutig auf fehlende Information zurückgeht. Wenn wir die geburtenstarken Jahrgänge in Brot und Arbeit bringen wollen, dann brauchen wir Mitte der 80er Jahre etwa 1,2 Millionen Arbeitsplätze mehr. Wir brauchen also ein Wachstum zwischen 4 und 5 Prozent selbst dann, wenn wir uns mit dem augenblicklichen Stand der Arbeitslosigkeit abfinden.

Gehen wir von einem jährlichen Wachstum von 3,5 Prozent aus - und dies ist mehr als wir im Augenblick haben -, nehmen wir dazu eine Produktivitätssteigerung von ebenfalls 3,5 Prozent, dann bedeutet das, daß wir Mitte der 80er Jahre genauso viele gewerbliche Beschäftigte haben wie heute.

Das heißt, wir müßten dann mit fast zwei Millionen Arbeitslosen rechnen, allein auf Grund der demographischen Entwicklung. Angesichts der Tatsachen stellt sich also die Frage nach der Notwendigkeit des Wachstums für mich gar nicht, sondern allenfalls für jene, die mehr in romantischen oder anderen Vorstellungen denken.

RM: Sie sagen also: Wachstum ist nicht nur fundamental nötig, um Ansprüche immer mehr zu steigern, sondern um den Lebensstandard zu halten?

LENNINGS: In unserer demographischen Situation brauchen wir es

sogar, um zusätzliche Arbeitslosigkeit zu verhindern. t

ZAHN: Ich will das noch unterstreichen. Wenn wir zum Beispiel mit dem Generationenvertrag bei der Sozialversicherung nicht zurechtkommen - und dies wird ohne Wachstum unvermeidlich -, dann käme es nach gegenwärtigen Schätzungen zu Beitragssätzen bis zu 47 Prozent statt 18 wie jetzt. Das heißt, bereits heute bestehende Ansprüche könnten ohne Wachstum nicht erfüllt werden.

In diesem Zusammenhang ist auch das Problem der Arbeitszeitverkür-, zung zu sehen: Sie bedeutet nicht nur eine weitere Lohnkostenerhöhung, sondern außerdem, daß ein ganzer, sehr teurer Kapazitätsapparat unter Weiterlaufen der Kosten weniger genutzt'werden kann. Wenn dadurch

eine beträchtliche Zahl von Unternehmen unter die Ertragsschwelle kommt, liegen die Folgen für die Beschäftigung auf der Hand. Es geht also nicht nur darum, ob einzelne Unternehmen ertragsbedingt weniger investieren können, sondern darum, daß eine ganze Reihe gerade mittlerer und kleinerer Betriebe nicht weiter existieren kann.

RM: Es mag sein, daß wir ohne Wachstum nicht leben könnten und daß dann auch eine wirksame Entwicklungshilfe, eine Übertragung von Wachstumsimpulsen auf andere Länder, vor allem der Dritten Welt, nicht mehr möglich wäre. Aber neuerdings taucht immer wieder die Frage nach dem qualitativen Wachstum auf, nach einem gewissen Umschlag von Quantität in Qualität.

Wirtschaftliche Wachstumsprozesse haben ja nicht nur Wohlstandswachstum zur Folge, sondern auch ein Wachstum unerfreulicher Begleiterscheinungen, vor allem bei Umweltproblemen. Luftverschmutzung etwa hat medizinische Aufwendungen zur Folge, die belasten. Technisch müßte es doch möglich sein, da unter Verzicht auf einige quantitative Wachstumsprozente bessere Abhilfe zu schaffen?

LENNINGS: Ich glaube, daß es in einem Hochlohnland keines Dirigismus bedarf, der die Dinge in diese Richtung treibt, sondern daß die Entwicklung von selbst dahin geht. Wir sehen, daß die Rohstoffländer ihre Produkte zunehmend selbst verarbeiten, während sich Hochlohnländer immer mehr auf hochwertige Produkte konzentrieren müssen. Im übrigen sehe ich nicht, daß wir in eine progressive Umweltverschmutzung hineingeraten. Meßbare Daten zeigen gegenläufige Entwicklungen, und es wird von Seiten der Industrie sehr viel getan, was nicht immer Schlagzeilen findet.

ZAHN: Ich meine eigentlich, wenn wir schon von einem so häufig als Schlagwort verwendeten Begriff wie dem der Lebensqualität sprechen, dann muß man auch sagen, daß eine wesentliche Beeinträchtigung in der Einschränkung persönlicher Freiheitsspielräume liegt - vielleicht schon eine Folge der sogenannten Reformen in der Bildungs- oder Schulpolitik. Aber diese Aspekte gehen weit über die wirtschaftliche Betrachtung des Wachstums hinaus.

LENNINGS: Wir müssen auch noch etwas anderes beachten. In den letzten Jahren haben die Importe stärker zugenommen als die Exporte. Es gibt hier eine Doppelschere. Wir haben in diesem Land eine Fülle von Produkten, die wir aus Arbeitsmarktgründen dringend aufrechterhalten müssen, die aber von der Ergebnissituation her marginal sind. Im Augenblick befinden wir uns durch die kraß steigenden Kosten in einer Situation, die daraufhinausläuft, daß mehr Produkte schrumpfen, verlagert oder eingestellt werden, als neue Produkte auf den Markt kommen. Dies kann zu einem negativen Wachstum führen. Dies darf so nicht weitergehen, weil sonst das Beschäf-

tigungsvolumen verringert statt gesteigert wird.

RM: In den Kulturbefehl der Genesis, das „Wachset und mehret euch, macht euch die Erde Untertan“, sind Technik und Fortschritt eingeschlossen. Das Schaffen ist eine menschliche Notwendigkeit. Aber man kann die Fortschrittsziele und damit auch das Wachstumsstreben sehr verschieden formulieren. Zur Zeit gibt es den Versuch, den Fortschrittsbegriff vom wirtschaftlichen Bereich zu abstrahieren und kulturellen Zielen zuzuordnen, bis hin zur Meditation. Die erste konkrete Auseinandersetzung spielt sich gerade in der Energiepolitik ab. Was hat die Wirtschaft zu einer solchen Veränderung der Lebensziele zu sagen? Was würde geschehen?

LENNINGS: Zwischen dem Lei. stungsdefaitismus und einer angeblichen Erschöpfung der Energievorräte sehe ich keinen unmittelbaren Zusammenhang. Die Vorräte sind größer als meist angenommen, Innovation und Substitution können sicher auch weiterhelfen. Eine übertriebene Sparsamkeit in Sachen Energie - so notwendig die rationelle Verwendung ist - würde, kombiniert mit einer mehr meditierenden Lebensweise, eben zu einer sehr starken Reduzierung des Lebensstandards führen und sicherlich keine Arbeitsplätze für geburtenstarke Jahrgänge schaffen.

ZAHN: Wenn um 1800 die Wissenschaftler recht bekommen hätten, dann hätte man damals entsprechend den Thesen von Malthus eine Bevölkerungsvermehrung administrativ untersagen, zumindest in ganz großem Umfang Bevölkerungsplanung durch den Staat vorschreiben müssen. Wie immer auch die jeweilige Mehrheits- oder Minderheitsphilosophie ist, es müssen ganz konkrete Aufgaben gelöst werden. Dabei scheint mir die wichtigste Frage zu

sein, wer sie lösen soll: der Staat oder eine Vielzahl individueller und unabhängiger Einheiten ohne Globalbefehl und auf eigenes Risiko?

Dies ist eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit. Die Ergebnisse vieler staatlicher Planungen - Rentenreform und Bildungsplanung nannte ich ja schon - sprechen nicht gerade für eine globale Steuerung und Lenkung durch den Staat. Eine große Zahl dezentraler Verantwortungsträger löst nach meiner Überzeugung die Probleme besser. Emotionale Betrachtungen, auch ideologisch oder poütisch motiviert, bringen uns nicht weiter.

RM: Ist eigentlich noch Wachstumsbewußtsein in der Öffentlichkeit vorhanden?

ZAHN: Ich glaube, daß im Augenblick mit starker Propaganda, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven gegen das Bewußtsein von der Wachstumsnotwendigkeit gearbeitet wird. Es gibt eine weiterverbreitete Stimmung, die alle Vorteile einer hochentwickelten industriellen Gesellschaft als völlig selbstverständlich in Anspruch nimmt, die aber ebenso selbstverständlich alles Negative ausschließlich der Industrie anlastet.

LENNINGS: Man muß auch die quantitative Seite sehen. Der Konsens zwischen den Notwendigkeiten, den industriellen Zielsetzungen und dem Bewußtsein der Bevölkerung, der in den Aufbaujahren bestand, wird heute von einer einflußreichen, auf vielen Gebieten meinungsführenden Minderheit nach Kräften abgebaut. Wann immer man aber mit Arbeitern über diese Fragen diskutiert, stellt man fest, daß immer noch ein sehr weitgehender Konsens vorhanden ist.

RM: Wir haben lange über die Notwendigkeit von Wachstum gesprochen. Wie sehen Sie die Chancen des Wachstums? Kehren die Zuwachsraten der Aufbaujahre nie wieder?

LENNINGS: Aus einer Fülle von Gründen, nationalen wie internationalen, nicht zuletzt wegen einer klaren Umverteilung zugunsten der Rohstoffländer, wird sich mittel- bis langfristig das Wachstum in den Industrienationen wesentlich langsamer vollziehen. Dies ist ein strukturell bedingter Sachverhalt. Wir müssen darum kämpfen, künftig das Wachstum zu haben, das wir aus sozialen und anderen Gründen brauchen. Wir brauchen generell einen Freiheitsgrad, in dem sich originelle Gedanken entfalten und umsetzen lassen, und unser Kostenproblem muß gelöst werden. Bei allen Verteilungen sollten wir im Rahmen des echten Produktivitätsfortschritts bleiben. Wenn dies so geschieht, glaube ich, daß wir die Chance haben, mit den Problemen, die vor uns stehen, fertig zu werden.

RM: öfters begegnet man jetzt der Meinung, die Marktwirtschaft sei nicht in der Lage, weltweit mehr ökonomische Gerechtigkeit zu schaffen. Man brauche daher radikal andere Lösungen. Würden Sie sagen, ein „Mehr und besser für alle“ geht nur marktwirtschaftlich oder gar nicht?

ZAHN: Eine so gleichmäßige Verteilung der Wirtschaftsgüter wie in der marktwirtschaftlich bestimmten Bundesrepublik Deutschland, die ja vom absoluten Nullpunkt nach dem Krieg einen beispiellosen breiten Wohlstand geschaffen hat, ist meines Erachtens der beste Beweis dafür, daß die Soziale Marktwirtschaft funktioniert hat. Das besagt aber nicht, daß sie nicht kaputtzukriegen wäre, wenn man lange genug ihre Grundprinzipien außer acht läßt. Für eine funktionsfähige Marktwirtschaft ist die Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts zwischen den Partnern - zum Beispiel in der Tarifpolitik - unverzichtbar. Pluralismus in der Demokratie schließt somit ein, daß es ein ständiges Ubergewicht eines Partners nicht geben darf, sonst kommen wir zur autokratischen Lenkung, die gesundes Wachstum ebenso abschafft wie die Bürgerfreiheit.

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