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Was ist Strukturpolitik?

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Also die sittsam bekannte Forderung nach der „Strukturpolitik“? Hier erscheinen einige Klarstellungen angebracht. Wenn unter „Strukturpolitik“ ein Programm zur Überwindung der unserem Wirtschaftsaufbau innewohnenden Schwächen und Fehlerquellen verstanden wird, mit dem Ziel einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit, so ist dies durchaus zu bejahen. Denn niemand kann leugnen, daß die österreichische Volkswirtschaft eine Reihe sehr ernster Strukturschwächen aufweist. An erster Stelle ist der überragende Anteil des Staates, überhaupt der öffentlichen Hand am Sozialprodukt zu nennen, weiters die Rolle, die die öffentliche Hand als Eigentümer von wirtschaftlichem Vermögen spielt. Vor allem im Bereich der verstaatlichten Industrie sind die Strukturschwächen besonders ausgeprägt. Weiters seien der ungelöste Komplex der Wohnungswirtschaft, die gefährliche Unterdotierung des Bildungswesens und das Übermaß an Subventionen im Budget genannt.

Aber diese Schwächen sind es nicht, die man dort im Sinn hat, wo laut die Forderung nach „Strukturpolitik“ erhoben wird, deren Durchführung in die Hände neuer Apparate gelegt werden soll. Die österreichische Industrie hat schon vor Jahren für mehr Voraussicht, Systematik und Methodik in der Wirtschaftspolitik plädiert, weil sie sich längst über jene primitive Vorstellung hinausgehoben hat, als gebe es heute noch eine „freie Wirtschaft“ im klassischen Stil. Aber zwischen dieser Verbesserung der Wirtschaftspolitik, deren erster, hoffnungsvoller Ansatz der Beirat für Wirtschaftsund Sozialfragen ist, und einer faktischen Wirtschaftslenkung durch Kommissionen, die auch den Wirtschaftsablauf bis ins Detail hinein regeln würden, besteht ein wesentlicher Unterschied. Denn diese Art von Wirtschaftslenkung würde sich vor allem mittels der Investitionssteuerung vollziehen. Nun ist die Entscheidung über die Investition aber der harte Kern der unternehmerischen Freiheit, der nicht weiter angetastet werden darf.

Vollzieht sich denn nicht ohnehin, dem Gesetz der wirtschaftlichen Evolution folgend, schon seit Jahren auch in der österreichischen Wirtschaft ein Strukturwandel? Wenn man den Wettbewerb als Ordnungsfaktor der Wirtschaft bejaht, dann kann kein Zweifel bestehen, daß eine ständige Umstellung die Voraussetzung für das Bestehen im Konkurrenzkampf ist. Wir brauchen nur auf zwanzig Jahre österreichischen wirtschaftlichen Aufstiegs zurückblicken und müssen dann zugeben, daß die österreichische Unternehmerschaft, der zuweilen in recht flott hingeworfenen Bemerkungen jede Qualifikation abgesprochen wird, ihre Bewährungsprobe bestanden hat. Kann jemand anderer besser in der Lage sein, zeitgerecht Entscheidungen über Umstellung zu treffen als der Unternehmer, der die Erfahrung, die Branchenkenntnis und eben auch die Intuition sein eigen nennt, ohne die er nicht zum Unternehmer taugte? Planungskommissionen hingegen eignen Langsamkeit und Schwerfälligkeit, ganz abgesehen davon, daß sie kaum bereit sind, die Verantwortung für

Fehlentscheidungen zu übernehmen. Kann sich überhaupt eine Kommission die Kompetenz zu einem Urteil darüber anmaßen, ob diese oder jene Branche, dieses oder jenes Unternehmen auch in Zukunft werde bestehen können? Man sollte nicht viel Hoffnung in den Sachverstand auch theoretisch hochqualifizierter Kollektive setzen. Das jüngste Geschehen in den Oststaaten, vor allem die Erkenntnisse der „Prager Schule“ der Nationalökonomie, zeigen uns, daß eine jahrzehntelange Wirtschaftslenkung nicht zu dem angestrebten Ziel geführt hat, daß das Erfordernis der „Integration“ mit dem übrigen Europa auch drüben gebieterisch geworden ist und daß daher, wenn auch noch mit einer gewissen Schüchternheit, Reformen eingeleitet werden.

Auf dem Weg der Evolution

Die Entwicklung der Technik und die allmähliche Steigerung des Wohlstandes haben auch in Österreich zu Wandlungen des Bedarfes und der Verbrauchsgewohnheiten geführt. Neue, künstlich gewonnene Rohstoffe werden verwendet, im Lebensstil vollziehen sich Änderungen (mehr Freizeit, hohe Frauenbeschäftigung, Motorisierung usw.). Daran kann die gewerbliche Wirtschaft natürlich nicht tatenlos vorübergehen. So ist denn schon seit Jahren ein Strukturwandel auf dem Wege der Evolution zu beobachten. (Frage: War er eigentlich je unterbrochen?) Er betrifft nicht ausschließlich die Industrie, sondern auch andere Wirtschaftszweige. Verschiedene Branchen haben sich, was die Zahl der Arbeitskräfte betrifft, „gesundgeschrumpft', aber trotz der Abnahme der Beschäftigtenzahlen konnte dank dem Einsatz neuer, leistungsfähigerer Maschinen und dank besseren Erzeugungsverfahren die Produktion beträchtlich ausgeweitet werden.

Einige Beispiele für die gar nicht so spektakulären Umstellungen:

• Eine Industrie mit österreichischer Tradition, nämlich die Textilindustrie, ist seit Jahren von einer stillen Revolution erfaßt, sie geht den Weg von der lohn- zur kapitalintensiven Fertigung. Man hat in der österreichischen Textilindustrie erkannt, daß die Chance der Zukunft gerade angesichts der Errichtung von Textilindustrien in Entwicklungsländern nur in der Spezialisierung, in der Erzeugung von Produkten höchster Qualität mit besonderer Note liegt.

• Die Maschinenindustrie, die übrigens der größte Fertigwarenexporteur unseres Landes ist, sieht ihre

Aufgabe vor allem darin, „Maßwerkstätte“ für die Welt zu sein, das heißt also, Spezialmaschinen auf Grund besonderer Kundenwünsche herzustellen.

• Die Papierindustrie, einer unserer größten Devisenbringer, kann heute schon zu den Spitzenreitern der Automatisierung in Österreich gezählt werden. Auch bei ihr ist die Spezialisierung Lebensnotwendigkeit. ,r

• Die Ziegelindustrie bietet heute ein ganz anderes Bild als etwa vor einem Menschenalter. In ihre Fertigung ist die Wissenschaft mit Macht eingebrochen, und die Ziegelerzeugung ist zu einer hochtechnisierten Sparte geworden.

• Ein typisch mittelständischer Zweig wie die Eisen- und Metallwaren-industrie, die in einem schweren Konkurrenzkampf steht, hat die Herausforderung aufgenommen und sucht ihr durch zwischenbetriebliche Kooperation auf verschiedenen Gebieten gerecht zu werden.

Auch das österreichische Gewerbe sieht sich mit dem Strukturwandel konfrontiert. Zunächst hatte es den Anschein, als würden vor allem die Motorisierung und die fabrikmäßige Serienerzeugung durch die Industrie manches Handwerk brotlos machen. Durch Umstellung aber konnten sich viele Gewerbetreibende neue, sogar bessere Existenzgrundlagen schaffen und das Wort bestätigen, daß Handwerk noch immer goldenen Boden hat. Wie anders wäre es sonst möglich, daß das österreichische Gewerbe seine Erzeugnisse — es sind Qualitätsprodukte par excellence — in einem Umfang exportiert, der der gesamten österreichischen Ausfuhr nach den USA entspricht? Darunter sind nicht nur Geschmacksgüter, sondern auch viele technische und Präzisionsinstrumente, die selbst von Weltkonzernen gekauft werden.

Tendenz zum „tertiären Bereich“

Laut Fourastie, dem vielzitierten französischen Nationalökonomen, ist die Tendenz zum „tertiären Bereich“ der Wirtschaft, zu den Dienstleistungszweigen, typisch für eine hochentwickelte Volkswirtschaft mit sich ständig verfeinernden Verbraucherwünschen und Gewohnheiten. Der Dienstleistungsbereich (Handel, Verkehr, private und öffentliche Dienstleistungen) steuert bereits mehr als 40 Prozent zum österreichischen Bruttonationalprodukt bei. Im Jahr 1934 waren in der Landwirtschaft 36,1 Prozent, in der Industrie und in den verarbeitenden Gewerben 31,2 Prozent und in den Dienstleistungszweigen (ohne Haushalt und Unbekannt) 24,6 Prozent der Berufstätigen beschäftigt. Für 1951 lauten die entsprechenden Sätze: 32,3 Prozent, 38,3 Prozent und 26,9 Prozent, für 1961 (die letzte Volkszählung): 22,7 Prozent, 42,8 Prozent und 32,6 Prozent.

Unter den Dienstleistungsbereichen ist vor allem der Handel gezwungen, neue Wege zu gehen, sich den veränderten Einkaufsgewohnheiten, der Bildung neuer Ballungszentren und der Motorisierung anzupassen. Der Fremdenverkehr hat mit der Ausweitung des Massentourismus neue Probleme zu lösen, und selbst ein vermeintlich so „konservativer“ Zweie wie das Geld-, Kredit- und Versicherungswesen paßt sich den Anforderungen von heute und morgen an.

Je mehr sich der internationale Wettbewerb verschärft, um so rascher wird der Strukturwandel in der österreichischen Wirtschaft weitergehen. Es ist gleichsam ein Prozeß der „Selbstauflösung“. Österreichs Chance wird in Hinkunft noch mehr darin liegen, sein großes Potential an Talenten, seine technische und naturwissenschaftliche Tradition, die Fähigkeit seiner Bevölkerung zur Improvisation, zu Qualitätsarbeit und Präzision zur Erzeugung hochspezialisierter Güter zu nutzen.

Warnung vor einem Schlagwort

In diesem Zusammenhang wird oft der so eingängig klingende Rat gegeben, Österreich möge die „Wachs-tumsindustrie“ forcieren. Man muß solchen Vorschlägen, ohne deswegen der Trägheit verfallen zu sein, mit einer gesunden Portion Skepsis begegnen. Manche Erfahrung, gerade aus jüngster Zeit und in unmittelbarer Umgebung der Bundeshauptstadt, bestätigt die Erkenntnis, daß auch Projekte, denen man eine große Zukunft prophezeit hatte, nicht unbedingt reüssieren müssen. Besonders oft wird dabei das Wort „Elektronik“ in die Debatte geworfen. Aber auch hier ist vor Illusionen zu warnen, da in Österreich andere wirtschaftliche Bedingungen herrschen als in großen Industriestaaten und da infolge der mehrmaligen Vernichtung der volkswirtschaftlichen Substanz, einer wenig wirtschaftsfreundlichen Grundeinstellung und des Steuerdrucks einfach die Kapitalbasis fehlt. Ein verantwortungsbewußter Unternehmer kann ja nicht Phantasiegebilden nachjagen, er hat die österreichischen Realitäten einzukalkulieren, die da lauten, daß wir zwar ein sehr leistungsfähiger, aber im Weltmaßstab sehr kleiner Industriestaat sind, denn selbst die größten Unternehmungen Österreichs (die noch dazu meist verstaatlicht sind!) nehmen sich im internationalen Rahmen bestenfalls wie Mittelbetriebe aus.

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