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Nährstand im Übergang

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Der Anteil des landwirtschaftlichen Berufsstandes an der Gesamtbevölkerung betrug 1848, dem Jahr der Bauernbefreiung, im Raum unserer heutigen Republik, schätzungsweise 75 bis 80 Prozent. Im Jahr 1910 war der Anteil 31,3 Prozent und beträgt heute 16 Prozent. Diese paar Zahlen zeigen, welch gewaltige Umschichtung in dieser Zeit vor sich gegangen ist. Die patriarchalische Selbstversorgerwirtschaft ist zur Marktwirtschaft übergegangen. Dieser Prozeß ist nicht ohne Opfer abgelaufen; so sind in dieser Zeit mehrere Perioden des Höfesterbens bekannt; die Ursachen dafür waren verschiedener Art. Dieser kurze

Verteilung des Bruttonationalproduktes

Rückblick ist notwendig zum Verständnis des heutigen Standes, der sich mit einigen Zahlen aus der Statistik veranschaulichen läßt.

Die heutige Situation

Am österreichischen Nationalprodukt hatte die Landwirtschaft 1950 noch 15,5 Prozent Anteil, 1955 noch

13.7 Prozent, 1960 aber nur mehr 11,4 Prozent. In der gleichen Zeit ist wohl der Anteil des Gewerbes von 12,9 Prozent auf 10,9 Prozent und der des öffentlichen Dienstes von 8,8 Prozent auf 7 Prozent gesunken, dafür aber der Anteil der Industrie von 26,7 Prozent auf 32 Prozent, des Handels von 10,7 Prozent auf 12,4 Prozent, der Kraftwirtschaft’ (Gas, Wässer, Elektrizität) vdn 2 Prozent äüf 3,1 Prozent und jener der Banken und Versicherungen von 1,9 auf

2.7 Prozent angestiegen. Die Situation hat sich bei ungefähr gleichem Bevölkerungsanteil von 16 Prozent so verschlechtert, daß der landwirtschaftliche Einkommensanteil heute nur mehr 9,8 Prozent beträgt. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse sind seit 1938 um das 8,5- fache höher wogegen die Preissteigerung der notwendigen Bedarfsartikel aus Industrie und Gewerbe das Zwölffache beträgt.

Die offensichtliche Unterbewertung der Landwirtschaft hat natürlich in den betroffenen Kreisen Beunruhigung Und Mißmut hervorgerufen. Bei allen bäuerlichen Veranstaltungen — seien sie nun wirtschaftlicher oder politischer Natur — werden diese Zustände mit Recht kritisiert. Sie sind allerdings auch den jeweiligen Referenten bestens bekannt. Es ist aber nur ein schwacher Trost, daß die Agrarkrise keine rein österreichische ist. Ein Vergleich mit den Preisen der EWG zeigt, daß die österreichischen Agrarpreise etwas unter dem Durchschnitt liegen, eine wesentliche Verbesserung aber durch eine Angliederung in irgendeiner Form nicht zu erwarten ist. Gewisse Erleichterungen können allenfalls daher kommen, daß die Erzeugnisse der Landmaschinenindustrie billiger sein werden. Produktionsmäßig gesehen wird die österreichische Landwirtschaft dank ihrem besonderen Fleiß durchaus bestehen können.

Kolchose oder freie Bauern?

Wer in fernerer Zeit für uns die Nahrung erzeugen wird, ob Kolchosen wie im Sowjetbetrieb, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) nach dem Muster der Sowjetzone Deutschlands oder freie Bauern, kann deswegen für uns alle nicht gleichgültig sein, weil sich damit auch entscheidet, wie sich unser künftiges Leben überhaupt gestalten wird. Den „Agrarfabriken” aller Art gelingt es wohl einigermaßen, die pflanzenbauliche Produktion aufrechtzuerhalten, doch bereitet die Veredlungswirtschaft — also die Produktion von Milch und Fleisch — unüberwindliche Schwierigkeiten. Der bäuerliche Familienbetrieb war bisher der beste Garant für die Sicherung der Ernährung. Er wird diese Aufgabe auch in Zukunft erfüllen, wenn er in der Industriegesellschaft so gestellt wird, daß er bestehen kann. Die Entwicklung des Anteiles am Brutto-Nationalprodukt im letzten Jahrzehnt (siehe die graphische Darstellung!) zeigt die Benachteiligung der Landwirtschaft in aller Deutlichkeit. Da die Diskrepanz der Einkommensverhältnisse nicht nur in Österreich, sondern mehr oder weniger auf der ganzen Welt besteht, zeigt sich, daß hier das Gleichgewicht in der Wirtschaft gestört ist.

Trotz mancher Maßnahme in Österreich und den in- und außereuropäischen Industrieländern scheint das Ziel einer Lösung der Agrarfrage weiter denn je entfernt. Es wird eben ganz übersehen, daß das Übel in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des letzten Jahrhunderts liegt. Bei Untersuchung des sozialen Aufbaues in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind folgende sechs Gruppen zu erkennen:

I Adelige, Großgrundbesitzer, Großindustrielle, hohe Beamte und freie akademische Berufe.

II Höhere Beamte, Professoren und Schulleiter, größere Bauern, Handels- und Gewerbetreibende.

III Kleingewerbetreibende mit Grundbesitz, mittlere Bauern, Beamte und Lehrer.

IV Kleingewerbetreibende ohne Grundbesitz, Kleinbauern ohne Nebenverdienst, junge Angestellte und Lehrer, Poliere und Facharbeiter.

V Fabrikarbeiter, Bauhandwerker ohne Besitz, Taglöhner, Gesellen, land- und hauswirtschaftliche Dienstboten.

VI Lehrlinge, Kriegs- und Arbeitsinvalide, Einleger.

Aus dieser Schichtung hat sich eine starre Linie der Einkommens-Verteilung ergeben (Bild 3), die sich von den Monstereinkommen der Rothschilds bis zu den einkommenslosen Leuten der Gruppe VI erstreckte. Nur die Angehörigen der Gruppen I bis III hatten ein ausreichendes und versteuerbares Einkommen. Nur sie als die „Steuerträger” hatten auch das Wahlrecht. Das Einkommen der Gruppe IV war nur mehr zum geringen Teil für eine Familie ausreichend, die anderen Gruppen lagen unter dem Lebensminimum.

Die um 1870 einsetzende soziale Welle hat neben Arbeitszeitverkürzung, sozialpolitischen Maßnahmen verschiedener Art in erster Linie für die kleinen Leute aus Industrie und Gewerbe bessere Lebensbedingungen gebracht. Die starre Einkommenslinie wurde gebrochen. Landarbeiter und Dienstboten aber haben von dieser sozialen Welle nur wenig Nutzen gehabt.

Die zweite Welle Mit 1950 begann eine zweite, die familienpolitische Welle, die noch in Bewegung ist und sich nicht nur im unteren, sondern auch im mittleren Einkommensbereich auswirkt. Die Maßnahmen zur Erzielung eines Familieneinkommens treffen nun den landwirtschaftlichen Bereich

1. direkt durch Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen für die noch in der Landwirtschaft verbliebenen Kräfte und

2. indirekt, weil die industrielle und gewerbliche Wirtschaft die Belastungen aufrechnet.

Die Landwirtschaft hat seit 1946 rund 160.000 Traktoren, 16.000 Mähdrescher, 40.000 Melkmaschinen und so weiter anschaffen müssen, um den Ausfall an Arbeitskräften wettzumachen. Sie ist daher wohl der bedeutendste Auftrags- und damit Arbeitgeber der nichtagrarischen Wirtschaft. Daß die Landwirtschaft bei der bestehenden Preisschere von 8:12 zugunsten der industriell-gewerblichen Wirtschaft überhaupt in der Lage ist, diese großen Investitionen zu tätigen, ist nur damit zu erklären, daß

1. der Lohnanspruch großteils dazu verwendet wird, was bei 60 bis 70 Arbeitsstunden pro Woche sehr wohl ins Gewicht fällt, und

2. die Substanz angegriffen werden muß durch Überschlägerung im Wald und durch Grund verkaufe. Die wichtigsten Nahrungsmittel sind nicht nur in Österreich, sondern praktisch im ganzen westlichen Wirtschaftsraum preisgeregelt. Ebenso ausgedehnt ist aber auch die Unterbewertung der Landwirtschaft, und der hohe Lebensstandard baut sich mit auf die zu geringen Preise der landwirtschaftlichen Produktion auf.

Geschichtlich betrachtet kommt die Unterbewertung der Landwirtschaft daher, daß für sie die mechanischtechnische Entwicklung einerseits und anderseits die Auswirkung der sozialen und familienpolitischen Welle später begonnen hat als in den anderen Bereichen der Wirtschaft. Industrie und Gewerbe haben ein ganzes Jahrhundert gebraucht, um damit fertig zu werden. Es wird noch etwas dauern, bis sich das notwendige Gleichgewicht auch am agrarischen Sektor einstellen kann.

Lösung durch Zusammenarbeit

Die Lösung der agrarischen Probleme wird aber ebenso kommen müssen, wie die sozialen Fragen geregelt worden sind und nun auch das Familieneinkommen Wirklichkeit zu werden begonnen hat. Mit Erreichung dieses Zieles ergibt sich ein Fixpunkt für die Ausbildung einer neuen Einkommenslinie, die aber nicht als Gerade, sondern in Form einer Kurve verlaufen wird, wobei die landwirtschaftlichen Be-

Einkommenskurve als Ziel zur Lösung der Agrarfrage In der Industriegesell’ schaff lange wieder einen gerechten Platz bekommen. Die bestehende Unterbewertung wird mit sich bringen, daß die landwirtschaftliche Produktion nicht mehr so wie bisher zunimmt, sondern bestenfalls den derzeitigen Stand behält, wogegen der Verbrauch langsam ansteigt.

Ob man aber mit der Regelung der Agrarfrage zuwarten soll, bis Angebot “nd Nachfrage gleich sind oder gar eine Verknappung eintritt, ist sehr zweifelhaft. Zweckmäßiger für beide Teile — also Produzenten und Konsumenten — wird es sein, auch dem Bauernstand zum gerechten Anteil am Volkseinkommen zu verhelfen. Beim gegenwärtigen Verhältnis von 16 zu 84 wird das Ziel bei bester agrarpolitischer Vertretung von dieser allein nicht erreicht werden können. Es bedarf des Verständnisses breitester Kreise und einer Lösung durch Zusammenarbeit. Eine Gewaltlösung dagegen wäre ein großer Schritt zur „klassenlosen Gesellschaft” und damit zum Untergang der Freiheit.

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