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Sozialpolitik auf bäuerlicher Scholle

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Die Bauernfamilie verliert ihre alte, innere soziale Festigkeit. Der Bauer nähert sich mit fortschreitender „Stabilisierung“ der Wirtschaft in seinem Lebensstandard vielfach dem Industriearbeiter. Der Landarbeiter, insbesondere als lediger Dienstbote, steht auf der untersten sozialen Stufe und ist als Berufsstand immer sichtbarer von der Auflösung bedroht. Das ländliche Kulturniveau und die Bildungseinrichtungen sind gegenüber der Stadt auf eine bedenkliche Zweitrangigkeit gesunken, als deren Auswirkung die wirtschaftliche Unterbewertung der Landarbeit sich zum totalen Substanzverlust für das Landvolk auszuweiten droht. Soziale Unordnung der Wirtschaft und ungerechter Lohn in der Landwirtschaft vergrößern im fortschreitenden Maß die Abscheidung von Stadt und Land, machen bei ihrem Fortbestehen den Kampf gegen die Landflucht hoffnungslos und verhüten jeden sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich im Gesamtgefüge des Volkes. Demgegenüber sind Arbeits.- und Wirtschaftsverfassung des Landes erstarrt und hinken hinter den Notwendigkeiten der Zeit her. Insbesondere hat die Landgemeinde als wichtigstes Sozialgebilde ihre Möglichkeiten noch nicht genügend erkannt. Die speziellen Nöte des landwirtschaftlichen Berufskreises greifen auf den Bereich des ganzen Landvolkes über. Seine ungelösten sozialen Fragen überrunden die reinen Wirtschaftsprobleme und rücken damit heute als Aufgabe an die erste Stelle ...

In diesem geballten Problemkreis sah sich eine internationale landwirtschaftliche Sozialtagung gestellt, die von der Landeslandwirtschaftskammer für Tirol vor kurzem nach Mayrhofen einberufen war. Seiner sehr komplexen Bedeutung entsprechend, setzten sich die Tagungsteilnehmer der Schweiz, Südtirols, Deutschlands und Österreichs außer den Vertretern der Landwirtschaft aus Volkswirten, Kommunalbeamten, Ärzten, Arbeiterkammer- und Gewerkschaftsfunktionären sowie Sozialversicherungsspezialisten zusammen. In dreitägiger, überparteilicher Arbeit wurde der Schleier von vielen agrarsozialen Fragen entfernt und die unaufschiebbare Notwendigkeit zu kontinuierlicher Arbeit auf diesem mehr und mehr in den Vordergrund rückenden agrarpolitischen Spezialgebiet erkannt.

Die seit der verstärkten Industrialisierung und Vergroßstädterung in den europäischen Industriestaaten andauernde, einseitige Wirtschaftsentwicklung hat dem Landmenschen, so wurde auf dieser Tagung unterstrichen, zum Hauptleidtragenden gemacht. Darüber dürften auch vorübergehende Erholungspausen nicht hinwegtäuschen. Während die städtisch-industrielle Wirtschaft im Zusammenhang mit der das Land so sichtbar zurückdrängenden Ausdehnung schon seit langen Jahren sozialpolitisch äußerst wirksam geworden ist, produzierte der Bauer, seinem alten Gesetz folgend, weiter und versuchte mit wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Mitteln Schritt zu halten. Nach dem offensichtlichen Zurückbleiben in diesem Kräftemessen gelangte die Landwirtschaft immer sichtbarer zur Defensive. Die Tagungsteilnehmer waren sich darüber einig, daß hier nur ein den ganzen volkhaften und volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten entsprechende planvolle Lenkung dem Lande Rettung bringen kann. Schärfste Kritik aber wurde an Agrarprogrammen geäußert, die heute nur die wirtschaftstechnischen Produktionsfragen berücksichtigen und in völliger Verkennung der zeitnotwendigen ‘Gewichtsverteilung bei der Aufgabenstellung das Schicksal des Menschen in der Landwirtschaft wie bisher zu wenig berücksichtigen.

Bauer und Landarbeiter traten als letzte und schwächste Glieder des sozialen Gefälles von der Stadt zum Land immer wieder in den Vordergrund der Mayrhofener Aussprache. Die Lebensumstände des Landarbeiters (in Kärnten zum Beispiel wurden 95 Prozent aller Landarbeiter als ledig angegeben!) wurden als einmalig negativ bezeichnet. Welche Entwicklungsmöglichkeiten sollen einem Berufsstand gegeben sein, dem bei der vorherrschenden Klein- und mittelbäuerlichen Agrarverfassung und wegen seines zu geringen Einkommens als nahezu einzigem die Familiengründung verwehrt ist? Der christliche, sozialverantwort-

liehe Bauer sieht ein, daß dies kein gottgewollter Zustand sein kann. Jedoch befindet er sich hier in einem fast tragischen Konflikt. Er bietet seinen ledigen Dienstboten im Normalfall ein gutes Heim inmitten seiner Familie und glaubt, sie damit als seinesgleichen zu behandeln. Aber — die sozial überlebte patriarchalische Hausgemeinschaft ist heute keine Grundlage mehr für einen ausgelernten landwirtschaftlichen Facharbeiter! Lohnerhöhungen verbieten sich zur Zeit durch die zu geringen Wirtschaftseinnahmen und den zurückgebliebenen technischen Entwicklungsstand der Landwirtschaft. Außerdem hat die agrarsoziale Krisis heute auch die Bauernfamilie als Ganzes bereits erfaßt: der Anerbe zögert in der Hofübernahme und findet oft nur schwer die bäuerliche Lebenspartnerin; die weichenden Kinder verlassen trotz ihrer Unentbehrlichkeit frühzeitig das Haus; Bauer und Bäuerin tragen die Hauptlast und stehen fast hilflos den sich immer krasser entwickelnden sozialstrukturellen Veränderungen gegenüber. Eine sozial richtige Familienpolitik hat hier künftig .auf alle Familienglieder Rücksicht zu nehmen. Die zum Produktionsstamm des Betriebes gehörigen Glieder der Eltern- und Kindergenerationen können nur bestehen, wenn sie über eine vollwertige Fachausbildung verfügen. Rechtliche und finanzielle Regelungen müssen eine reibungslose Generationenfolge sichern helfen. Die weichenden Kinder sollten rechtzeitig auf den eigenen Berufsweg gebracht werden, wobei ihnen Hilfe durch den elterlichen Betrieb in genügendem Maße zuteil werden muß.

Aber auch für die Landarbeiterfrage müssen Lösungen gefunden werden. Lohnerhöhungen können das Ergebnis eines sozial- und technisch richtigen Agrarprogramms sein. Hinzutreten müßte, so wurde in Mayrhofen insbesondere auch von kirchlicher Seite betont, eine ganz neue Solidarität zwischen Bauer und Landarbeiter, eine den unentbehrlichen Gefolgsmann einbeziehende Mitverantwortlichkeit und insbesondere eine wie immer geartete Ertragsbeteiligung. Da- neberP wären alle Möglichkeiten zur Familiengründung und Seßhaftmachung auszuschöpfen. Vielseitiger zu entwickelnde Berufsformen für den Landarbeiter sollen ihre Träger sowohl zu den Einzelbetrieben wie auch zur dorfgenossenschaftlichen Organisation in eine gesicherte Verbindung bringen.

Neue Unternehmens- und Gemeinschaftsformen werden künftig unentbehrliche Hilfskonstruktionen zur Lösung der erstrebten sozialen Verbesserungen sein müssen. Es wird sich dabei um neue Genossenschafts- und Gesellschaftsformen hart-

dein, denen gemeindliche und staatliche Initiative zum Entstehen verhelfen muß. Ebensosehr sind auch die Möglichkeiten des Zusammenwirkens der ländlichen Dienstgeber und Dienstnehmer endlich einmal neuartig auszuschöpfen. Schließlich ist auch die ganze Wirtschaft des Landes in einen kürzeren und rentableren Kontakt mit städtischen Verbrauchergruppen zu bringen.

Ohne bessere Ausstattung mit den erforderlichen sittlichen und geistigen Kräften wird aber der Mensch des Landes nicht mehr imstande sein, die Reformen des eigenen Lebensbereichs durchzuführen. Die ländliche Volksund Fachschule ist — zwar wurde dies schon oft betont — in ihren heutigen Möglichkeiten diesen Aufgaben nicht gewachsen. Die Forderung nach ihrer Verbesserung muß immer wieder erhoben werden. Es muß auch erwartet werden, daß die in Bewegung gekommenen Fragen des Landes seinen Menschen eine neue Einstellung zu den geistig-kulturellen Dingen vermitteln und sie im ganzen zu größerer Aktivität anspornen. Hiebei würden Ergänzungsleistungen durch ländliche Volkshochschulen in besonderem Maße wirkungsvoll werden.

Der Zwang zu einer positiven Begegnung mit dem städtischen Bereich ergibt sich auch nicht zuletzt deshalb, weil letzterer, wie in Mayrhofen von gewerkschaftlicher Seite unmißverständlich betont wurde, gegebenen falls auch seine eigenen Sorgen bei einem sich vielleicht nicht ganz erfüllenden „Traum der Exportindustrie“ haben dürfte. Das heißt, dem vom Lande Fliehenden wird vielleicht eines Tages kein neues Ziel in der Stadt winken! Das Landvolk hat also alle Ursache, entschlossen an eine bessere Gestai tung seiner Gesamtverhältnisse zu gehen. Dabei müssen auch die nichtlandwirtschaft liehen Berufsgruppen auf dem Landa in den europäischen Industriestaaten als soziale und wirtschaftliche Teile des ganzen Landvolk begriffen werden. Hievon ist bei der ländlichen Strukturentwicklung auszugehen, damit in den Landgemeinden eine gesunde, soziale Differenzierung möglich wird und ein lebendiger Wirtschaftskreislauf fundiertes Leben sichert. Damit wird die Landgemeinde künftig zur eigentlichen Plattform für die Lösung der agrarsozialen Probleme.

Die Mayrhofener Sozialtagung hat für diesmal ihre Aufgabe vor allem im Bewußtmachen der agrarsozialen Fragen erfüllt. Sie hat darüber hinaus die fruchtbaren Möglichkeiten einer Gemeinsamsarbeit der benachbarten Länder auf diesem Gebiet aufgezeigt. Es ist auch überaus wertvoll, daß die agrarsoziale Arbeit und Forschung, wie der Präsident der Tiroler Landes-Landwirt- schaftskammer abschließend erklärte, eine systematische Fortführung erhalten soll.

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