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Landarbeiter am Wendepunkt

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Unter den Millionen Wählern, die am 22. Februar ihre Stimme abgeben, werden auch rund 160.000 Land- und Forstarbeiter sein. Gemessen an der Gesamtzahl nicht viel, immerhin stellen sie aber die Stimme für rund sechs bis sieben Mandate, und die führenden Parteien haben nicht versäumt, Sprecher der Landarbeiter auf ihre Kandidatenlisten zu setzten.

Die Landarbeiter sind in den letzten Jahren öfter als früher vor die Oeffentlichkeit getreten. Die Vorstellung vom Landarbeiter alf eines außerhalb aller sozialen Rechte stehenden, mehr oder minder nur um die Kost und Quartier und ohne Freizeit und soziale Sicherheit arbeitenden Menschen, der in irgendeinem Stallwinkel seine Nächte verbringt, um den sich niemand kümmert, der sich an niemanden wenden kann, muß weitgehend revidiert werden. Es hat solche Zustände gegeben und gibt sie vereinzelt noch immer. Sie haben zur Landflucht beigetragen und ihr gleichsam einen „moralischen“ Hintergrund gegeben. Wenn sie auch nicht die einzige Ursache für die Landflucht sind, so hat doch die Entvölkerung des Bauernhofes bis zur wirtschaftlichen Existenzgefährdung das eine Gute gehabt, daß sich die Aufmerksamkeit auch des Gesetzgebers dieser Gruppe der Vergessenen zuwandte und in zum Teil gewaltigen Sprüngen die fängst und weit vorangegangene Industriearbeiterschaft einzuholen versuchte. Dabei verdient festgehalten zu werden, daß die Initiative von christlichen Sozialpolitikern ausging, die, wie beispielsweise Ministerialrat N u e 1 vom Landwirtschaftsministerium, in zäher Arbeit eine Reihe von Gesetzen schufen, deren Bedeutung vielleicht erst der jungen Generation voll bewußt werden wird.

Die Folgen sind auch politisch nicht ausgeblieben. Wohl ist es den Sozialisten gelungen, mit Hilfe der wirtschaftlichen Interessenvertretung der Gewerkschaft beachtliche Einbrüche in die Land- und Forstarbeiter zu erzielen. Doch beschränkten sich diese Einbrüche im wesentlichen auf die Forst- und Gutsarbeiter, also auf jene Betriebe, deren kapitalistisches Gepräge jene menschlichen Bindungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht kennt, die den bäuerlichen Betrieb kennzeichnen, freilich nicht immer zum Vorteil des Arbeitnehmers. Auch hat der linke Flügel der OeVP und ihrer Vorgänger nicht immer die Möglichkeiten zu einem aktivistischen Sozialprogramm, das sich auf diesem Gebiet christlichem sozialem Denken geradezu aufdrängt, voll ausgeschöpft. Doch stehen rund 1 31.0 0 0 Landarbeitern in bäuerlichen Betrieben nur etwa 2 8.0 00 Gutsarbeiter und 2 5.0 00 Forstarbeiter sowie rund 1 0.0 0 0 Saisonarbeiter gegenüber. Die Gutsarbeiter verteilen sich vorwiegend auf die Länder Niederösterreich, Burgenland und Steiermark. Hier sind daher die sozialistischen Einflüsse am stärksten. Im österreichischen Durchschnitt, wie er sich als Ergebnis der Landarbeiterkammerwahlen präsentiert, erreicht die sozialistische Anhängerschaft unter den Land- und Forstarbeitern nicht mehr als ein Drittel. Die Masse der bäuerlichen Dienstnehmer steht noch fest in der christlichen Weltanschauung und auf dem Boden eines keinesfalls' klassenkämpferischen Vertrauens in eine Verbesserung ihrer Lage durch wenige, aber durchgreifende Reformen.

Auch das Landarbeitsgesetz und die Land-arbeitsordnungen mit ihren Durchführungsbestimmungen sind ohne revolutionäre Vorgänge geschaffen worden. Es ist der Oeffentlichkeit und leider auch oft den bäuerlichen Arbeitgebern noch nicht genügend bekannt, daß der Landarbeiter den gleichen gesetzlichen Urlaubsanspruch besitzt wie der Industriearbeiter, daß selbst das Stallpersonal das Recht auf mindestens einen freien Sonntag und zwei freie Werktage im Monat hat, daß die Arbeitszeit für die in Hausgemeinschaft lebenden Dienstnehmer mit 54 Stunden, für die übrigen mit 48 Stunden wöchentlich im Jahresdurchschnitt begrenzt ist, daß für Mehrarbeit Ueberstundenentgelt, für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit ein solches mit lOOprözentigem Aufschlag zu leisten ist, daß Jugendliche sowie werdende und stillende Mütter den gleichen Schutz genießen wie in der Industrie, daß die Auflösung des Dienstverhältnisses an strenge Kündigungsfristen gebunden ist und eine Entlassung überhaupt nur in ganz bestimmten, durch das Gesetz gekennzeichneten Fällen erfolgen kann, daß dem Dienstnehmer im Krankheitsfalle das Entgelt für eine be^ stimmte Zeit weiter zu gewähren ist und daß ihm schließlich bei Auflösung des Dienstverhältnisses eine Abfertigung gebührt, die bis zur Hälfte eines Jahreslohnes gehen kann.

Das bedeutet für viele Länder völliges Neuland. Die Landarbeitsordnungen sind erst in den Jahren 1949 und 1950 in Kraft getreten. Seit dieser Zeit gibt es in der Landwirtschaft auch Arbeitsinspektorate sowie Betriebsräte und Vertrauensmänner in den größeren Betrieben. Vor drei Jahren gab es für Landarbeiter Kollektivverträge nur 531»'? den Gutsbetrieben. Die Lohnverhältnisse von fünf Sechstel der Landarbeiter Oesterreichs waren ausschließlich Angelegenheit privater Vereinbarung zwischen Dienstgeber und Dienstnehmer. Heute gibt es nahezu für alle Dienstnehmer in der Land- und Forstwirtschaft Kollektivverträge, die zwischen kollektivvertragsfähigen Körperschaften abgeschlossen und durch die Obereinigungskommissionen amtlich registriert wurden. Nor in. -Wien und für das Gebiet des Bürgenlandes gibt -es noch Schwierigkeiten. Auch hier war es die Tätigkeit christlicher Landarbeiterorganisationen, die auch im geheiligten Bezirk des Bauernhofes den Kollektivvertrag durchsetzten. Dank den Kollektivverträgen war es den Landarbeitern möglich, auch bei dem-letzten Lohn- und Preisabkornmen ihre Rechte zur Geltung zu bringen. Die Forderung nach Lohnangleichung der Landarbeiterlöhne an die Industriearbeiterlöhne wurde,, durch die Tätigkeit und Aufklärung der Landarbeiterkammern zu einem auch von der Landwirtschaft grundsätzlich anerkannten Programmpunkt aller christlichen Landarbeiter. Auch die Schaffung der Landarbeiterkammern selbst und ihr Zusam- . menschluß im Landarbeiterkammertag mit dem Anspruch auf volle Gleichberechtigung mit den übrigen wirtschaftlichen Interessenvertretungen der Industriearbeiter, der Landwirtschaft und der gewerblichen Wirtschaft bedeuten ein Novum und Zeichen erwachenden Standesbewußtseins der Landarbeiter. Noch ein weiteres: seit Kriegsende wurden in Oesterreich 9000 Dienstwo hn u n g en und 3785 Eigenheime für Landarbeiter gebaut. 48 Millionen Schilling hat der Bund dazu beigesteuert. Ein Programm, in aller Stille entwickelt, hat hier seinen Anfang genommen, dem das neue-Parlament seine gesetzliche Ergänzung durch ein Seßhaft-machungsfondsgesetz geben soll.

Das Landarbeitereigenheim steht als sichtbarer Ausdruck eines christlichen Sozialwillens zwischen den beiden bisher unüberwindlich scheinenden Extremen: dem Patriarchalismus, der nur den ledigen Knecht als eine Art Zubehör des Hofes kennt, und dem Proletarismus, der den Landarbeiter nur als einen besitz- und bindungslosen Lohnempfänger befrachtet.

Zwischen diesen beiden Extremen steht die Landarbeiterschaft heute und sucht ihren eigenen Weg. Dieser Weg kann nicht mehr zurückführen, denn eine wohlorganisierte Sozialversicherung, die den Alten unabhängig von der, Hof- und Dorfgemeinschaft besser schützt als diese es getan hat, eine umfassende Versicherung für den Fall des Unglücks, der Invalidität und der Krankheit, festgefügte Kollektivverträge, die das Dienstverhältnis aus dem Hofbereich heben und damit nicht der Großherzigkeit, aber wohl der Willkür des einzelnen Arbeitgebers entziehen, eine erst im vergangenen Jahr gesetzlich geregelte Berufsausbildung, die aus dem Knecht Fach-aibeiter und Meister machen soll — das sind Fortschritte, die einen solchen Weg zurück kategorisch verbieten. Die neuen Gesetze mit echtem Leben zu erfüllen, in unermüdlicher Kleinarbeit durchzusetzen und in wahrer, sozialer Gesinnung dem Gemeinschaftsleben der ländlichen Bevölkerung neue Auftriebe zu geben, wird die nächste Aufgabe christlicher Sozialpolitik im Dorfe sein müssen.

Denn noch ist das Sozialprogramm nicht über dem Berg. Die Familie, das Kernstück jeder christlichen Sozialpolitik, hat noch immer nur ,beschränkte Lebensfähigkeit im Beruf des Landarbeiters. Selbst die in der Landwirtschaft — von den Saisonarbeitern abgesehen — nur geringe Gefahr der Arbeitslosigkeit bedroht den Familienerhalter am härtesten und häufigsten und führt gerade in diesen Fällen zu verzweifelter Notlage, da mit dem Verdienst auch die Kinderbeihilfe ungerechterweise eingestellt wird, weshalb der Landarbeiterkammertag sowohl um die Arbeitslosenversicherung, als auch, sei es damit verbunden oder unabhängig davon, um die Kinderbeihilfe für die arbeitslosen Landarbeiter kämpft. In der Familienfrage liegt auch der Angelpunkt der Landflucht. Nicht die Jugend flieht die Landarbeit. Der prozentuelle Anteil der Jugendlichen bis 20 Jahren ist bei den pflichtversicherten Arbeitern in der Landwirtschaft im allgemeinen größer als in der Industrie. Während aber die Zahl dieser Arbeiter zwischen 20 und 30 Jahren in der Industrie noch zunimmt, sinkt sie in der Landwirtschaft gerade in diesen Jahrgängen rasch ab. Wenn nur alle pflichtversicherten Arbeiter, die bis zum 20. Lebensjahr in der Landwirtschaft tätig sind, bei ihrem Jugendberuf bleiben würden, wäre das Problem der Landflucht als eine Frage des Arbeitskräftemangels bereits gelöst. Der Familie die Bahn freizumachen, wird daher die Aufgabe der zweiten großen Etappe der ländlichen Sozialreform sein müssen, nicht nur im Interesse des Landarbeiters, sondern überhaupt eines jeden Menschen, der den Boden bearbeitet, denn auch die Familie des Bauern ist krank und wartet auf Heilung.

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