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Wider die Landflucht

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Für den vorurteilslosen Beobachter sind die unmittelbar in die Ąugen springenden Ursachen unseres erschreckenden Mangels an landwirtschaftlichen Arbeitskräften einmal die empfindlichen Menschenverluste während des zweiten Weltkrieges (mindestens 80.000, wahrscheinlich jedoch etwa 8 .000 vorher in der Landwirtschaft tätig gewesene Männer), dann die stark nachlassende Geburtenfreudigkeit der bäuerlichen Bevölkerung in nicht wenigen Teilen unseres Vaterlandes während der letzten Jahrzehnte (Untersuchungen im Kremser Becken stellten einen Rückgang von vier bis fünf Kindern je bäuerlicher Familie der vorausgehenden Generation auf durch- sdinittlich nur zwei Kinder je bäuerlicher Ehegemeinschaft in der gegenwärtigen fest), schließlich die Binnenwanderung (bei starkem Zug zur Stadt auch „L and- flucht“ genannt). Eine Verstärkung erfährt dieser Mangel noch durch das Nichtvorhandensein entsprechend zahlreicher menschensparender landwirtschaftlicher Geräte.

Vermag der Mangel an landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen jedoch nach der Überwindung der augenblicklichen Erzeugungsschwierigkeiten in verhältnismäßig kurzer Zeit behoben zu werden, so können die Menschenverluste, wie sie durch den zweiten Weltkrieg und durch die freiwillige, gegenwärtig stark wirksame Geburtenbeschränkung in unserer Landbevölkerung entstanden sind, selbst bei sofortigem Gesinnungswandel in der Nadiwuchs- frage nicht vor 15 bis 25 Jahren ausgeglichen werden. Erst diese besondere bevölkerungspolitische Lage innerhalb unseres Staatskörpers und das Wissen um ihre gefährlichen Folgen legen allen verantwortlichen Stellen des Staates und der Gesellschaft die unabweisliche Verpflichtung auf, alles zu tun, um wenigstens die Wanderung vom Lande zur Stadt innerhalb tragbarer Grenzen zu halten, weil ein so gerichtetes Bemühen für den Anfang das einzige unmittelbar wirksame Mittel im Kampf gegen den erschreckenden Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften darstellt. Denn nur in normalen Zeitverhältnissen und bei einer nachwuchsfreudigen ländlichen Bevölkerung wird sich die natürliche Abwanderung bäuerlicher Menschen in die Stadt — seit der Industrialisierung Europas mit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts eine nur zu bekannte Erscheinung — nicht unbedingt schädlich auswirken und sich sogar zur Auffrischung der städtischen Bevölkerung als notwendig erweisen.

Die Bannung der „Landflucht“ wird sich unter den gegenwärtigen besonderen Gegebenheiten ohne das Wissen um die jetzige soziale und geistig-seelische Situation auf dem Dorfe und die eigentlichen Ursachen der gegenwärtigen verstärkten Abwanderung zur Stadt niemals ermöglichen lassen. Solange übrigens von mancher Seite die tieferen Ursachen der „Landflucht“ und damit des Landarbeitermangels nur in den Schwierigkeiten (Anstrengung) der landwirtschaftlichen Arbeit und in dem bequemeren, leichteren Leben in der Großstadt gesehen werden, solange werden sich auch alle bisher erlassenen Regierungsgesetze und unterstützenden Einrichtungen zu ihrer Überwindung als Fehlschläge oder Stöße ins Leere erweisen.

Wer tiefer zu. schauen vermag, wird feststellen, daß sowohl die „L a n d f I u c h t“ als auch die freiwillige Geburtenbeschränkung der Landbevölkerung ihre eigentliche Ursache in den tiefgreifenden sozialen und geistig-seelischen Umschichtungen haben, wie sie sich innerhalb der ländlichen Bevölkerung seit etwa zwei bis drei Jahrzehnten vollziehen und die zum nicht geringen Teil auch Auswirkungen der fortschreitenden Verweltlichung (Säkularisierung), M e- chanisierung und Vermateria- lisierung des Lebe ns darstellen, wie sie mit der Renaissance einsetzten, in der Folge alle Lebensbereiche und alle Gesell- sphaftsstufen nacheinander erfaßten und sich in der gegenwärtigen bäuerlichen Bevölkerung als der letzten Schichtstufe vollenden.

Der Bauer ist in vielem bereits ein anderer geworden. Gegenüber diesen Wandlungen hilft, wie schon einmal von anderer Seite in diesen Blättern richtig ausgesprochen wurde, „alles Reden von Verpflich tung zur Tradition und zum Vätererbe nicht“, denn es ist ein Wandel, der zutiefst im Geistigen, Gesinnungsmäßigen begründet ist: unsere Landbevölkerung ist zutiefst in ihrer religiösen und weltanschaulichen Grundlage erschüttert worden. Die auffällige Minderung der Geburtenfreudigkeit und ihre bewußte Begründung (meist Bequem- lichkeits- und Nützlichkeitsstandpunkt) setzen diese religiös-weltanschauliche Erschütterung sogar voraus und führen für die wachsende Hinneigung zu materialistischer Geisteshaltung eine beredte Sprache.

Dieser innere Wandel tritt uns auch in zwei Tatsachen aus dem Bereiche des bäuerlichen Gemeinschaftslebens entgegen, die beide in hohem Maße die Erscheinung der „Landflucht“ erklären:

Nur der fortschrittlich gesinnte, bildungsaufgeschlossene und mit gesundem Unternehmungsgeist ausgestattete Bauer vermag heute im allgemeinen seine Erzieherrolle gegenüber den eigenen Kindern noch zu wahren und diese für den landwirtschaftlichen Wirkungskreis zu interessieren und zu gewinnen. Im übrigen gleichen die starken „Emanzipationsbestrebungen" der heu tigen bäuerlichen Jugend, wenn auch in standesbedingter veränderter Form, in hohem Maße der Selbstbefreiung der städtischen Jugend, die vor dem ersten Weltkrieg mit der Auflehnung gegen die Autoritäten von Haus und Schule eingesetzt und heute abgeschlossen erscheint.

Das veränderte Verhältnis zwischen Bauern und Landarbeiter läßt, auch auf dem Dorfe den Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer stärker hervortreten. Eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung bildet die wachsende Ablehnung des dauernden und allzu engen Zusammenlebens mit der Familie des Arbeitgebers durch den Landarbeiter und im Zusammenhänge damit dessen erhöhtes Streben nach selbständiger Häuslichkeit. Gerade die Aussichtslosigkeit auf Familiengründung, für die der eigene Herd die Grundlage bildet, muß neben anderen Gründen geistigseelischer Beschaffenheit als eine der Haupt- ursachen der Abwanderung in die Städte und des Landarbeitermangels angesehen werden. Wie richtig diese Feststellungen sind, zeigen jene freilich noch seltenen Landwirte, die durch Errichtung oder Beistellung von Wohnungen für die Familien ihrer Landarbeiter und durch pachtweise Abtretung von kleinen Grundstudien zur wirtschaftlichen Besserstellung das Land arbeiterproblem aus eigenem Antrieb für sich selbst gelöst haben. Solche Landwirte besitzen stets die nötige Anzahl von Arbeitskräften.

Das Eindringen politischer Parteien mit gegensätzlichen Ideologien trug ebenfalls nicht wenig zur Auflösung des früheren patriarchalischen Verhältnisses zwischen Bauern und Dienstboten bei.

Nur die Kenntnis von der wahren Lage auf dem Dorfe wird also den Weg zur Überwindung der „Landflucht" und der übrigen Übel weisen. Er umfaßt neben der Erfüllung berechtigter wirtschaftlicher Forderungen auch die Notwendigkeit einer ge i s t i g - se e 1 i s c h e n Erneuerung und Wandlung innerhalb unserer ländlichen Bevölkerung.

Die wirtschaftlichen Forderungen zielen nach den folgenden Verwirklichungen: Behebung des Landarbeiterelends durch wirtschaftliche und kulturelle Besserstellung, verbürgt durch die Herausgabe eines gediegenen und allgemein verpflichtenden Landarbeitergesetzes; Schaffung von Landarbeitersiedlungen oder -Wohnungen; Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten für langdienende Landarbeiter und deren Kinder; Schaffung eines Fonds, der es ermöglicht, daß auf dem eigenen Hofe überzählige Bauernsöhne und -töchter wie auch Landarbeiter frei werdende Bauernwirtschaften durch Gewährung von langfristigen Krediten erwerben können. Gleich zeitige wirtschaftliche Besserstellung der Landwirtschaft selbst, vor allem bei Eintritt normaler Ernährungsverhältnisse (Erhöhung der Preise für die Erzeugnisse, Leistungssteigerung, fortschritdiche Betriebsführung, Bildung von Dorfgenossenschaften und Einrichtung genossenschaftlicher Leihstellen für größere landwirtschaftliche Maschinen usw.).

Die geistig-seelische Erneuerung aber, ohne die allen wirtschaftlichen Maßnahmen und Einrichtungen der Erfolg versagt bliebe, wird sich nur so vollziehen können, daß unserer bäuerlichen Bevölkerung wieder zu einer festen, religiös untermauerten weltanschaulichen Grundlage, zu einem vertieften Christentum verholfen wird. Das ländliche Volksbildungswesen muß neu aufgebaut werden (Forderung nach einer landnahen Volksschule mit anschließender länd-. lieber Fortbildungsschule; gediegen Erwachsenenbildung, deren letzte Ziele in der Erziehung zum tätigen Miterleben und Gestalten der Kultur, in der Hebung der Lebens- und Berufstüchtigkeit liegen). Zur Durchführung dieser Aufgaben wird sidi die Heranbildung eines landnahen Erzieher- nachwuchses und seine ständige landtüchtige Fortbildung in besonderen Erziehungsstätten für Landschulerziehung als zwingend erweisen.

Der dörflichen Erziehungs- und Volks bildungsarbeit wird aber auch'die wichtige und schwierige Aufgabe zufallen, das Un- terhaltungslebcn (Feste, Feiern, Freizeit) der Dorfgemeinschaft so zu beeinflussen und zu gestalten, daß ihre Angehörigen, vornehmlich aber die Jugend, zu dem klaren Bewußtsein gelangen, daß es sich, wenn man nur will, auch im Dorfe abwechslungsreich und innerlich reich und anregend leben läßt und die Erfüllung gewisser

Wünsche und Sehnsüchte nicht erst durch die Abwanderung in die Stadt zu geschehen braucht. Diese Aufgabe ist um so dringender, aU ihrem bedeutsamen Brauchtum, vor allem aber der abwechslungsreiche und das Innere des bäuerlichen Menschen ehemals ausfüllende Festkreis des ländlichen Kirchenjahres mit seinen besonderen Feiern, ihren Zauber und ihre erziehende Kraft eingebüßt haben.

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