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Die bauerliche Welt von heute

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Das Dorf in der industriellen Entwicklung der Gegenwart. Band 1 der Wiener Studien zur Agrarpolitik und Agrarsoziologie. Herausgeber Ernst Lagler. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 64 Seiten.

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Das Dorf in der industriellen Entwicklung der Gegenwart. Band 1 der Wiener Studien zur Agrarpolitik und Agrarsoziologie. Herausgeber Ernst Lagler. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 64 Seiten.

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Die vorliegende Schrift stellt eine Wiedergabe der Vorträge dar. welche im Jahre 1956 aus Anlaß einer Tagung von Wirtschaftsfachleuten in St. Wolfgang von Agrarexperten gehalten worden waren.

Im ersten Vortrag setzt sich Univ.-Prof. W e i p-p e r t mit dem Problem der unaufhaltbaren Verstädterung auseinander, wobei Verstädterung keineswegs auf den Prozeß des relativen Wachstums der Städte begrenzt ist. Das Dorf zeigt, soweit es die bäuerliche Wirtschaft angeht, eine Auflösung der patriarchalischen Wirtschaftsverfassung; die Oijcen-wirtschaft, das „Halten“ von „Gesinde“, wird zur ausnahmsweisen Erscheinung. Wer sich noch in der Landwirtschaft verdingt, tut dies auf Abruf, um so mehr, als unter Bedachtnahme auf die Konsumgewohnheiten der Gegenwart die Gründung einer Familie dem Landarbeiter nur schwer möglich ist. Die Arbeitsverfassung des Bauernhofes wird als Folge einer unvermeidbar scheinenden Entwicklung eine innerfamiliare Angelegenheit. Trotz, allem Einfluß der nahen Stadt wird aber das Dorf seine Arteigenheit bewahren müssen (worauf auch Willy Hellpach in seinen Großstadtuntersuchungen hinweist), es bedarf lediglich der Anpassung an die Denk- und Organisationsweisen der Zeit. Was nottut, das ist vor allem eine Demokratisierung der dörflichen Lebensart und der bäuerlichen Produktionsgemeinschaft, vor allem aber der Beziehung zwischen dem Altbauern und dem lungbauern, dem durch die bisherigen Formen der Hofübergabe keine Chancen gegeben sind. Bauern, das heißt Vollbauern, zu werden.

Univ.-Prof. Abel schildert, ausgehend von Experimenten in der Bundesrepublik, die Methoden der Existenzsicherung der landwirtschaftlichen Versicherung, etwa den Versuch, Altbauern gegen Landhergabe Renten zu gewähren. Die Struktur des Bauerndorfes wird wahrscheinlich in der nächsten Zeit von der Art bestimmt werden, in der dem Bauern das geboten wird, was ihm das Stadtleben anziehend macht, u. a. auch von der Sozialpolitik für den Bauern.

Hochschulprofessor Steden befaßt sich in instruktiven Ausführungen mit dem Problem der Kleinbauern in Oesterreich. Der Kleinbauer ist heute in unserem Land zu einem Grenzberuf geworden, zu einem Beruf, der, am Geldeinkommen gemessen, im allgemeinen erheblich weniger Einkommen bringt als der Beruf des Arbeiters. Die Attraktionen der nichtbäüerlichen Arbeitsverfassung sind bereits so stark, daß Bauern, deren betriebliche Kapazität kein ausreichendes Familieneinkommen zu sichern vermag, zum Halbbauern werden oder das Dorf überhaupt verlassen. Zumindest gilt das für die Kinder. Anderseits ist aber der Kleinbauer noch „Unternehmer“, selbst nicht nur dispositiv, sondern auch exekutiv tätig, risikotragend und risikobewußt. Mit der Liquidation des Kleinbauerntums würde eine Schicht von Wirtschaftern verschwinden, die volkswirtschaftlich unentbehrlich sind. Derzeit geht es jedenfalls darum, die Betriebsgrößen und die Kostengestaltung der kleinbäuerlichen Wirtschaften ebenso aufeinander abzustimmen wie die Arbeitsproduktivität der kleinbäuerlichen Arbeit so zu steigern, daß die Produkte des kleinen Bauern zu marktkonformen Preisen angeboten werden können. In die-

sein Zusammenhang weist der Redner auf die im Anerbenrecht in Kärnten und im Höferecht in Tirol angelegten Möglichkeiten der Schaffung angemessener Betriebsgrößen hin. Ebenso bestünde die Chance einer Ertragssteigerung in der Förderung jener Betriebszweige, welche einen relativ hohen Einsatz menschlicher (händischer) Arbeit verlangen.

Univ.-Prof. L a g 1 e r untersucht die Lage der Bergbauern und in diesem Zusammenhang die Frage der Höhenflucht. Die Herausbildung von Rückstandszonen auf der einen Seite und von Wohlstandszonen auf der anderen zeigt sich drastisch und gleichsam optisch in Entsprechung zur Höhen- (und Verkehrslage) der bäuerlichen Betriebe. Das Bergbauernproblem ist nun keineswegs ein ausschließlich ökonomisches, sondern in einem hohen Umfang ein soziales, wenn nicht staatspolitisches. Jedenfalls bedarf das Faktum einer relativen Verelendung einer Bevölkerungsgruppe, lediglich als Folge ihrer Lage und Marktferne, der ernsten Beachtung und rascher Abhilfemaßnahmen. In eingehenden wissenschaftlichen Analysen bietet der Autor einen Katalog von Argumenten wie Hilfsmöglichkeiten.

Univ.-Prof. Graf Westphalen setzt sich mit der Lage des Großgrundbesitzes in Oesterreich auseinander, den er vor allem sozial zu begreifen sucht als eine Form der Agrarwirtschaft, bei der leitende und ausführende Arbeit organisatorisch und personell getrennt sind. Heute ist der Großgrundbesitz in Oesterreich in einer sozialen Defensivstellung. Einerseits von dem Bauern, gemessen an der Qualität seiner Wirtschaftsführung, wird anderseits vom Großgrundbesitz ein hohes Maß an (kostenverursachender) Betreuung verlangt. Wenn auch in der Größenordnung aus der bäuerlichen Welt herausgehoben, besitzt der Großgrundbesitz die gleichen Formkräfte wie das Bauerntum: Starker Rückbezug der Arbeit auf die Familie, das Bekenntnis zur Privateigentumsordnung, die Bindung an den Boden, die anderer Art ist als jene der städtischen Produzenten an ihr Produktionsmitteleigentum. Dazu kommt noch, daß es dem Großgrundbesitz aufgegeben ist, einer der Träger der wirtschaftlichen Intelligenz und der stadtfernen Kultur zu sein.

Alle Referate geben einen ausgezeichneten und wissenschaftlich fundierten wie belegten Ueberblick über die großen Probleme der bäuerlichen Welt von heute, so daß der schmale Berichtsband eine Einführung in die Elemente mitteleuropäischer Agrarpolitik darzustellen vermag.

Tiroler Umgangsspiele. Ordnungen und Sprechtexte der Bozner Fronleichnamsspiele und verwandter Figuralprozessionen vom Ausgang des Mittelalters bis zum Abstieg des aufgeklärten Absolutismus. Ediert von Anton D ö r r e r. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck. XVI und 568 Seiten mit 50 Abbildungen- auf 40 Tafeln und 1 Karte. Preis 380 S.

Der ungemein rührige und verdienstvolle'Forscher auf dem Gebiete des Tiroler Volksschauspieles legt uns in diesem stattlichen 160. Band der Sehlem-Schriften reiche Früchte einer mehr als 30jährigen mühevollen Kleinarbeit vor. Die Tiroler Umgangsspiele fußen auf urtümlichen Kräften und sakralen Erhöhungen, deren natürliche Entwicklung auf Grund ihrer kulturellen, sozialen und räumlichen Gegebenheiten nachgezeichnet sind: vom liturgischen Klostergang der Chorherren und Singknaben als veranschaulichter Dogmenbibel, zum Bitt- und Preisgang der ganzen Seelsorgsgemeinde, von ihrem Gotteshaus aus auf die eigenen Gassen und Plätze und zum kultisch magischen Abschluß mit dem Bühnenprovisorium vor einer wirkungsvollen Häusfront. Die frühbarocken ländlichen Festspiele des 17. Jahrhunderts knüpfen daran an. Bis herauf zum Bauern- und Volksstück eines Anzengruber, Domanig, Kranewitter und Schönherr ist dem Volksschauspiel einiges von diesem Grundcharakter, Wesensunterschied und Uebergang des ursprünglichen „Umgangs“ und „Einfangs“ zu eigen geblieben.

In einem weitausholenden geschichtlichen Ueberblick geht der Verfasser ein auf die gestaltenden Kräfte der „Ordnungen und Sprechtexte der Großen Bozner Umgangs“ (1421-1543-1753/1760).' Erstmalig werden die Texte mit sauberen Textvarianten in den Anmerkungen vom Sohne des Forschers, Archivar Fridolin Dörrer, ediert, die ja bekanntlich große Anregungen für viele andere Fronleichnamsspiele, so für das berühmte Spiel von Freiburg im Breisgau u. a. m., gaben. Weiterhin folgen wertvolle Prozessionstexte des 17. und 18. Jahrhunderts, die vom Editor „Alttiroler Tr-anslationstriumphe“ genannt werden. ,So wächst das Buch zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk heran, das wegen seiner Tiefgründigkeit und reichen Fülle von Kommentaren jeder, der sich mit abendländischem Barock in irgendeiner Form zu befassen hat, dankbarst benützen wird.

Der deutsche Bauernkrieg. Von Günther Franz. Hermann-Gentner-Verlag, Darmstadt. XVI, 318 Seiten. 4. Auflage. Preis 24 DM.

Der wissenschaftliche Wert dieses Werkes, das, 1933 in erster Auflage erschienen, auf eine etwa 25 Jahre lange Vorarbeit zurückblicken kann, steht über jedem Zweifel. Einwände im kleinsten wie im größten sind dennoch möglich. In Linz a. d. Donau gibt es ein Landes-, kein Staatsarchiv (S. 173), die führende historische Zeitschrift Oesterreichs heißt „Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ — nicht anders! (S. XIII). — Warum, so möchten wir fragen, wird G. Franz neu aufgelegt, Hugo Hantsch (Der deutsche Bauernkrieg, Würzburg 1925) jedoch nicht? Das Abendland steht vor der Entscheidung, ob es auf Grund benediktini-scher Lebenshaltung (von der auch L. v. Ranke gesprochen hat!) den Weg zu einer gesamtchristlichen-geSamteuropäischen Entwicklung finden will — oder ob ihm ein national-sozialer Revolutionierungswille, der die Wiedervereinigung Deutschlands um jeden Preis erstrebt! — auch um den Preis des Kapitulierens europäischer Tradition vor der Ideenwelt des Kommunismus, wichtiger ist. Auch bei der Entscheidung über diese Frage werden wissenschaftliche Werke nicht ohne Einfluß bleiben.

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