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Bedeutsame Umschichtungen in Österreich

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Innerhalb des letzten Jahrzehnts haben sich infolge gewisser örtlicher Verlagerungen der Industrie bereits tiefreichende und immer noch weiterwirkende strukturelle Veränderungen in der wirtschaftlichen, bevölkerungspolitischen, sozialen und namentlich auch geistigen Gestalt unseres Landes ergeben, die größere Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen bisher zuteil wurde.

Verfolgen wir hier die nüchternen Tatsachen.

Während des letzten Krieges erforderte die Rüstungswirtschaft, mit bis zur Härte gesteigerter deutscher Gründlichkeit betrieben, nicht nur eine mächtige Ausweitung des industriellen Potentials; sie brachte auch neue Grundsätze der regionalen Standortwahl. An Stelle der früher durchgeführten Konzentration von Fabriken und Arbeitermassen mußte jetzt, schon aus Gründen der Luftsicherheit, nach möglichst weitgehender Auflockerung getrachtet werden. Aus diesem Grunde kam gerade Wien für die zahlreichen Neugründungen nach 1938 am wenigsten in Frage, und auch im Steinfeld überwog der Ausbau bestehender Werke bei weitem die Bedeutung der wenigen großen Neuanlagen. Der Schwerpunkt der neuen Großindustrien verlagerte sich daher in den Raum zwischen Inn und Enns, so daß sich die Zahl der Industriearbeiter in Oberösterreich schon im Verlauf' weniger Jahre verdoppelte. So gehören von den fünf größten Betrieben des Landes (VÖEST, Steyr-Werke, österreichische Stickstoff AG, Aluminiumwerke Ranshofen und Zellwolle-Lenzing) nicht weniger als vier dieser Kategorie an. Dazu kamen dann noch die Kugellagerwerke in Steyr und die in den letzten Kriegsmonaten fast völlig zerstörten und dann größtenteils demontierten .Nibelungenwerke“ in St. Valentin (die freilich, obwohl organisch zwischen den Linzer und Steyrer Betrieben eingeordnet, auf dem rechten Ennsufer erbaut worden waren).

Neben diesen Neugründungen nahm der Ausbau bestehender Industrien teilweise riesige Ausmaße an. Dies gilt besonders für die schon vorher mit zahlreichen Werken der Metallindustrie ausgestattete Steiermark, vor allem für den Raum von Bruck — Kapfenberg. In Niederösterreich wurden besonders die Stahlwerke in Ternitz, Traisen und Waidhofen an der Ybbs durch Ausbau und Modernisierung oft auf ein Mehrfaches ihrer früheren Kapazität gebracht und daneben Neuanlagen in Krems und Liezen (Steiermark) erbaut.

Im weiteren Verlaut des Krieges zwang die steigende Fliegergefahr dann noch zur Verlegung vieler Betriebe an oft sehr abgelegene Orte und zuletzt in den Schutz der Berge.

Wohl sind nach dem Zusammenbruch gerade von diesen ausgesprochenen Kriegsbetrieben viele zerstört oder demontiert worden, die großen Grundindustrien der Schwerchemie und Metallurgie aber sind doch erhalten geblieben, wenn auch manche von ihnen heute noch nicht für Österreich arbeiten. Riesenbetriebe dieser Art aber ziehen im Laufe der Zeit naturnotwendig immer neue Werke der Weiterverarbeitung nach sich, so daß schon aus diesem Grunde die Industrialisierung Österreichs auch heute noch unaufhaltsam vorwärtsschreitet, soferne nur die nötigsten besitzrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. Aus eben diesem Grund dauert aber die ursprünglich rein kriegsbedingte Verlagerung nach dem Westen auch in unserer Zeit weiter an, so daß man dort, ganz im Gegensatz zu den dreißiger Jahren, nicht nur die steigende Reakti-vierung alter, sondern eine intensive Gründungstätigkeit neuer Filialbetriebe zahlreicher Großfirmen beobachten kann, während etwa in Niederösterreich Industrieneubauten privater Unternehmungen sehr selten geworden sind.

Ein weiterer Grund für den Wirtschaftsaufstieg des Westens liegt in einer Tatsache, die im Jahre 1945 noch eine schwere Belastung darstellte, heute aber sich immer mehr in ihrem unschätzbaren Wert für die österreichische Wirtschaft zeigt, nämlich in der gewerblichen Aktivität wertvoller Kräfte der zahlreichen Heimatvertriebenen. Teils freiwillig, teils durch scharfe Evakuiexungsmaßnahmen der östlichen Besatzungsmacht gezwungen, habeD sich diese Menschen, die oft nichts mehr besaßen als ihre Arbeitskraft, fast ausschließlich in den Westzonen (wo nicht gleich jeder Volksösterreicher als .Faschist“ galt) niedergelassen. Ihr Ringen um eine neue Existenz schuf überall, besonders in der amerikanischen Zone, neue und vielfach auch für Österreich neuartige Betriebe, von denen die vielgenannte „Gablonzer Industrie“ keineswegs das einzige Beispiel darstellt.

Der Warenhunger der ersten Nachkriegsjahre, verbunden mit verhältnismäßig leichter Geldbeschaffung, hat aber auch das heimische Unternehmertum zu einer Gründungstätigkeit angeregt, wie sie seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Wirtschaftsgeschichte Österreichs kaum eine Parallele hat. Sicher befinden sich darunter auch Gründungen, deren Lebensfähigkeit zweifelhaft ist, oder andere, die nur der augenblicklichen Abschnürung durch Zoll- und Währungsschranken ihr Dasein verdanken. Die Mehrzahl wird sich aber zweifellos auch in Zukunft behaupten.

Selbst vom Waggonfenster aus wird der Reisende zwischen Linz und Bregenz eine Vorstellung von dem Ausmaß gewinnen, in dem der Industrialisierungsprozeß nicht nur in den Städten, sondern schon in kleinen und kleinsten Orten überall voranschreitet. Die technische Grundlage hiefür ist durch die Elektrifizierung gegeben, durch die alle jene Betriebe von den Kohlenlagern unabhängig geworden sind, die mehr Kraft als Hitze benötigen, wozu ja fast die gesamte Weiterverarbeitung der verschiedenen Halbfabrikate gehört. Ausgesprochene Veredlungsbetriebe ohne große Transportabhängigkeit können sogar in den entlegensten Gebieten entstehen, wenn etwa arbeitsmäßige Erwägungen hiefür sprechen, und tatsächlich findet man solche schon weitab von der Eisenbahn und in den entlegensten Tälern.

Umfang und Richtung dieses gewaltigen Umschichtungsprozesses werden am besten durch einen Zahlenvergleich der in der gewerblichen Wirtschaft der einzelnen Bundesländer Beschäftigten sichtbar . Legt man die Zahlen des Jahres 1936 mit 100 zugrunde, so ergeben sich für 1949 folgende Vergleichszahlen:

Wien ....... 124,9

Niederösterreich ....... 129,7

Burgenland ...... . . 151,6 dagegen:

Oberösterreich . % . i s . 272,4 Salzburg .......... 270,6

Tirol ........... 231,2

Steiermark i ....... . 206,6

Kärnten ...... 167,1

Vorarlberg .... 162,6 Österreich (Durchschnitt) 161,5

Aus diesen Zahlen ergibt sicff eins Steigerung der industriellen Beschäftigung im ganzen Bundesgebiet, sie zeigen aber auch besser als lange Ausführungen die Verschiebung des wirtschaftlichen Schwergewichtes gegen den Westen. (Sogar der rein äußerlich günstigste Vergleich: Burgenland — Vorarlberg, beweist dies bei näherem Zusehen mit besonderer Deutlichkeit, da im Burgenland, das 1936 fast köine Industrie besaß, eine Zunahme von 51,6 Prozent nicht viel, in Vorarlberg, das damals nach Wien die höchste gewerbliche Beschäftigtenquote aufwies, sehr viel besagt.)

Umschichtungsvorgänge, wie sie hier im Gange sind, ziehen eine Unzahl von Problemen nach sich, die von der Kommunalpolitik bis zurSeel-sorge kaum einen Lebensbereich unberührt lassen. So besteht heute die Landflucht stärker denn je, hat aber gerade durch die Industrialisierung des flachen Landes gegenüber früheren Jahrzehnten vielfach wesentlich andere Formen angenommen, wobei sich günstige und bedenkliche Erscheinungen mischen. So war in der Frühzeit der Bruch, den der vom Lande Abwandernde vollzog, jäh und total. Fast immer geriet der Land- und Höhenflüchtige in den Sog der Großstadt, und bald ging .in der Fremde“ jede Bindung verloren. Heute geht aber die Wanderung in sehr vielen Fällen nur mehr in den nächsten Markt, wo ein neuer Betrieb günstige Erwerbsmöglichkeiten bietet. Schon die dort bestehende Wohnungsnot zwingt zumeist den jungen Mann, weiterhin im Elternhaus zu wohnen, und selbst wenn er seinen eigenen Hausstand gründen kann, bleibt die Bindung an die Gemeinschaft der engeren Heimat aufrecht. So ist die Landflucht heute eigentlich eher als Land a r b e i t s flucht zu bezeichnen. Auch diese freilich ist bedenklich genug und bildet eine dauernde Sorge unserer Arbeitsämter. Trotz allem ist diese Form deshalb weniger hoffnungslos, weil hier die Entwurzelung vermieden wird und bei entsprechenden Maßnahmen zur Besserstellung des Landarbeiters doch manche Kräfte wiedergewonnen werden können, was bei Großstädtern völlig unmöglich wäre. Nicht zu übersehen sind aber die Gefahren, die in der „Verstädterung auf dem Lande“ liegen.

Nicht wenige bisher halb dörfische Orte, zum Beispiel des Inntales, haben sich heute durch den dominierenden wirtschaftlichen Einfluß einer, jungen, blühen-, den Industrieunternehmung in regelrechte Industriegemeinden verwandelt. Alle sittlichen und sozialen Probleme, oft fast völlig fremd dem bisherigen Ortscharakter, haben sich fast über Nacht auf das kleine Gemeinwesen gestürzt. Damit begann auch eine politische Umschichtung, die gewiß noch nicht vollendet ist und neue Formen einer weitschauenden Arbeit im Dienste der Volksaufklärung und des Gemeinwohles verlangt.

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