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Zu Hause in der Weltstadt

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In der letzten Juliwoche ftnd In Wien der XXIII. Internationale Kongreß für Wohnungswesen und Städtebau statt. Tausend KongreSteilnehmer aus 30 Staaten hatten sich in der Bundeshauptstadt versammelt, um die Probleme zu beraten, die sich aus der Fragestellung „Die Stadt und ihr Umland“ ergaben. In drei Plenarsitzungen und sechs Kommissionen wurde die systematische Umgestaltung des inneren und äußeren Stadtgefüges der Großstädte erörtert. Auf der Erde gibt es heute 770 Städte mit mehr als 100.000 und 60 mit mehrals einer Million Einwohnern. Die meisten von ihnen wucherten planlos emporund sind krank. Viele Stadtteile verfallen, da sie zwar die Lasten des Stadtbestandes mittragen müssen, aber kein prozentueller Anteil der Einnahmen auf sie entfällt. Auch Wien wächst planlos weiter. Am Rande des Wienerwaldes, im Süden der Stadt, an der Donau sprießen wilde Siedlungen hervor, die der Bevölkerung wertvolle Naherholungsgebiete wegnehmen. Die „Furche“ hat schon wiederholt auf diesen Uebelstand und die Notwendigkeit einer umfassenden Stadtplanung hingewiesen. Sie möchte in freien Abständen in den folgenden Nummern Fachleute zu den einzelnen Fragen zu Wort kommen lassen und wesentliche Perspektiven und neue Lösungsmög!ichkeifen aufzeigen. Die Redaktion

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In der letzten Juliwoche ftnd In Wien der XXIII. Internationale Kongreß für Wohnungswesen und Städtebau statt. Tausend KongreSteilnehmer aus 30 Staaten hatten sich in der Bundeshauptstadt versammelt, um die Probleme zu beraten, die sich aus der Fragestellung „Die Stadt und ihr Umland“ ergaben. In drei Plenarsitzungen und sechs Kommissionen wurde die systematische Umgestaltung des inneren und äußeren Stadtgefüges der Großstädte erörtert. Auf der Erde gibt es heute 770 Städte mit mehr als 100.000 und 60 mit mehrals einer Million Einwohnern. Die meisten von ihnen wucherten planlos emporund sind krank. Viele Stadtteile verfallen, da sie zwar die Lasten des Stadtbestandes mittragen müssen, aber kein prozentueller Anteil der Einnahmen auf sie entfällt. Auch Wien wächst planlos weiter. Am Rande des Wienerwaldes, im Süden der Stadt, an der Donau sprießen wilde Siedlungen hervor, die der Bevölkerung wertvolle Naherholungsgebiete wegnehmen. Die „Furche“ hat schon wiederholt auf diesen Uebelstand und die Notwendigkeit einer umfassenden Stadtplanung hingewiesen. Sie möchte in freien Abständen in den folgenden Nummern Fachleute zu den einzelnen Fragen zu Wort kommen lassen und wesentliche Perspektiven und neue Lösungsmög!ichkeifen aufzeigen. Die Redaktion

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Wien ist In den letzten hundert Jahren rasch gewachsen. 1856 hatte es noch nicht eine halbe Million Einwohner und acht Gemeindebezirke. 1890, nach der Vereinigung mit zahlreichen Vorstädten, sind die Bezirke auf 19 und die Bevölkerung auf 1,36 Millionen gestiegen. 1910 hat die Zahl der Einwohner bereits die Zweimillionengrenze überschritten, die in 21 Bezirken leben. Damit hatte Wien seine höchste Einwohnerzahl erreicht. Nun setzte eine rückläufige Bewegung ein. Eine Volkszählung ergab im Jahre 1923 nur noch

1.86 Millionen, zehn Jahre später sind es

1.87 Millionen. Ein letztes Mal steigt die Zahl im Jahre 1938 nach der Eingliederung niederösterreichischer Gemeinden, erreicht aber nicht mehr die Zweimillionengrenze (1,93 Millionen). Nach Kriegsende ist die Bevölkerung in Wien auf 1,77 Millionen gesunken, nach der Rückgliederung der „Randgemeinden“ (eines Teiles der 1938 eingegliederten Vorstädte) beträgt sie nur noch 1,62 Millionen.

Wie ist diese Entwicklung zu verstehen?

Das Zeitalter der Industrialisierung, das etwa von 1848 bis 1914 anzusetzen ist, brachte ein rasches Wachsen der Städte mit allen Nachteilen, wie Elendsquartieren, Slums mit sich. Diese Bewegung fand mit dem Ende des ersten Weltkrieges ein Ende. Keinesfalls aber schloß sich an die Epoche des raschen, wilden Wachsens eine Zeit der organischen, geplanten Stadterweiterung an. Zwar blieb ein weiterer Zuzug zum übervölkerten Stadtzentrum aus und wurde die Tenderlz, sieh mit der stetigen Verbesserurig der Verkehrsmittel am Stadtrand niederzulassen, immer deutlicher: aber eine systematische Erfassung dieser Tendenzen und eine Erforschung ihrer Ursachen, und noch mehr eine Stadtplanung, erfolgte nicht. Man ging daran, die steigenden Wohnbedürfnisse zu befriedigen — Wohnungen, die vor einem halben Jahrhundert als Unterkunft akzepiert wurden, entsprachen den menschlichen Bedürfnissen nicht länger: der Mensch war aus seinen alten Wohnungen herausgewachsen, verlangte größeren Wohnraum und hatte gesteigerte hygienische Ansprüche. Aber man begriff noch nicht die Stadt als organisches Lebewesen und den innigen Zusammenhang des lebendigen Stadtkörpers mit Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, die in ihm hausert.

Die Zeit der Industrialisierung wurde nach dem zweiten Weltkrieg abgelöst von der Periode, in der wir heute leben, und die spätere Generationen vielleicht als die Zeit der Automatisierung und Standardisierung bezeichnen werden. Es ist eine Zeit, auf die Holthusens Schlagwort vom „unbehausten Menschen“ zutrifft. Der Mensch ist, erschreckt durch die Katastrophen zweier Weltkriege und durch die rasante Entwicklung der technischen Möglichkeiten (die einerseits zur H-Bombe, anderseits zu Elektronehgehirn und Normung der Berufstätigkeit führte) unsicher geworden. Nur allzu-oct flieht er in extreme Ideologien oder andere scheinbare Sicherheiten, die ihm angeboten werden. Im privaten Bereich aber strebt er nach der Sicherung seines Zu-Hauses, nach der Möglichkeit, wirklich wohnen zu können, nach einem Freiheitsraum. Wohnen, das heißt zu FlausS sein auf der Welt. Um wieviel mehr der unsicher gewordene Mensch der Großstadt nach der Sicherheit, die ihm die Wohnung gibt, verlangt als der Bauer, der noch in einer viel heileren, ungefährdeteren Welt lebt, zeigt die Institution der Sommerwohnungen: Der Bauer ist im Sommer ohne weiteres bereit, zur Erhöhung seines Einkommens Großteile seines Hauses an Fremde zu vermieten und sich in die letzte Kammer, in den letzten Winkel zurückzuziehen, während der Städter nie auf diesen Gedanken käme. Auch die Schwierigkeit, heute Untermietzimmer zu bekommen, deutet in diese Richtung.

Der Hamburger Soziologe Helmut Schelsky kennzeichnet die fortschreitende Differenzierung ländlicher und städtischer Lebensführung:

Ist nicht das Ineinanderfließen von Beruf und Privatdasein, die im Tagesablauf weder räumlich noch zeitlich abgegrenzte berufliche Arbeit ein Kennzeichen des dörflichen und kleinstädtischen Lebens und jener Berufsarten und Arbeitsweisen, die nicht von Büro, Fabrik und anderen großstädtischen Betriebsformen bestimmt werden?

Mir scheint, daß im Leben des Großstädters die Arbeit immer Sachlicher, die Freizeit aber immer privater geworden ist, und daß sich die damit auftuende Kluft des großstädtischen Tagesablaufes nicht nur in klaren, zeitlichen Abgrenzungen, sondern auch als eine Grenze räumlicher Lebensbereiche in der Großstadt niederschlägt. Vor allem aber muß man wohl etwas viel Wichtigeres feststellen, nämlich, daß der moderne Mensch diese Entwicklung Von sich aus erstrebt und bejaht. Je sachlicher die menschlichen Beziehungen im Arbeitsräum werden und je privatef und individuell Wählbarer der Freizeitraum, um so angemessener empfindet sie heute der Mensch. So wird gerade die Großstadt heute mehr und mehr zu seiner optimalen Umwelt, in der sich der moderne Mensch wohl fühlt.

Das Gegengewicht gegen die Sachlichkeit der Arbeit und des Verkehrs in der Großstadt liegt In der Betonung der individuellen Freiheit, die menschlichen Beziehungen in der Freizeit nach Belieben und Nigung wählen zu können. Alle organisierte und die Wahlfreiheit des einzelnen beschränkende Gemeinschaftsbildüng wird daher vom Großstädter auch außerhalb der Arbeit abgelehnt. In dieser extremen Privatheit bestätigt sich der Großstädter als Person gegenüber der Funktionalisierung Seines Berufsdaseins und gegenüber der Anonymität der ihn umgebenden Menschenmenge.

Unter dieser Betonung einer privaten Umwelt müssen wir auch die moderne Siedlungsentwicklung der Großstadt verstehen: das Hinauswachsen der Siedlungshäuser und Kleinwohnungen aus der Großstadt entspricht diesem Bedürfnis nach sich absetzender Privatheit, bedeutet aber keineswegs ein Streben nach neuer siedlungs-hafter Gemeinschaftsbildung. Im Zusammenhang mit den Ausführungen Schelskys, der die Großstadt in einen „A r b e i t s k e r n“ und einen „Freizeit-mantel“ gliedert, ist eine Untersuchung von Interesse, die von der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle an der Lehrkanzel für Soziologie der Universität Wien durchgeführt und von ihrem Leiter, Univ.-Dozent Dr. Leopold Rosenmayr im Zusammenhang mit dem Städtebaukongreß der Oeffentlichkeit vorgelegt wurde.

Die erste Frage, die an 3600 Personen in dreizehn verschiedenen Wohnblöcken, die für Wiener Wohnverhältnisse typisch sind, gerichtet wurde, lautete: „Sind Sie mit Ihrer Wohnung zufrieden?“ 41 Prozent der Befragten antworteten mit Ja, 51 Prozent verneinten die Frage, und 8 Prozent verhielten sich hiezu indiffere it.

Aufschlußreicher war eine andere Frage: „Würden Sie gerne in einem mit allen technischen Errungenschaften ausgestatteten Hochhaus wohnen?“ 87 Prozent antworteten nein, nur 13 Prozent wollten lieber in einem Hochhaus als in ihrer jetzigen Wohnung leben. Die Frage „Wollen Sie in einer Siedlung mit Häusern zu zwei bis vier Wohnungen wohnen“, wurde von der Mehrzahl verneint: 22 Prozent Jastimmen, 78 Prozent Neinstimmen; ein größerer Prozentsatz wünscht das Einfamilienhaus: 34 Prozent Jastimmen, 66 Prozent Neinstimmen. Dabei ergab sich, daß je größer die vorhandene Wohnung war, um so geringer der Wunsch nach der Siedlung in Erscheinung trat, während gleichzeitig das Einfamilienhaus in steigendem Maße bejaht wurde.

Die Frage nach „freundschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarn“ wurde von 84 Prozent der Befragten verneint -- ein Zeichen der Anonymität, in der der Großstädter lebt.

Am bedeutendsten für die zukünftige Entwicklung Wiens aber war das Ergebnis auf die Frage, in welcher Zone des baulichen und soziologischen Gefüges der Stadt der Wohnort liegen solle. Es wollten leben: in der Inneren Stadt ... 4 Prozent in den daran angrenzenden

Bezirken (innerhalb des

Gürtels).......41 Prozent in den Außenbezirken oder am Stadtrand a) wenn eine schnelle Verbindung vorhanden ist . . 37 Prozent b) auch ohne diese .... 18 Prozent

Zusammenfassend kann man sagen, daß

45 Prozent in der Stadt, 5 5 Prozent aber am Stadtrand oder in den Vororten leben wollen. Befragungen in Städten in der deutschen Bundesrepublik brachten zum Teil wesentlich andere Ergebnisse; in München beispielsweise wollten nur 16 Prozent in der Stadt selbst leben, während 84 Prozent am Stadtrand oder in den Vororten wohnen wollten.

Am Stadtrand zu leben erscheint vielen Menschen die ideale Lösung, da sie hier die Vorteile der Stadt zu genießen hoffen, ohne ihre Nachteile verspüren zu müssen. Bedingimg dafür sind aber ausgezeichnete Verkehrsverhältnisse, da ja nicht nur der Arbeitsplatz, sondern auch die Stätten kulturellen Konsums in der Stadt selbst liegen und ohne großen Zeitverlust zu erreichen sein müssen.

Mit dem zu erwartenden Ausbau der Verkehrsverhältnisse, der Anlage von Durchzugsstraßen und Schnellbahnen wird der Stadtrand als Lebensraum immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wien wird sich in den kommenden Jahren immer stärker in die Breite entwickeln; die Besiedlungsdichte wird eher abnehmen: viele Viertel sollen assaniert und die Zahl der Wohnungen in ihnen herabgesetzt werden. Die Entwicklung zum Hochhaus, in anderen Großstädten längst als Irrweg, der nur zu neuen Komplikationen führt, abgelehnt, wird wohl auch bei uns — mit der Zeit, aber doch — verworfen werden und Ringturm und Wolkenkratzer am Matzleinsdorfer Platz werden als Bausünden einer neuen Gründerzeit von späteren Generationen bestaunt werden.

Freilich wird diese Entwicklung kaum jenen Weg gehen, den ein flinker Reporter eines Wiener Mittagblattes voraussagen zu können glaubte: „Wien bleibt nicht Millionenstadt! — In 35 Jahren nur noch 800.000 Einwohner.“ Das ist — abgesehen davon, daß sich so präzise Voraussagen nie machen lassen — natürlich Unsinn. Doch ist nicht damit zu rechnen, daß im gegenwärtigen Gebiet der Bundeshauptstadt auf die Dauer mehr als eineinhalb- Millionen Menschen leben werden. Eine Zahl von Satellitenstädten mit eigenen kleinen Stadtzentren und günstigen Verkehrsverbindungen nach Wien wird, wenn nicht alles täuscht, entstehen. Hier liegen vielfältige Aufgaben; insbesondere eine Zusammenarbeit zwischen Wien und Niederösterreich, auf breiterer Basis als sie der jetzige Planungsausschuß beider Bundesländer schon geschaffen hat, wird nötig sein. Niederösterreich ist für Wien als Siedlungs- und vor allem als Naherholungsraum lebenswichtig.

Der Stadtplaner der Gemeinde Wien, Ingenieur Anton S c h i m k a, hat auf dem Kongreß einen vortrefflichen Bericht über die Aspekte der weiteren Entwicklung der Bundeshauptstadt erstattet, den er in folgenden Punkten zusammenfaßte:

1. Die Stadt braucht Erweiterungsraum, um die notwendig gewordene Dezentralisierung einzuleiten und den Erholungsraum zu sichern.

2. Die große Stadt braucht die enge Gliederung der mittleren und kleineren Städte.

3. Die Synthese von Stadt und Land ist die wichtigste Aufgabe.

4. Die Schaffung von Grünflächen und die Zuordnung von Schwerpunkten durch Bildung von innerstädtischen Nachbarschaften ist zu erstreben.

8. Die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über Grund und Boden durch den Eigentümer soll durch ein Bodenbeschaffungsgesetz eingeschränkt werden. 9. Die organische Industrieplanung im Stadt-umland ist die Voraussetzung gesunder Stadtdezentralisation.

10. Die Entwicklung eines gesunden Bauernstandes ist auch für eine gesunde Stadtentwicklung von größter Bedeutung.

11. Keine Monokulturen und keine Farmer im Bereich der Städte; ebenso sollen sich keine „Schlafstädte“ und „Schlafdörfer“ im Stadtumland entwickeln.

17. Für die Grundlagenforschung und die Landesforschung sind entsprechend dotierte Stellen aufzubauen, aus denen sich die Planzweckverbände und andere geeignete Organisationen zusammensetzen können.

18. Die gesamte Bevölkerung über den Stand der Planungen zu unterrichten, ist notwendig; sie soll intensiv zur Mitarbeit angeregt werden; denn Mitdenken und Mitsprechen auf diesem Gebiet führt erst zum praktischen schöpferischen Mitarbeiten.

Im Sinne dieser Ausführung erwarten wir von der Stadt Wien in Hinkunft eine großzügige Stadtplanung; gerade die Betonung der Information der Bevölkerung über das Fortschreiten der Planungsarbeit und ihre Heranziehung zur Mitarbeit, mit weitgehender Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Wünsche, unabhängig von parteigebundenen Interessen, erscheint uns wesentlich. Denn die Stadtplanung muß in doppeltem Wortsinne großzügig sein: einmal muß sie weit vorausschauend und nicht beengt durch kleinliche Rücksichtnahmen arbeiten können; zum anderen muß sie aber innerhalb der Planung der privaten Initiative entsprechenden Spielraum lassen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß der Mensch nur dann seinen Wohnraum als Heim empfindet, wenn er zu seiner Wahl und Gestaltung selbst beitragen kann und sie nicht als „Wohnkonserve“ vorgesetzt erhält. Es kommt darauf an, daß die neue Stadtlandschaft ein Lebensraum wird, den wir innerlich ganz bejahen können. Dann können wir wieder von Wohnen sprechen: denn es ist ein Zuhausesein in der Weltstadt geworden.

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