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Der Wettlauf zum Stadtrand

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Als vor fünf Jahren in Wien ein internationaler Städtebaukongreß stattfand, präsentierte die Stadverwaltung der illustren Gästeschar eine bemerkenswerte Publikation, in der das Ergebnis einer umfangreichen Befragung der Wiener Bevölkerung nach ihren Wohnungswünschen zusammengefaßt war. Die mit wissenschaftlichem Rüstzeug ausgeschickten Fürsorgeschülerinnen und Studenten hatten eruiert, daß sich die Mehrzahl der aus verschiedenen Stadtteilen stammenden Befragten eindeutig für das Wohnen in den Innenbezirken, vor allem in den komfortreichen fünf- bis sechsgeschossigen Häusern entschied. Das war um so auffallender, als ähnliche Untersuchungen und Befragungen in anderen Großstädten, vor allem in den westdeutschen Ballungen, ganz gegenteilige Ergebnisse zeitigten. Dort sehnte man sich in erster Linie nach einem Einfamilienhaus mit Garten am Stadtrand.

Dieser Unterschied in den Anschauungen über städtisches Wohnen in Wien und anderswo war jedoch nur ein scheinbarer. Die Wiener erklärten nämlich außerdem, daß sie bei einer eventuellen Verkehrsverbesserung in den Randgebieten selbstverständlich lieber am Stadtrand wohnen würden. Der entscheidende Hemmschuh einer konformen Entwicklung Wiens mit den anderen Großstädten war also vor fünf Jahren noch die damalige verkehrsmäßige Deklassierung der Randbezirke.

Nun hat sich aber in dieser Beziehung in Wien seither vielerlei getan, das man allgemein als die „Entdeckung des Stadtrandes“ nennen könnte. Einerseits sind die Wohnbedingungen in den Innenbezirken angesichts der zunehmenden Lärmentwicklung, der Luftverschmutzung und der sprunghaften Motorisierung zunehmend schlechter geworden, anderseits hat aber die individuelle Motorisierung die Wohngebiete am Stadtrand anziehender gemacht. Kürzlich darüber durchgeführte Erhebungen erbrachten das überraschende Ergebnis, daß die in den verhältnismäßig unterentwickelten Randbezirken wohnenden Berufstätigen zu fast einem Viertel mit einem eigenen Fahrzeug täglich zu ihrer Arbeitsstätte fahren. In allen anderen Bezirken ist der Anteil der selbständigen Verkehrsteilnehmer wesentlich geringer.

Wer die Zahlen der Wiener Bevölkerungsentwicklung betrachtet, erkennt ganz deutlich die seit dem Jahre 1955 in verstärktem Maße bestehende Tendenz der innerstädtischen Binnenwanderung: die Flucht aus den Bezirken des Stadtkerns und den dicht besiedelten westlichen Stadtgebieten in die wohnmäßig vorteilhaften Randbezirke. Während noch vor wenigen Jahren die Bezirke Floridsdorf, Donaustadt und Liesing für die innerstädtische Bevölkerung sehr wenig begehrenswert erschienen, hat sich inzwischen ein Gesinnungswandel vollzogen, der sich allmählich in der Bevölkerungsverteilung bemerkbar nacht. Die Randbezirke Simmering, Meidling, Donaustadt und Liesing hatten zwischen 1951 und 1959 ein Bevölkerungswachstum von 8 bis 12 Prozent, die Bezirke Favoriten, Hietzing, Döbling und Floridsdorf aber ein solches von 13 bis 18 Pro- :ent zu verzeichnen.

Vlodellfall Liesing …

Dem Funktionswechsel der lnnen- ‘ezirke und vor allem des Stadtkerns von den gemischten Wohn- und Geschäftszwecken zu überwiegenden erwaltungs- und Handelsfunktionen steht der Kranz der Außenbezirke gegenüber, der sich zu einem angesehenen Wohngebiet entwickelt. Nun larf man aber nicht glauben, daß sich dieser Umwandlungsprozeß ein- reitlich vollzieht, vielmehr sind be- nerkenswerte regionale Unterschiede n den „Hoffnungsbezirken“ zu erkennen. Als Beispiel wollen wir den landbezirk Liesing im äußersten Sü- len des Wiener Verwaltungsgebietes mführen. Mit Freude kann der dor- :ige Bezirksvorsteher in seinem Tätigkeitsbericht erzählen, daß beinahe die Hälfte der Bezirksbevölkerung oder ast vier Zehntel der Haushalte in Wohnungen leben, die nach dem zwei- ten Weltkrieg erbaut worden sind. Immerhin hat die Wiener Stadtverwaltung in diesen Bereich seit 1945 über eine Milliarde Schilling hineingepumpt, um die Entwicklungsdifferenz zu den übrigen Stadtteilen halbwegs auszugleichen.

Von den ehemaligen acht niederösterreichischen Gemeinden, die heute den 23. Wiener Gemeindebezirk bilden, weisen jedoch nur vier eine Bevölkerungszunahme auf: es sind dies Inzersdorf, Mauer, Rodaun und Liesing. Die beiden letzteren Bezirksteile können sogar eine Bevölkerungszunahme von einem Fünftel und einem Viertel melden! Es zeigt sich, daß hier die von der Stadtverwaltung stark geförderte Wohnbautätigkeit und Aufschließung zu einer Umformung dieser Randzone am Fuße des Wienerwaldes in ein begehrtes Wohngebiet führt. Entscheidend für die gebietsweisen Differenzen in der Entwicklungsintensität ist jedoch die Tarifpolitik der Wiener Verkehrsbetriebe! wo die relativ tarifgünstige Straßenbahn eine Verbindung mit dem Stadtkern herstellt, kann ein wirkliches Wachstum des Stadtkörpers beobachtet werden. Wo aber tarifliche Unterschiede selbst bei günstiger Verbindung die allgemeine Entwicklung hemmen, wird man auch kein städtisches Wachstum erwarten können.

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