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In der „guten, alten Zeit” wohnte der Landarbeiter — damals hieß er noch „Knecht” — beim Bauer, der Industriearbeiter im Hause des Gewerken, und der Beamte versah den Dienst im eigenen Heim. Aber auch später noch, als sich die persönlichen Bindungen lockerten, suchte jeder in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu wohnen. Aenderte jemand seine Arbeitsstätte, so wechselte er bald darnach auch die Wohnung. Das Angebot freier Wohnungen erleichterte das.

Bald nach dem Inkrafttreten des Mieterschutzgesetzes änderten sich die Verhältnisse grundlegend: Jeder, der das Glück hatte, eine Wohnung sein eigen zu nennen, hielt zäh an diesem Schatz fest, gleichgültig, wo sich nun seine Arbeitsstätte befand. Denn er wußte, daß er in ihrer Nähe keine oder doch wenigstens keine so billige Wohnung finden würde. Dadurch aber wurde er gezwungen, täglich mindestens einmal zur und von der Arbeitsstätte zu fahren, also zu „pendeln”. Der Ausbau der Verkehrsmittel und die Einführung besonders verbilligter Tarife machten das möglich.

Natürlich tragen auch noch andere Umstände zur Zunahme des Pendelns bei: so der Charakter der Stadtmitte als Verwaltungs- und Geschäftszentrum, das Verlangen, im Grünen zu wohnen, gelegentlich auch der Wunsch, in einem Gebiet mit niederen Grundpreisen und weniger strengen Bauvorschriften ein Eigenheim nur mit eigener Arbeit und der Hilfe weniger Facharbeiter zu errichten.

Ueber den Umfang des Pendelns im Jahre 195 5 — inzwischen dürfte er sich noch vergrößert haben — unterrichtet ein Bericht des Oesterreichischen Statistischen Zentralamtes: „Wohn- und Arbeitsort der unselbständig Berufstätigen”: Im Jahre 195 5 arbeiteten in Oesterreich 895.687 von insgesamt 2,217.133 Unselbständigen nicht in ihrem Wohnort, in Wien nicht in ihrem Wohnbezirk! Das sind 40 Prozent gegen 14,5 Prozent in Westdeutschland! In dieser Zahl sind überdies weder die selbständig Erwerbstätigen noch die Schüler enthalten.

Der Anteil der Pendler an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen wechselt in den einzelnen Gemeinden außerordentlich stark. Er ist naturgemäß im 1. Wiener Gemeindebezirk, der immer mehr zur „City” wird, besonders groß: Hier arbeiten 127.591 Auswärtige, während von den 11.853 hier Ansässigen nur 43 88 in anderen Bezirken oder Gemeinden tätig sind. Verhältnismäßig viele Pendler werden in jenen Orten gezählt, in denen im Laufe der letzten Jahre große Industrieanlagen, aber nur wenige Wohnsiedlungen entstanden sind. Von den in Linz lebenden Unselbständigen arbeiten nur 612 außerhalb der Stadt, aber 31.004 auswärts Wohnende in Linz! In Deutsch-Wagram sind von 1248 ansässigen Arbeitnehmern 775 außerhalb der Gemeinde tätig, in der Gemeinde arbeiten 384 Auswärtige. In Lenzing arbeiten 1798 auswärts Wohnende, während 2199 wieder in der Nachbarschaft tätig sind. In Wattens stehen 2083 einheimischen 1650 fremde Arbeitskräfte gegenüber. Von den 29.889 im Mai 1957 in Vorarlberg gezählten Beschäftigten dürften rund 4000 in die Schweiz pendeln. Eine Untersuchung des Bevölkerungsaufbaues ergibt, daß das Zunehmen der Pendler mit der Abwanderung der landwirtschaftlichen Arbeiter parallel geht, gelegentlich auch mit dem Sinken der Zahl der bisher im Gewerbe Tätigen. Gegen diese Art der Landflucht kann nichts eingewendet werden, solange es sich um die Abschöpfung jenes Menschenüberschusses handelt, der im Kleinbauerndorf mit seinem sehr beschränkten Lebensraum kein auskömmliches Auslangen zu finden vermag. (Diese Entwicklung deckt sich mit dem Bestreben, die weitere Teilung der ohnedies oft kaum lebensfähigen Kleinbetriebe unter die Erben aufzuhalten.) Die durch das Pendeln geförderte Landflucht wird aber für das Dorf zur Gefahr, wenn ihm auch die Tüchtigsten, die künftigen Hoferben und die Mütter der kommenden Bauerngenerationen, entzogen werden, also nicht nur die „Zinsen”, sondern auch Teile des „Kapitales” des bäuerlichen Bevölkerungsstockes: Daß dies heute schon oft in sehr bedrohlichem Umfange der Fall ist, geht deutlich aus der Feststellung hervor, daß allein in der Zeit vom 31. Mai 1956 bis zum 31. Mai 1957 die Zahl der versicherten Landarbeiter von 178.200 auf 168.712 zurückging!

Welchen Einfluß hat nun das Pendeln auf den Pendler selbst? Durch die Fahrt und die Wartezeiten verliert er Zeit, die der Familie, der Hauswirtschaft, häufig auch der notwendigen Ruhe und Erholung abgezweigt wird. Der Pendler ist, insbesondere bei schlechter Witterung, gesundheitlich gefährdet, besonders dann, wenn ihm die Möglichkeit fehlt, die nassen Kleider und Schuhe zu wechseln. Auf der Fahrt fällt er, unausgeschlafen oder ermüdet, übererregt oder abgestumpft, viel leichter als andere Verkehrsunfällen zum Opfer. Seine Nerven werden durch das frühe Aufstehen und die Abhängigkeit von nicht immer pünktlichen, oft kungen zuerst abgebaut, da sie ja über ein, wenn auch sehr bescheidenes zusätzliches Einkommen verfügen. Sie kommen um lieberstunden, Nebenverdienste und bei Arbeitslosigkeit um neue Beschäftigungsmöglichkeiten, wie der große Hundertsatz der einstigen Pendler unter den Arbeitslosen erkennen läßt. Der Pendler stellt in manchen Fällen keine vollwertige Arbeitskraft dar. Er kommt manchmal müde, oft verspätet und ausgefroren zur Arbeit und kann, da er nur zu gewissen Stunden zur Verfügung steht, für außerordentliche Inanspruchnahmen, zum Beispiel für die Fabriksfeuerwehr, nicht herangezogen werden. Freilich braucht er nur selten eine Wohnung und kann leichter nicht nur abgebaut, sondern auch wiedereingestellt werden. Der Pendler belastet zu den Stoßzeiten die Verkehrsmittel, ohne ihnen, infolge der Begünstigungen, entsprechende Einnahmen zu bringen.

Dem Dorf wird der Pendler entfremdet; er stört die Einheit der dörfischen Gemeinschaft und verliert — trotz seines Hausbesitzes! — die Bindung zu Boden und Heimat, ohne am Arbeitsplatz eine neue zu erwerben.

Das Pendeln im heutigen Umfang ist nach dem Gesagten eine unerfreuliche Zeiterscheinung. Sie konnte sich nur deshalb so entwickeln, weil das Zweckmäßigste, die Unterbringung der Arbeitnehmer in der Nähe der Arbeitsstätten, vielfach unmöglich geworden ist. Es muß daher der Bau von Wohnungen und Eigenhäusern an Orten mit vielen Beschäftigungsmöglichkeiten gefördert werden. Dagegen müssen in den Gegenden mit einem Ueberschuß an Unbeschäftigten neue Verdienstmöglichkeiten geschaffen werden. Hier verdienen die Bemühungen des Bundesministeriums für soziale Verwaltung und der Landesregierungen von Niederösterreich und dem Burgenland — wo das Problem am aktuellsten ist — vollste Beachtung und Förderung. Vorbildlich erscheinen die in Paris getroffenen Maßnahmen. Ausgehend von dem Gedanken: „Besser Leute mit Eigenheim und Garten beschäftigen, als in der Stadt Kommunisten züchten”, untersagt man die Erweiterung bestehender Fabriken überhaupt und föY’d’ei’t ‘ die” Schaffung neuer Anlagen am richtigen Platz.

Dem stehen freilich Schwierigkeiten gegenüber, die aber durch Steuerbegünstigungen, Kredite und Verbesserung der Verkehrsverhältnisse verringert werden könnten. Jedenfalls macht das Schädliche des heutigen Zustandes besondere Maßnahmen notwendig. Sie sind auf weite Sicht auch wirtschaftlich.

überfüllten Fahrzeugen in Anspruch genommen, wodurch er auch für Betriebsunfälle anfälliger wird. Der Pendler ist ferner gezwungen, Mahlzeiten außerhalb des Hauses, häufig in Gasthäusern, einzunehmen. In diesen Fällen kommen zu den Mehrkosten oft auch noch Ausgaben für Alkohol und Kartenspiel. Zusammen mit den Fahrtkosten — und bei den „Wochenpendlern”, die nur an Sonntagen nach Hause kommen, auch noch die Auslagen für die zweite Wohnung — ergeben sich nicht unwesentliche Verringerungen des Einkommens.

Den Bahnfahrern wird ferner häufig die Möglichkeit genommen, an Bildungsveranstaltungen teilzunehmen, Jugendlichen die Gelegenheit, Lehrwerkstätten zu besuchen. Dadurch bleibt ihnen von vornherein der Aufstieg zum Facharbeiter verschlossen.

Pendler, besonders solche, die einen kleinen Garten besitzen, werden bei Betriebseinschrän

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