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Trabantenstädte für London

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London ist dabei, acht bis zehn Satellitenstädte mit je 6000 bis 8000 Einwohnern zu schaffen. Diese Städte werden nun nicht willkürlich als Siedlungen gebaut, sondern man sucht zuerst bestimmte Industriegruppen zu interessieren. Ist das erreicht, so werden Erzeugungsstätten und Wohnbauten zugleich errichtet. So entstehen selbständige Miniaturstädte mit eigenen kulturellen, Verwaltungs- und religiösen Zentren.

Dieses Verfahren bietet den Vorteil, daß die Einwohnerschaft im großen und ganzen ihre Arbeitsplätze an Ort und Stelle findet und nicht täglich lange Fahrzeiten zu absolvieren hat. Ein Gegenbeispiel: Vor zwei Jahren baute Hamburg die Siedlung Hohnerkamp für 5000 Einwohner. In Hohnerkamp gibt es keinerlei Industrie. Fast alle Einwohner sind auf eine viertelstündlich verkehrende Bahn angewiesen, mit der sie mindestens 40 Minuten weit fahren müssen. Diese Bahn ist immer sehr überfüllt und im Winter ungeheizt. Wer sie benützt, kommt schon nervös und ermüdet zur Arbeit und erschöpft nach Hause zurück.

Die Londoner Methode bezweckt aber noch etwas anderes. In London werden täglich sechs Schulkinder durch .Verkehrsunfälle getötet. In den Satellitenstädten nun, die im Umkreis von 40 Kilometer Entfernung vom Londoner Stadtzentrum entstehen, werden die Volksschulen so errichtet, daß sie von den Kindern auf Fußwegen erreicht werden können, ohne daß dabei eine Verkehrsstraße überquert werden muß. Außerdem sind, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen, alle Straßenkreuzungen dadurch vermieden, daß die Straßeneinmündungen versetzt sind.

Diese Satellitenstädte werden in England als ein Kulturfaktor ersten Ranges angesehen. Außer der Einsparung der langen Fahrzeiten zur Arbeitsstätte, die der Freizeit zugutekommt, ist es in größerer Entfernung von der Großstadt leichter möglich, größere Wohnungen zu bauen, weil die Grundstückpreise erschwinglicher sind. Während Neubauwohnungen in Oesterreich und Deutschland im Durchschnitt der letzten Jahre von 41 auf 54 Quadratmeter pro Wohnung vergrößert wurden, erreicht England eine Mittelgröße von 70 bis 80 Quadratmeter. Das bringt viele Annehmlichkeiten mit sich und gibt leichter die Möglichkeit, die Wohnung zu einem wirklichen Heim zu machen, in dem man sich wohlfühlt und gerne den Feierabend und die freien Tage verbringt.

Während auf dem Kontinent der private Wohnungsbau immer noch eine geringe Rolle spielt, konnte er sich in England (aber auch in den USA) gut entwickeln. In diesen beiden Ländern ist man daran gewöhnt, rund ein Viertel seines Einkommens für die Miete aufzuwenden, während in Oesterreich (und in Deutschland nach Kriegsende) im Durchschnitt kaum mehr als sechs bis acht Prozent infolge der Mieterschutzgesetze dafür aufgewendet werden bzw. wurden.

Der öffentliche Wohnungsbau jedoch, der nicht selten mit den Interessen politischer Parteien verquickt ist, sucht meist möglich große Zahlen von Neubauwohnungen zu erreichen, die sich in den Statistiken gut ausnehmen und für die Wahlpropaganda verwendet werden können. Wachsende Familien haben in solchen Wohnun gen freilich keinen Platz. Sobald erst — und so weit ist es schon — ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in alten oder neuen Wohnungen, die zu klein sind, hausen muß, kann man sich leicht ausmalen, welchen Einfluß dies hat. Erwachsene wie Jugendliche flüchten aus diesen Wohnungen und speisen zumeist die Vergnügungsindustrie, die wohl kaum Kulturwerte vermittelt.

Als Hauptargument gegen den Bau größerer Wohnungen werden immer die „zu hohen Kosten” angegeben. Doch davon sollte man erst dann reden, wenn wirklich alle Möglichkeiten zu Einsparungen konsequent benützt wurden. Es hat sich bei uns noch nicht herumgesprochen, daß es eine eigene Bauwissenschaft gibt, die unter anderem die Normierung von Einzelteilen für den Hausbau entwickelt hat. So ist es möglich, Bauelemente in der Massenfabrikation herzustellen, die bei fast jedem Neubau verwendet werden können und /-dementsprechend viel billiger kommen. In den USA und in England sind ganze Stäbe von Ingenieuren lediglich damit befaßt, solche und ähnliche Programme zur Verbilligung der Bautätigkeit zu entwickeln.

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