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Ministerium für alles

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Gut zwei Drittel aller arbeitsfähigen Österreicher sind als Arbeitnehmer und Selbständige in der Industrie, im Gewerbe und im Handel tätig. Sie und die Leute in der Land- und Forstwirtschaft ermöglichen allen anderen, Richtern und Eisenbahnschaffnern, Lehrern und Friseuren, und all den übrigen, auf ihre Weise das nationale Leben zu bereichern und auf einer höheren Basis in Schwung und Ordnung zu halten. Das letztere obliegt in bezug auf Industrie, Gewerbe und Handel und anderem dem größten aller unserer Ministerien. Es heißt zu Unrecht Ministerium für Handel und Wiederaufbau. Rund 45 seiner 53 Abteilungen und eine dieses Verhältnis noch übersteigende Zahl der 8000 Beamten des Ministeriums haben nichts mit Handel zu tun — auch nicht in staatsadministrativer, kontrollierender oder sonstiger HinsioHt. Was jedoch an Wiederaufbau in Österreich zu tun war, ist auf den meisten Produktionsgebieten vollzogen; es gibt nur noch den verbliebenen Teil der zerstörten und beschädigten Wohnhäuser aufzubauen, das geschieht durch den im Rahmen des Ministeriums autonom wirkenden Wohnhaus-Wiederaufbaufonds.

Wie aus der unten abgebildeten Geschäftseinteilung zu ersehen ist, ist der überwiegende Teil des Ministeriums mit Aufgaben beschäftigt, die öffentliche Arbeiten und technische und andere fachliche Hilfe für alle möglichen Teile der privaten und staatlichen Wirtschaft beinhalten.

Es deshalb ein Ministerium der Wirtschaft und der öffentlichen Arbeiten zu nennen, geht auch nicht.

weil es durchaus nicht eine so prin- zipale Rolle gegenüber der Wirtschaft einnimmt. Es ist zwar Enter- preneur bedeutender öffentlicher Arbeiten, aber nicht einmal Administrator der Wirtschaft (wenn man von der indirekt bewirkten Tätigkeit des Wohnhaus-Wiederaufbaufonds absieht). Es ist es auch nicht in bezug auf die verstaatlichte Wirtschaft — die be kanntlich der von Vizekanzler Pittermann geführten Sektion 4 des Bundeskanzleramtes untersteht.

Über die mit diesen Eigenheiten verknüpfte prinzipielle Situation und Problematik des Ministeriums wird noch später zu sprechen sein. Jetzt aber schon kann man feststellen, daß es im großen und ganzen aus zwei grundsätzlich verschiedenen Teilen besteht, die praktisch zwei ziemlich voneinander unabhängige Ministerien sein könnten: einem, das mit vielen wichtigen öffentlichen (Bauwesen) und spezifischen technisch-fachlichen Arbeiten (zum Beispiel Eich- und Vermessungswesen) beschäftigt ist, und einem anderen, das in der Anlage und Auffassung ein klassisches Handelsministerium wäre, wenn nicht zeitliche und gesellschaftliche Umstände bestünden. die andersgeartet sind als jene, unter denen klassische Handelsministerien existiert haben.

Hierzu ist übrigens zu sagen, daß das Ministerium (das am 7. Dezember seinen hundertjährigen Bestand feiert) immer wieder seine Struktur und seinen Aufgabenkreis, verschiedenen Umständen entsprechend, geändert hat. Es hat schon vor 1861, nämlich 1848 bis 1859, in verschiedenen Formen bestanden, hatte zeitweise das Eisen bahn-, Post- und Telegraphenwesen, lange Zeit hindurch auch Land- und Forstwirtschaft unter sich, und gebar außer diesen Ressorts auch eine sozialpolitische Sektion, welche 1917 zum ersten Ministerium für soziale Verwaltung heranwuchs. In der Ersten Republik hatte das Handelsministerium übrigens das gesamte Verkehrswesen unter sich.

1945 gab es — der Übergangssituation entsprechend — zuerst zwei Staatsämter: eines für Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr und eines für öffentliche Bauten, Übergangswirtschaft und Wie3eraufbau. Auf diese folgte später ein Ministerium für Handel und Verkehr, aus dem 1946 das Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau in seiner heutigen Form entstand. Von diesem soll zunächst der erwähnte erste Teil, welcher die öffentlichen Bauten und spezifischen technisch-fachlichen Arbeiten vollführt, beschrieben werden.

Der größte Hausbesitzer von Österreich

Über rund 140.000 Häuser aller Arten gebietet auf die eine oder andere Weise die Sektion 1. Eine Weise: Alle dem Bunde gehörenden Gebäude und Liegenschaften, zum Beispiel die ehemaligen Schlösser des Kaiserhauses (nicht alle), inklusive jedoch die Menagerie Schönbrunn. Alle Bundestheater. Alle jetzigen und ehemaligen militärischen Gebäude und Liegenschaften, aber auch zivile und militärische Flugplätze. Alle Amtsgebäude des Bundes, die Mittelschulen, Hochschulen und andere Bundeslehranstalten. Der Jahresbericht des Ministeriums enthält einen geradezu schmerzlichen Aufschrei der für die Bundesgebäudeverwaltung verantwortlichen Ministerial- und Sektionsräte: für die Erhaltung nur der zivilen Liegenschaften. die rund 2S.25 Millionen Quadratmeter umbauten Raumes umfassen, brauchen sie mehr als zwei Milliarden Schilling. Bekommen tun sie: 200 Millionen. „Kommentar überflüssig!" steht in dem sonst so amtlich-zurückhaltend abgefaßten Bericht. Auch bei den Schulen sieht es recht arg aus. Für den Wiederaufbau, die Generalsanierung und für Erhaltungsarbeiten an den Schulgebäuden, die dem Bund unterstehen, wurden 1945 bis 1960 rund 700 Millionen Schilling ausgegeben. Nötig wären auf zwölf Jahre hinaus alljährlich 200 Millionen für diesen Zweck allein. Für den Neubau von Mittelschulen wurden von 1945 bis 1960 546 Millionen, für Hochschulen und sonstige Kulturbauten 180 Millionen ausgegeben, für den Wiederaufbau der Bundestheater, Museen, Schlösser und dergleichen rund 820 Millionen. Insgesamt wurden für den Wiederaufbau auf dem Kultursektor seit 1945 1,5 Milliarden Schil- . Iing ausgegeben. Es ist alles viel zuwenig. Von 1914 bis 1945 wurde in ganz Österreich eine Mittelschule neu gebaut. Dadurch besteht ein ganz krasser Gegensatz zwischen den zu meist vor 50 bis 70 Jahren erbauten Schulen und denen von heute. Man mute einer vielköpfigen Familie zu, in einer engen, finsteren und stickigen Kaserne zu hausen, indes einer ihrer Angehörigen in einer schönen, luftigen und sonnigen Villa mit großem Garten und Tennisplatz leben darf. Der Gegensatz bricht jedem das Herz, dessen Kinder in die alten Schulen gehen müssen. Könnte man jene — oft sehr massiv und solid gebauten Schul- kasernen nicht an Interessenten für andere Zwecke verkaufen und das Geld für den Bau neuer, zeitgemäßer Schulen verwenden? Es dürfte schließlich überhaupt keine Schule mehr im Stadtinneren geduldet werden, weil dort niemals der Platz für die zu jedem Schulgebäude gehörigen offenen Turn- und Sportflächen vorhanden ist. Von Kindern und Jugendlichen zu verlangen, daß sie den Teil ihres Lebens, in dem es sich entscheidet, ob sie gesunde, kräftige Menschen oder müde und schwächliche Großstadtpflänzchen werden, in engen, ver- stunkenen Klassenzimmern und in den Pausen auf ebensolchen Korridoren verbringen sollen, ist ein Verbrechen, das Jahrzehnte hindurch an einer Generation nach der anderen begangen wurde und wird.

Einen beträchtlichen Teil der

140.000 Häuser der Sektion 1 stellen jedoch auch die von ihr beaufsichtigten Neu- und Wiederaufbauten des autonomen Wohnhauswiederaufbaufonds dar, der solange über jene Wohnungen verfügt, als die Hypotheken, mit deren Hilfe ihr Bau finanziert wurde, nicht abbezahlt sind. Eine erstaunlich hohe Zahl der Wohnungsinhaber tilgt jedoch die Hypotheken sehr schnell, obwohl sie 75 Jahre dafür Zeit hätten. Das hat mehrere Gründe: 1. Fünfzigprozentige Tilgung der Hypotheken durch Ankauf von Wohnbauanleihen. 2. Der Wunsch, über die Wohnung frei disponieren zu können. 3. Das Bestreben, sie den Kindern „grundbuchfrei" vererben zu können. Die Sektion 1 sorgt nicht nur für Bauten und das Bauen desBundes auf fester Erde, sondern auch für die technische, bauliche und hygienische Betreuung unserer Wasserwege (mit Aus nahme der Verkehrsmittel dortselbst).

Bescheidener als das Königreich der Sektion 1, aber dennoch recht imposant, ist die mit den österreichischen Bundesstraßen und -brücken befaßte Sektion 2. Sie betreut derzeit Straßen mit insgesamt 9241 Kilometer Länge. 60 Prozent dieser Straßen besitzen heute bereits schwere und halbschwere Beläge, während 29 Prozent noch nicht staubfrei sind. Straßenbau, insbesondere Autobahnbau, ist nicht billig. Ein Kilometer der letzteren kostet 20 bis 40 Millionen Schilling. Das ermöglicht nicht zuletzt der unbekannte Mann, der den genialen Einfall hatte, den Straßenbau durch, die Motorisierten selbst, mit Hilfe der Mineralölsteuer bzw. -Zuschlag, finanzieren zu lassen. Es wäre zu wünschen, daß jemandem etwas Ähnliches zur Finanzierung unseres Kultur budgets einfällt. Zum Beispiel könnte sich der Staat für die hochqualifizierten Fachkräfte, die uns vom Ausland weg- engagiert werden, eine Ablöse für die ausgelegten Ausbildungskosten (bei einem Diplomingenieur 100.000 S) zahlen lassen — nicht anders wie die Fußballklubs für exportierte Spieler.

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