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Gesucht: ein neuer Herkules

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Wie es bei ungewöhnlichen Ereignissen immer geschieht, hat der Rücktritt des Vorsitzenden des Budgetausschusses in der Abgeordnetenkammer, Ugo La Malfa, eine Sensation hervorgerufen. Es kommt nicht alle Tage vor, und eigentlich niemals, daß ein Minister oder sonstwie hochgestellter Politiker freiwillig seinen Posten verläßt, um gegen irgendeinen Mißstand zu protestieren. Um auf einen Präzedenzfall zu stoßen, müßte man bis auf das erste provisorische Staatsoberhaupt der italienischen Republik, auf Enrico De Nicola, zurückgehen.

Kampf den „Gesetzchen“

Noch merkwürdiger ist der Grund, warum der republikanische Exminister Ugo La Malfa demissioniert hat: Das Parlament hatte wieder einmal einige jener „leggine“, jener „Gesetzchen“ beschlossen, mit denen da und dort dem Drängen irgendwelcher Beamtenkategorien nach Gehaltserhöhungen nachgegeben wird, ohne sich um die Deckung der Mehrausgaben zu bekümmern. La Malfa weiß, daß das Hauptproblem der Wirtschaft Italiens nicht mehr die „Konjunktur“ ist — das Wort hat im Italienischen eine negative Bedeutung —, aus der man sich mühsam emporrichtet, sondern die fortgesetzte, unkontrollierte Erhöhung der öffentlichen Ausgaben, in erster Linie für Personalspesen. Der zwölfte Minister für die Verwaltungsreform, der Sozialdemokrat Luigi Preti (scherzhaft von seinen Freunden Ludwig XII. genannt), hat das Odium eines Beamtenhassers auf sich genommen und begonnen, das Problem der Reform organisch zu sehen. In seinem Plan, der viel gelobt, aber von niemandem begünstigt wird, haben die „leggine“, die nur Unordnung in den Staatshaushalt bringen, keinen Platz, da sie einzelne Kategorien begünstigen, während die Reform gleiche Kriterien der Aufnahme der Staatsangestellten, ihrer Beförderung, Besoldung und Pensionierung in allen Zweigen der öffentlichen Verwaltung einführen möchte, wo in dieser Hinsicht das Chaos schlechthin herrscht. Es genügt, darauf zu verweisen, daß die Besoldung der öffentlichen Beamten und Angestellten derzeit durch 620 „Gesetzchen“ geregelt wird oder was man so geregelt nennt.

La Malfa ist auch in anderer Beziehung eine einzigartige Persönlichkeit: er ist seit Menschengedenken der einzige italienische Minister, der zugegeben hat, daß er geirrt hat. Sein Irrtum hat darin bestanden, in der letzten Phase des letzten Kabinetts Fanfani, als im Ministerrat Dutzende „leggine“ beschlossen wurden, um die Gunst gewisser Wählerkreise zu erringen, diesem Vorgehen nicht genügend Widerstand entgegengesetzt und damit zu der Finanzkrise des Jahres 1963 beigetragen zu haben. Noch folgenschwerer hatte sich die Nationalisierung der Elektrizitätswirtschaft ausgewirkt, die La Malfa ebenfalls warm befürwortet hatte, obwohl er die Folgen nicht recht voraussehen konnte. Mit der Nationalisierung der einzelnen Elektrizitätsgesellschaften und ihrer Zusammenfassung im Staatsbetrieb ENEL sind die Produktionskosten in kürzester Zeit um 40 Prozent angestiegen, weil die Angestellten und Beamten der Ansicht sind, daß die Profite zur Gänze ihnen zustehen und wo sie nicht ausreichen, die immer neuen Forderungen zu stillen, der Staat eben Schulden machen soll, wie er es bei seinen anderen Betrieben tut. Während die Italiener die privaten Gesellschaften mit schwerem Geld zu entschädigen hatten, sind die angeblichen finanziellen Vorteile der Nationalisierung für die Allgemeinheit ausgeblieben. Versuche des Staates, den Angestellten der ENEL ein Nein entgegenzusetzen, haben diese mit einem Generalstreik beantwortet, unbekümmert um die Folgen auf die industrielle Produktion.

Kein Einzelfall

Die ENEL ist auch kein Einzelfall. Sind nicht tagelang die Ein-und Ausfuhren stillgelegt worden, mit immensen Einbußen für die Wirtschaft, weil eine kleine Gruppe von Zollbeamten sich benachteiligt betrachtet hat? Hat es nicht einen allgemeinen Streik der Eisenbahner gegeben, weil einigen hohen Beamten als Entschädigung für Mehrarbeit eine Sonderprämie bewilligt worden war? In jedem dieser Fälle stand das Streikobjekt in keinem Verhältnis zu der massiven Aktion und den Konsequenzen für das allgemeine Wohl. Man kann nicht sagen, daß es sich hier um Detailprobleme handelt. Die Verwaltungsreform erfordert eine gesetzliche Regelung des Streikrechts, die bisher fehlt, obwohl sie die Verfassung verlangt; die Regelung des Streikrechts kann nicht ohne Mitwirkung der Gewerkschaften erfolgen, deren größte den Direktiven der kommunistischen Partei folgt. Ohne Mitwirkung der Gewerkschaften bleibt die Wirtschaftsplanung schließlich reine Utopie.

Hundert Jahre „Verwaltungsreform“

Von der Verwaltungsreform wird seit einem Jahrhundert gesprochen, genau seit 1862, ohne daß man zu einem Ergebnis kam. Das war auch unmöglich, weil die beiden gesteckten Ziele einander widersprachen. Auf der einen Seite wollte man durch Vereinfachung und Reorganisation der Verwaltungsdienste die „effl-ciency“ erhöhen und die Kosten verringern; auf der anderen durfte auch nicht ein Beamter von seinem Schreibtisch entfernt werden. Die Situation ist heute die, daß im Haushaltsplan 1966 für die Löhne, Gehälter und Pensionen für die öffentlichen Bediensteten, für alle also, die ihre Gehaltsüberweisung oder Lohntüte vom Staat bekommen, 38 Prozent der Gesamteinnahmen aufgewendet werden müssen, in absoluten Ziffern macht das 2700 Milliarden Lire. Die unterste Einkommensgrenze beträgt 75.000 Lire monatlich für einen unverheirateten, kinderlosen Bürodiener. Rechnet man noch die sogenannten autonomen Betriebe, die Staatseisen-bahnen, den Postdienst, das Tabakmonopol, die Straßenverwaltung usw., hinzu, dann verzehren die Personalspesen 51 Prozent der Einnahmen. In den lokalen Verwaltungen, in den Provinzen und Gemeinden, ist die Lage noch schlimmer. Das Defizit der Stadt Rom macht allein ein Neuntel des Gesamtdefl-zits sämtlicher italienischer Gemeinden aus. Die Städte des Südens sind oft gnug nicht in der Lage, ihre Angestellten zu bezahlen. Aber Gehaltserhöhungen werden fast niemals verweigert. Man hat den Eindruck, daß die verantwortlichen öffentlichen Verwalter, vom Gemeinde- bis zum Ministerrat, nur aus dem Grund, weil sie nicht persönlich in die Tasche greifen müssen, glauben, daß die Rechnungen nicht aufzugehen brauchen. La

Malfa, der beobachtet hatte, daß trotz seinen Remonstrationen und Beschwörungen das System fortdauern soll, ist nun zurückgetreten.

Da das relative Ansteigen der öffentlichen Ausgaben aber zu einem Lebensproblem für die italienische

Wirtschaft geworden ist, kann die Regierung an der Reform nicht vorbeigehen. Ansätze dazu sind unternommen worden. Man hat bei den

Generaldirektoren der öffentlichen Verwaltung begonnen und ihr Einkommen limitiert; ein Gesetzesantrag der christlich-demokratischen Abgeordneten Sullo und Forlani sieht vor, daß die vom Parlament oder vom Ministerrat ernannten Leiter öffentlicher Betriebe, insgesamt dürfte es sich um 2500 Personen handeln, nicht länger als acht Jahre den Posten bekleiden dürfen, um zu verhindern, daß diese Betriebe, Ämter oder Gesellschaften zu ihrer persönlichen Domäne werden, wie oft beobachtet werden konnte. Der Ministerrat hat am vergangenen 17. November eine durchgehende Reform des Verteidigungsministeriums beschlossen, einbegriffen die Neuordnung der Generalstäbe, der juridische Status und die Laufbahn des zivilen Personals. Man entdeckte plötzlich, daß an Stelle der bisher bestehenden drei Staatssekretariate auch ein einziges genügt.

Wer inspiziert die Inspekteure?

Aber wir befinden uns doch erst am Anfang. Es bleibt das meiste noch zu tun. In der Gehaltstüte der Staatsangestellten herrscht unbeschreibliche Konfusion: dag Grundgehalt des Direktors des Tabakmonopols beträgt 242.000 Lire, aber in Wirklichkeit erhält er jeden Monat 1,262.000 Lire, der in der gleichen Rangklasse stehende Generaldirektor der Post- und Telegraphenverwaltung nur 539.000, der im Finanzministerium um 431.000. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, es sollen die vielen Super-kontrollen wegfallen, die den Apparat so schwerfällig manchen, und an ihre Stelle soll die erhöhte Verantwortlichkeit des Beamten treten. Heute trägt der Minister alle Verantwortung, auch für jene Dokumente, die er niemals zu Gesicht bekommen hat.

Selbst Herkules würde scheitern!

Was nützen die Inspektionen, wenn die Inspekteure nicht weniger korrupt sind als die Inspizierten? Was nützt es, einen Funktionär des Obersten Rechnungshofes zur Kontrolle eines Staatsbetriebes abzukommandieren, wenn er von dem kontrollierten Betrieb Einkünfte bezieht? Die geringe Nützlichkeit der Inspektionen hat der Skandal des Zollbeamten Mastrella erwiesen, der Milliarden unterschlagen konnte, ohne daß es den Inspekteuren aufgefallen wäre; der Skandal Aliotto, Nuti und Konsorten hat gezeigt, daß das nationale Institut für Sozialversicherung (INPS) ein Augiasstall ist, der mehr als eines Herkules bedürfte, um entmistet zu werden. Aliotta ist jener Beamte des INPS, der vom Institut zur Befürsorgung tuberkulosekranker Kinder eine tägliche Kopfrate von 1500 Lire einkassiert und die Betreuung der Kinder dann an geistliche Institute für eine Kopfrate von 600 Lire weiterverpachtete. Die Differenz hat er eingesteckt. Der „Inspekteur“ Nuti hat nicht nur von dem Geschäft gewußt, sondern auch mitbeteiligt sein wollen.

In solchen Fällen pflegten die alten Römer zu, sagen, daß auch Skandale ihr Gutes haben: sie bringen wenigstens doch Veränderungen mit sich.

AN DER SCHWELLE EINES NEUEN JAHRES mahnt die Weihnacht zur Besinnung und Einkehr in einer sich ständig verändernden Welt!

Der Fortschritt der Technik und neue Erkenntnisse der Wissenschaft erfordern stets eine genaue Orientierung. Der Standpunkt des arbeitenden Menschen in der modernen Gesellschaft muß immer wieder neu fixiert werden.

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