6579307-1951_08_02.jpg
Digital In Arbeit

Ein Wagnis zur Wahrheit

Werbung
Werbung
Werbung

Verschiedene Gesellschaftskomplexe, wie Militär, Beamtentum, Politik und andere, treten uns in der Staatengeschichte als staatserhaltende Elemente entgegen; seit Kaiser Maximilian I., insbesondere aber seit Kaiserin Maria Theresia, ist für Österreich und sein Staatsleben die Beamtenhierarchie die Dominante gewesen. Jene bildete schon 1848 neben dem Militär eine letzte Klammer gegen den drohenden Reichsverfall. Auch ist wohl noch in Erinnerung, daß die k. k. Bürokratie, ebenso wie die k. u. k. Armee, im Herbst 1918 die letzte Bastion gewesen war, auf der die Idee der großen, wirtschaftspolitisch konsolidierten Donaumonarchie ihre Fahnen noch aufrechthalten konnte, als die Nationen Wien schon den Rücken gekehrt und auch die nichtdeutschen Statt-haltereien sich schon ihren Volksräten unterstellt hatten. Damals war die dem kleinen Österreich verbliebene Bürokratie der einzige Stützpfeiler, an dem sich das neue Staatswesen emporranken konnte. Im Jahre 1945 war die Sache insofern einfacher, als die Wortführer der demokratischen Einigung mobil waren und im Zusammenwirken mit der Bürokratie die zweite Republik rasch in den Sattel setzen konnten. In beiden Fällen der Staatswerdung hat die österreichische Bürokratie eine fast tausendjährige Tradition der Staatstraue hochgehalten.

Will man nun nachforschen, warum die österreichische Bürokratie bis heute hiefür wenig Dank erfahren hat, warum, wie in anderen Staaten, so auch in Österreich der Bürokratie gegenüber eine latente Animosität herrscht — im Deutschen Reich nach Bismarck sprach man von „Reichsverdrossenheit“ —, so muß man das Wesen der Bürokratie, der Repräsentantin der Zwangsgemeinschaft Staat, näher verstehen. Sicherlich ist die Bürokratie zwiespältig konstruiert, es mischen sich in ihr Zuverlässigkeit mit Herablassung, Pedanterie mit Pünktlichkeit, Formalismus mit geistiger Unbeweg-lichkeit. Es gibt auch Degenerationserscheinungen, die Arbeit wird dann zur reinen Routine, die Geistigkeit kann verblassen und damit, wie in vergangenen Dezennien, die Bürokratie dem Spotte der Witzblätter ausliefern. Im allgemeinen wird das tatsächliche Bild der Bürokratie ein anderes sein; es wird im einzelnen Beamten die seinen Beruf ehrenden Tugenden von Pflichtbewußtsein und Gemeinsamkeit hervortreten und die Bürokratie als eine der festesten Stützen der Gesellchaft erscheinen lassen. Für die der österreichischen Bürokratie innewohnende Kulturkraft zeugt eine lange Reihe von Gelehrten und Dichtern, die aus ihr hervorgegangen sind. Grillparzer, der größte österreichische Poet, war Hofrat im Finanzministerium; von ihm setzt sich die Reihe fort über J. N. Vogel, Gabriel Seidl, Freiherr v. Zedlitz, Hermann von Gilm, Eduard Bauernfeld, Adalbert Stifter, Ludwig Anzengruber, J. L. Deinhardstein, Stephan Cokorac v. Kamare, Thaddäus Rittner, Conte Scapinelli, Richard v. Schaukai, Fr. v. Trentini, Anton Wildgans bis zu Ernst Lothar. Ebenso entstammten der letzte Bundespräsident wie auch sein Vorgänger der österreichischen Beamtenschaft.

Dieses nicht wegzuwischende Persönlichkeitsbild der österreichischen Bürokratie führt zur Erkenntnis, daß die Ursachen für manche ihrer Schattenseiten nicht innerhalb, sondern außerhalb ihres Wesens gelegen sind, und daß sie ebenso gut in einem absoluten Regime auftreten können wie in der politischen Demokratie oder auch in einem privaten Großbetrieb. Man darf nicht übersehen, daß die Arbeit der Bürokratie in Österreich in vielen Belangen aus ihrer einstigen Rolle schöpferischer Betrachtung verdrängt worden ist. Auch geht man an scheinend bei uns von dem Axiom au,daß eine allzu große Bewegungsfreiheit des Beamten nur zu leicht in Willkür ausarten könnte; man legt der Bürokratie von allen Seiten her Zügel an. Da gibt es „Mitspracherechte“ der interessierten Dienststellen; da gibt es vorbehaltene Genehmigungen bis zum Hauptausschuß des Nationalrates hinauf, politische Interventionen mit oder ohne Proporz, Beeinflussungen durch die Besatzungsmächte; da gibt es Instanzen der Kontrolle, auch der Rechnungskontrolle, die ab und zu eine schöpferische Betätigung des Beamten ausschalten. Weiter ist der Zuständigkeitsbereich auch heute oft schwankend, eine Kompetenzentflechtung schon infolge des politischen Proporzes kaum vorwärts zu bringen, eine Rationalisierung unseres auf zwei Jahrhunderte zurückreichenden Gesetzesvolumens ausständig. Es ist daher kaum zu verwundern, daß Naturen von initiativer Kraft der Bürokratie bereits in weitem Bogen ausweichen.

Erschwerend tritt ein österreichisches Spezifikum dazu: die Zurückdrängung des bürokratischen und parlamentarischen Einflusses durch die ständische Kompetenz. Für die Verfassung und Tex-tierung von Gesetzentwürfen, wie überhaupt für die gesamte Gesetzestechnik, sollte ausschließlich der Ministerial-beamte in Betracht kommen, der jenseits aller Gruppeninteressen für eine notwendige Objektivität bürgt. Mit anerkennenswerter Offenheit schrieb vor drei Jahren der heutige Bundesminister Doktor Margaretha: „Man kann eben von einem noch so tüchtigen und fleißigen Gewerkschaftsbeamten, selbst wenn er die Materie voll beherrscht, nicht verlangen, daß er ein Gesetz formulieren soll. Dies gilt übrigens nicht nur von den Gewerkschaftsbeamten, sondern auch von den mehr oder weniger juristisch gebildeten Beamten oder Funktionären verschiedener anderer Interessenvertretungen, die die Schöpfer solcher Initiativanträge in der Regel sind.“ Aus der Tatsache, daß das gesetzgeberische Konzept in Österreich heute von der Bürokratie in den Bereich der Gewerkschaften und Wirtschaftskammern, also markanter Interessenvertretungen, verlegt ist, lassen sich nicht nur viele Reibungen und Un-st'mmigkeiten in der Staatsverwaltung erklären, sondern auch der wirtschaftliche Niedergang der in der „Ständigen Wirtschaftskommission“ nicht vertretenen geistig arbeitenden Kreise, welche dem Ubergewicht der numerisch und organisatorisch stärkeren Bevölkerungsgruppen erliegen.

Es gibt weiter dem Wortlaut und Geiste des Bundesverfassungsgesetzes nicht entsprechende Erscheinungen in der Praxis unserer Gesetzgebung. Hiezu gehört die Übertragung von Aufgaben der staatlichen Verwaltung auf Selbstverwaltungskörper, soferne diese unter Ausschaltung staatlicher Behörden Entscheidungen treffen können, anstatt auf eine Rolle als Hilfsorgan für bestimmte staatliche Verwaltungsaufgaben beschränkt zu sein. Besonders bedenklich wird diese Praxis, wenn sich die Gestion dieser Selbstverwaltungskörper auf verbandsfremde Personen erstreckt. Das gleiche gilt von der Übertragung von Staat saufgaben auf besonders geschaffene Körperschaften öffentlichen Rechts, ohne daß den verfassungsmäßig berufenen Organen — unter Verletzung des Prinzips der Ministerverantwortlichkeit — ein entscheidender Einfluß auf die Geschäftsführung dieser Körperschaften öffentlichen Rechts 'zusteht. Auf derselben Linie liegt die Errichtung von Kollegialbehörden, denen in Bundesangelegenheiten — ebenfalls unter Verletzung des Grundsatzes der Ministerverantwortlichkeit — ein oberstes Entscheidungsrecht zuerkannt wird. Schließlich ist auch nicht zu übersehen, daß Abschnitt E des Bundesverfassungsgesetzes die Mitwirkung des Parlaments an der Vollziehung des Bundes taxativ umschreibt; dieser Festlegung widerspricht es, wenn darüber hinaus ein einfaches Gesetz dem Nationalrat oder dessen Hauptausschuß das Recht einräumt, Verwaltungsorganen! bestellen. Alle diese Erscheinungen können die Verwaltungstätigkeit der verfassungsmäßig berufenen Organe des öffentlichen Dienstes aufs schwerste beeinträchtigen. Nach außen hin aber bleibt die Bürokratie des Staates verantwortlich.

Der Ruf nach Verwaltungsreform beziehungsweise Verringerung der Beamtenzahl trifft nicht die Hoheitsverwaltung, von der hier in erster Linie die Rede ist. Im Jahre 1948 gliederte sich die berufstätige Bevölkerung Österreichs wie folgt: Land- und Forstwirtschaft 37%, Industrie und Gewerbe 35%, Handel und Verkehr 14%, freie Berufe 4%, öffentlicher Dienst 6%, Haushaltung 2%, Sonstige 2%. Von den 6% des öffentlichen Dienstes entfallen nur 1,8% auf die Hoheitsverwaltung im engeren Sinne. IhrPersonal-stand ist laut Bundesvoranschlag 1951 um 954 Beamte beziehungsweise 30 Richter geringer als jener des Jahres 1938! Damit erledigt sich auch das ganze Gerede über die Beamtenhypertrophie. Wenn Länder- oder Gemeindebeamte oder Lehrer in den Staatsdienst gestellt werden, wenn viele zehntausende Arbeitskräfte im Zuge von Verstaatlichungen zu Staatsangestellten werden, dann schnellt deren Zahl naturgemäß hinauf, ohne daß, absolut genommen, auch nur eine einzige Kraft mehr angestellt worden wäre. Zugegeben sei, daß in Holland, Schweden oder Norwegen die Hoheitsverwaltung, relativ genommen, mit weniger Arbeitskräften als in Österreich auskommt, während Italien, Frankreich und die Tschechoslowakei usw. ein bedeutend höheres Ausmaß benötigen. Mit dem kommenden Personalausgleichsgesetz und mit dem für das laufende Jahr neuerdings vorgesehenen fünfprozentigen Abbau der Dienststellen wird man das derzeit erreichbare Maximum an Verwaltungsreform sichern können. Denn diese ist bekanntlich nicht eine Personalfrage, sondern* eine Frage der Vereinfachung der Verwaltung, der Einschränkung der Gesetzesproduktion und einer Milderung der u n d e m o k r a t i s c h e n Gesetzesentstehung von heute.

Die ärgste Fehlkonstruktion im österreichischen Staatsbau bildet die Pauperi-sierung der staatlichen Funktionäre und die Nivellierung der Gehälter. Wenn

Frauen von Ministerialbeamten sich um Bedienerinnenposten im Ministerium bewerben, oder wenn Richter ihre abgeschabten Kleider mit den auch schon glänzend gewordenen Talaren überdecken müssen, wenn man die Hauptträger der Staatsstruktur, die Stützen der Verwaltung und Rechtssprechung, materiell entwurzelt, dann gleicht das Staatsvolk einer auf die Spitze gestellten Pyramide. In Österreich hat die leitende Bürokratie seit 1937 nicht weniger als zwei Drittel ihres Realeinkommens eingebüßt. DieSpan-nung zwischen höchsten und niedersten Gehältern beträgt heute in England 1:3 0, in Rußland 1:27, in Westdeutschland 1:12 und in Österreich 1:4. Die Kosten der Lebenshaltung haben sich bis Oktober vorigen Jahres um 408 Prozent gegenüber 100 im Jahre 1938 erhöht, die Durchschnittsbezüge der industriellen Arbeiter um rund 320 Prozent, hingegen die Bezüge der Sektionschefs um 90 Prozent. Jedem Politiker, ja jeden verantwortungsbewußten Österreicher müßte diese Tatsache zum Ruf nach sofortiger Abhilfe veranlassen. Das Nachziehverfahren für die öffentlichen Angestellten wird zwar wohlwollend beurteilt, Geld aber ist keines dafür da. Und eine Seite hatte sogar den traurigen Mut, ein Pensions-stillegungsgesetz vorzuschlagen, damit ja kein pensionierter Intelligenzler auf die Idee kommt, sich um einen Nebenerwerb umzusehen!

Die Bürokratie und die freien Intelligenzberufe sind heute Österreichs Stiefkinder. Sie haben darunter zu leiden; den größeren Schaden aber trägt hier das gesamte österreichische Volk. Es ist um seine Zukunft schlecht bestellt, wenn der öffentliche Dienst und die künstlerischen und wissenschaftlichen Berufe verdorren. Sinkt das geistige Arbeitspotential in Österreich, so wird bald auch der Lebensstandard der breiten Massen sinken. Salus publica und bonum commune stehen hier auf dem Spiel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung