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Österreichs Probleme mit allen Neuerungen

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Aus der Situation des Jahres 1945 ist jener Hang zum Festhalten an dem, was übrig geblieben war, erklärbar. A us dem demographischen Phänomen der Dominanz der alten Generation erklärt sich die Betonung der Tradition, des Zurückgreifens auf traditionelle Werte. Daß aber das Geistesleben der Zweiten Republik weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein von den Traditionen und nicht von Versuchen von Innovationen geprägt wurde, kann nur in der Perspektive der Geschichte Österreichs, vom Charakter des österreichischen Menschen her, gesehen werden.

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Aus der Situation des Jahres 1945 ist jener Hang zum Festhalten an dem, was übrig geblieben war, erklärbar. A us dem demographischen Phänomen der Dominanz der alten Generation erklärt sich die Betonung der Tradition, des Zurückgreifens auf traditionelle Werte. Daß aber das Geistesleben der Zweiten Republik weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein von den Traditionen und nicht von Versuchen von Innovationen geprägt wurde, kann nur in der Perspektive der Geschichte Österreichs, vom Charakter des österreichischen Menschen her, gesehen werden.

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Tatsächlich hat sich der Österreicher noch jeder Veränderung gegenüber ablehnend, ja abwehrend verhalten. Und nur, wenn eine Veränderung sich anderswo bewährt hatte, war und ist der Österreicher bereit, sie für sich zu übernehmen.

Wann immer der Österreicher von seiner Geschichte spricht, dann träumt er von der Rolle der Habsburgermonarchie als stabilisierende Ordnungsmacht, dann spricht er von den Traditionen, die bewahrt wurden und bewahrt werden müssen.

Die Engländer haben auf die Könige des Hauses Tudor jene des Hauses Stuart, des Hauses Hannover und des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha folgen lassen - wir sind bei den Habsburgern geblieben, auch als ihnen längst die Lothringer gefolgt waren! So bemüht sind wir, in unserer Geschichte Tradition und Kontinuität zu sehen, daß wir jene Zeiten gar nicht bemerken, in denen unsere Geschichte eine Geschichte der Innovationen gewesen ist.

Die Geschichte Österreichs, die wir immer nur als Geschichte der Abwehr des Neuen, als Kampf ums Uberleben, als Sicherung der Ordnung gegen die Zersetzung des Nationalismus zu sehen gewohnt sind, enthält, wenn man sich von den antimodernistischen Scheuklappen der österreichischen Zeitkritiker aller Generationen zu befreien vermag, nicht weniger Perioden der Innovation als die Geschichte anderer Länder.

Selbst in Perioden, die wir mit der Beifügung „Restauration" zu werten gewohnt sind, läßt sich - wenn man

,, Tatsächlich hat sich der Österreicher noch jeder Veränderung gegenüber ablehnend, ja abwehrend verhalten"

durch die Oberfläche journalistischer Kritik hindurchtaucht, - so manche historisch bedeutsame Innovation entdecken:

Die Technische Hochschule in Graz wurde schon 1811, jene in Wien 1815 und die Montanistische Hochschule in Leoben 1840 begründet - das Metter-nich-franzisceische reaktionäre Österreich war in der Schaffung des technischen Schulwesens allen fortschrittlichen Ländern weit voraus!

In drei Phasen unserer Geschichte hat sich diese Funktion des Staates als Innovator gewissermaßen in revolutionärer Weise verdichtet: in den Reformen Maria Theresias und Josephs IL; in dem Jahrzehnt des Neoabsolutismus zwischen 1850 und 1860; schließlich um die letzte Jahrhundertwende in den fünf Jahren der Ministerpräsidentschaft Er-nest Körbers.

Es ist auffallend, daß es in allen drei Perioden der „Staat", richtiger gesagt, die „Verwaltung" ist, die den innovativen Impuls gab. Die Neuerungen kamen von oben, sie wurden von der Herrschaft der Bevölkerung administriert.

Die Theoretiker der Innovationsforschung, von Max Weber zu Werner Sombart, haben auf den engen Zusammenhang, wenn nicht sogar die Bedingtheit von Innovation und Kapitalismus hingewiesen, doch im Habsburgerreich fehlten die ökonomischen Voraussetzungen Tür eine kapitalistische Innovation, für eine von unten, aus Wirtschaft und Bevölkerung heraus entwickelte Innovation.

Die Innovation in Österreich wurde in all den drei von mir genannten Phasen von oben herab propagiert, als das Land durch das Beharren in agrarischen Bezügen seiner Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur rückständig zu

werden drohte. Die Innovation der technischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Modernisierung wurde von der Regierung initiiert, die in anderen Ländern die Wirksamkeit der neuen Ansätze hatte beobachten können.

So wurde - was in anderen Ländern aus dem Druck, den Anforderungen einer bereits vollzogenen sozialen und ökonomischen Veränderung sich selbstverständlich und selbständig von unten her entwickelt hatte - in Österreich einer für diese Neuordnung noch gar nicht vorbereiteten, für die erfolgreiche Durchführung dieser Neuordnung noch nicht umgewandelten Gesellschaft und Wirtschaftsordnung alten feudal-agrarischen Typs aufgezwungen.

Bis zum heutigen Tage werden Innovationen in Österreich nicht von Unternehmern präsentiert, sondern von Beamten administriert; von Beamten, Staatsdienern, denen genau das fehlt, was für die Entwicklung von Innovationen inhärent ist: der Mut Und die Freiheit zum Experiment.

Es ist doch auffallend, daß die maria-theresianisch-josephinischen Reformen genau in dem Zeitpunkt einsetzen, als das Gewicht der neuen, der habsbur-gischen Herrschaft aus der Erbmasse der spanischen Verwandten zugefallenen industrialisiert-kapitalistischen Ländern in Verwaltung und Politik zum Tragen kommt: aus der Lombardei und aus den ehemals spanischen Niederlanden kommt das Gedankengut und kommen die Personen, die die Innovationsperiode des 18. Jahrhunderts einleiten und tragen.

In dem einzigen Bereich der alten habsburgischen Länder, der die ökonomischen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Innovationen besitzt, im sich industrialisierenden Böhmen, werden diese Innovationen als Josephinismus umzusetzen versucht.

Doch ohne entsprechende sozio-öko-nomische Basis, ohne die Selbstverantwortung des Individuums für die Produktion und Handel konnte die Rationalisierung der Verwaltung nicht zum self-government führen: Der Josephinismus versteinerte in der Uberbetonung der Administration, die Regel wurde zum Reglement - mit allen Konsequenzen, welche die bürokratische Ordnung der Metternich-Zeit charakterisiert.

Die technischen weit mehr als die politischen Veränderungen, haben ein zweites Mal die Voraussetzungen für Innovation und die Notwendigkeit ihrer Einführungen geschaffen: die als Neoabsolutismus so verlästerte Zeit der 1850er und der frühen 1860er Jahre gehört, wenn man an den Klagen behinderter und verhinderter Schriftsteller vorbei zu sehen wagt, zu den innovativ-

sten Perioden der österreichischen Geschichte.

Die Stadterweiterungen - nicht nur in Wien, dessen Ringstraße die Aufmerksamkeit vor allem der Kunsthistoriker auf sich gezogen hat - nein, in praktisch allen österreichischen (wie übrigens auch anderen mitteleuropäischen Städten) symbolisieren die Innovation der Gesellschaft.

Die Verfassungen mit ihren Grundrechten suchen jene Rechtssicherheit der gleichen Rechte und Freiheiten zu schaffen, die Voraussetzung für ein Funktionieren merkantil-kapitalistischer Wirtschaft ist. Doch wieder ist es im Habsburgerreich die Regierung, die die Innovationen trägt, die die Infrastruktur eines Bahn- und Straßennetzes plant, die Handelsfreiheit in administrativem Wege schafft, die in neugegründeten Ministerien (Handels-, Arbeitsministerium) die Voraussetzungen für den Erfolg von Innovationen einzurichten sich bemüht.

Und wieder sind es Auswärtige, von denen der Anstoß zur Innovation kommt: der Elberfelder Freiherr von Bruck, die Protestanten Bonitz und Ex-ner, die das österreichische Schul- und

Hochschulwesen modernisieren und so innovativ verändern, daß die Hochschulverwaltung bis in die Gegenwart sich an die Grundsätze der 1850er Jahre klammert.

Der Aufstieg der österreichischen Hochschulen zur Weltgeltung läßt sich aus den Innovationen der 1850er und 1860er Jahre ableiten. Die Vererbungsgesetze, die Gregor Mendel genau in jenen Jahren entdeckte, stehen in innovativer Bedeutung den Leistungen der Psychoanalyse nicht nach, die inzwischen weltweit als innovative Leistung Österreichs um die Jahrhundertwende gerühmt werden.

Es sollte aber auch betont werden,

wie sehr die beiden Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch in ökonomisch-sozialer Hinsicht ein Aufbruch in die Moderne gewesen sind. Und wieder war es - nun zum dritten Mal - das Reglement von oben, das jenen Durchbruch durchzusetzen versuchte.

Freilich: All die wohlgemeinten Bemühungen, das Wien des Fin de Siede als Wiege der Moderne hinzustellen, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Moderne gerade in ihrer Heimat wirkungslos geblieben, daß sie erst Jahrzehnte später - von außen zurückkehrend - rezipiert worden ist.

Es könnte uns aber vielleicht ganz wesentlich in der Untersuchung des Versagens Österreichs gegenüber allen Innovationen weiterhelfen, wenn wir uns darüber klar würden, daß auch diese Innovationsphase wieder von einem neuen Bevölkerungselement, von einer nicht heimischen Bevölkerungsschicht getragen war: der Schicht der durch die Revolution von 1848 emanzipierten Juden.

Die Großväter, die 1848 befreite Generation, hatten die finanziell wirtschaftliche Basis des Aufstiegs dieser

Bevölkerungsschicht geschaffen. Die Söhne und Väter hatten in Wissenschaft und Organisation das Vätererbe abgesichert. Die dritte Generation, die Enkel, hat in der Kunst den Weg ins Freie beschritten, die endgültige Ablösung aus dem geschlossenen Gesellschafts- und Religionssystem der Großväter vollzogen.

Carl Schorske hat dieses Widerspiel der Spannung zwischen den Generationen, des Vordringens der Jungen in neue Bereiche der Kultur für die Sezession der Künstler im Wien der Jahrhundertwende herausgearbeitet. (Vgl. Fritz Fellner: „Rekonstruktion eines Aufbruchs", FURCHE Nr. 29).

Es sollte vielleicht noch stärker, als Schorske es angedeutet hat, daraufhingewiesen werden, wie sehr die Generation der Jungen, die um 1900 zur künstlerischen Sezession schritt, als Repräsentation eines allgemeinen geistigen Aufbruchs in die Moderne gesehen werden muß und wie sehr die überdurchschnittliche Repräsentanz der Juden in diesem geistigen Aufbruch als Symptom einer historischen Entwicklung zu sehen ist.

Die Generation der Jungen der letzten Jahrhundertwende war die erste, die frei von der Totalität religiös-gesellschaftlicher Geborgenheit aufgewachsen war, für die der Mensch und nicht mehr ein transzendental verankertes System zum Maß aller Dinge geworden war. Es scheint mir nicht von ungefähr, daß nicht nur der Aufbruch in die Moderne in Malerei, Architektur, Musik, Literatur sich vollzogen hat, sondern gleichzeitig auch - und das in ganz besonderem Maße in Wien - der Auf-

„Bis zum heutigen Tag werden Innovationen in Österreich nicht von Unternehmern präsentiert, sondern von Beamten administriert"

bruch in die Wissenschaften sich vollzog, die das 20. Jahrhundert bestimmen sollten: Soziologie, Biologie, Historismus und Psychologie, im besonderen Psychoanalyse.

Es lag nicht nur an den materiellen Folgen der Kriegszerstörungen, daß der Weg zur staatlichen Unabhängigkeit nach 1945 in die Restauration der Traditionen und nicht zu Innovationen führte. Es war vor allem die Folge der Zerstörung der Ansätze urbaner Gesellschaftsstruktur durch Krieg und Faschismus. Der Wiederaufbau erfolgte in bürokratischer Engstirnigkeit: Die Emmentaler-Architektur der großen Bauvorhaben der 1940er und 1950er Jahre ist augenfällige Dokumentation dieser Unfähigkeit, neue Wege, neue Formen zu finden.

Erst die 1960er Jahre brachten hier eine Änderung. Wer sehenden Auges durch die Straßen österreichischer Städte geht, kann diesen Aufbruch in Qualität, den Beginn einer neuen Modernität unübersehbar erkennen!

In den 1960er Jahren war die Großvätergeneration, die die Wiedererrichtung Österreichs gestaltet hat, durch eine neue Generation abgelöst worden. Die 1960er Jahre brachten materiell wie personell jenen „Neuartigen Zugang", der die Voraussetzungen der Innovation bildet. Das aggiornamento der katholischen Kirche ebenso wie die apertura a sinistra ist auch in der .Geschichte der Zweiten Republik für die 1960er und die frühen 1970er Jahre zu erkennen.

Doch gleichzeitig lassen sich in jenem Jahrzehnt Ansätze eines völlig neuen Durchbruchs erkennen, nicht nur einer Emanzipation der Jungen, wie sie für die Jahrhundertwende feststellbar war, sondern die Öffnung einer neuen Gesellschaftsschicht, eines Emanzipationsprozesses, der historisch nur mit dem Heraustreten der böhmisch-mährischen Juden aus ihrem Ghetto in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist: die Emanzipation der Frau.

Dieser Beitrag ist ein (sehr rudimentärer) Auszug aus einem anfechtbaren, aber gewiß denkanregenden Referat, das der Autor, Historiker an der Universität Salzburg, gelegentlich des Symposiums „Tradition and Innovation in Contemporary Austria", am 29. Mai 1980 an der Stanford Uni-versity in Kalifornien gehalten hat.

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