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Herausforderung 70

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,Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann Euch für den Christbaum, wenn Ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Ich kann Euch keine Gaben für Weihnachten geben. Kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden... wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!“

Leopold Figl, 24. Dezember 194.5 Die Österreicher haben vor 25 Jahren geglaubt.

Nach einem Viertel Jahrhundert Menschenleben mag es Zeit sein, Zwischenbilanz zu ziehen. Nach einem Vierteljahrhundert eines historischen Zustands eines Staates wird die Rechenschaft zwingend. Und die Bilanz zum Saldo der Zukunft.

Drei Perioden kennzeichnen das Vierteljahrhundert Zweite Republik: Da galt es zuerst die Versorgung zu stabilisieren und die Grundlagen des wirtschaftlichen Wiederaufbaues zu besorgen. Eine Koalition aus den beiden großen Parteien des Landes schaffte es mit Hilfe des Marshallplanes, der vielfach im Krieg ausgebauten Industrie, die nach den Reparaturarbeiten bald wieder zu funktionieren begann, und dank der großzügigen Inangriffnahme der Energieversorgung. Nach df-n Wellen der Hochkonjunktur, die Westeuropa erschütterten, wuchs auch Österreichs Wirtschaft fast überhektisch in den fünfziger Jahren; der Schilling gewann wieder seine Kaufkraft, forcierte Investitionen beschleunigten einen Industrialisierungsprozeß des historischen Agrarlandes. Doch die fünfziger Jahre kennzeichnete als zweite Periode die Stabilisierung der innen- und außenpolitischen Situation; 1950 blieben die Kommunisten erfolglos — und Österreich in den Augen der Welt ein erstaunlicher Sonderfall.. Ein internationales Tauwetter brachte neben der wohl überdeutlichen Klar-

heit über die antikommunistische Haltung der Österreicher 1955 den Staatsvertrag, die UNO-Mitglied-schaft und die Mitarbeit in den internationalen Organisationen; schon bald auch die Bestrebungen zur Stabilisierung des Außenhandels und des Fremdenverkehrs durch eine Annäherung an die gemeinsamen Märkte und Freihandelszonen Westeuropas.

Am Staatsvertrag freilich zerbrach das ausgewogene innere Gleichgewicht der Koalition der beiden Großparteien. Und die frühen sechziger Jahre sind markiert durch die Erstarrung der politischen Organe, durch die Frustration der Eliten des Landes durch Proporz und Ämter-kumulierung, durch Parteilichkeit und kleinlichen Hader. Der denkende Österreicher suchte nach neuen Lösungen und Formen der politischen Willensbildung und entdeckte, daß ein schicksalhafter Dualismus der Agonie und Schwäche zweier gleichstarker politischer Kräfte jede notwendige Anpassungsreform auf ein gewachsenes Gemeinwesen und auf eine internationale Entwicklung bremste, ja erstickte. Ungewollt brachte eine Wählerschaft eine höchst unösterreichische Entscheidung und ließ die späten sech-?:gor Jahre m ilnern Experiment werden, zu einem Experiment gebremster Reformen mit der Schlagseite nach rechts; doch Reform ohne Frage.

Das Experiment liegt demnächst auf dem Seziertisch. Ist es geglückt und sind Wiederholungen denkbar? Oder will eine Mehrheit zur Mitte zurück, um in einem Pendelschlag die siebziger Jahre zu einem neuen Abschnitt der Geschichte werden zu lassen?

Am Ende der siebziger Jahre wird der blutjunge Rekrut des ersten Krieges das patriarchalische Alter von 80 erreichen; und der Jüngling, der am Heldenplatz Adolf Hitler ohne Wissen um die Zukunft bejubelte, 1980 in das Pehsionsalter treten. Der Obergefreite des Zweiten Weltkriegs wird Enkelkinder haben. Und das Kind, das im Granatwerferfeuer des Jahres 1945 in einem Luftschutzbunker zur Welt kam, wird 35 Jahre alt sein.

Welches Erbe wird es übernehmen? Die siebziger Jahre werden uns nichts zu schenken haben. Mit dem vollen Magen des etwas müden Wohlstandsbürgers treten wir als Konsumenten in die Zukunft ein. Übersättigung macht bereits in vielen Bereichen die Ausnüchterung notwendig. Trägheit und Arroganz voller Bäuche führt auch den nachvollzogenen Wohlstandsboom Österreichs in das Klima der Frustration, in der die Unzufriedenheit der Jungen nach etwas Neuem verlangt, das dem Leben andere Aspekte verschafft. Die Radikalisierung von Minderheiten im Schatten der satten Trägheit ist ein Entwicklungsprozeß, der anderswo schon hochgepeitscht ist. Kommt er in den siebziger Jahren zu uns?

Dazu gehört, daß Österreich zu einem „alten“ Land wird, nimmt man die Statistik zur Hand. Nur in zwei Bundesländern machen die jungen Menschen zwischen 20 und 30 ein Viertel der Bevölkerung aus; in den Innenbezirken von Wien wird es nur 17 Prozent „Twens“ geben. Dort werden an die 40 Prozent mehr als 60 Jahre alt sein.

Das Jahrzehnt vor uns wird zur Periode der Umgestaltung der Sozialgpolitik werden müssen. Das Gosuptf? heitswesen mit seinen archaischen

Formen des Krankenkassenwesens ist endgültig an jener Schwelle, wo die Pleite beginnt. Das Gratis-Aspirin wird zum Syrrb^ j^r sechziger Jahre werden. In atxi siebziger' Jahren wird man froh sein, einen Herzschrittmacher bezahlen zu können. Fällt Österreich in zwei Hälften auseinander?

Der Prozeß der Entflechtung zwischen Ost- und Westösterreich macht schnelle Fortschritte. Die Enns wird immer mehr zu einer Schnittlinie des Entwicklungstempos. Die „Schere“ klafft immer mehr auseinander. Gelingt der Gefälleausgleich? Oder wird München die geheime Hauptstadt der Tiroler und Salzburger? Weiß auch schon der wirtschaftspolitische Laie, daß Österreichs Strukturschwächen im wirtschaftlichen Bereich lebensgefährlich sein können, so haben die Reformen der sechziger Jahre nur den Charakter von Retuschen gehabt. Die großen gesetzlichen Grundlagen sind nur zum Teil verwirklicht; die Bremsgeschwindigkeit des Umdenkens ist größer gewesen als der Impetus der Beschleunigung. Und die technologische Lücke ist größer denn je. Das Fehlen von Kapital und Bildung macht sich branchenverschieden bemerkbar. 1975 wird es etwa 2000 Computer in Österreich geben; werden es genug sein, um Schritt zu halten? Und werden wir genügend Fachkräfte haben, sie zu nützen und zu vermehren? An den Bildungsanstrengungen werden die nächsten Jahre gemessen werden. Gelingt es, eine gewollte Explosion zu zähmen, haben wir Chancen des nationalen Überlebens; wenn nicht, steigen wir zur Hilfsarbe.it anderer Völker herab: eine Hilfsarbeit zwar mit vollem Bauch, doch als Werkzeug in geschulten Händen. Haben wir aber etwa schon die Schlacht verloren? Ist Österreich auf dem Weg, seinen Willen zur Selbstverteidigung aufzugeben? Beschämende Beispiele faulster und dümmster Argumentation lassen befürchten, daß das militärische Minimum den Österreichern auch noch zuviel wird. Und während die Nachbarn in nah und fern in Waffen erstarren, klappt Österreich sein Taschenmesser zusammen; mit der Ausrede der mangelnden Wahrscheinlichkeit, der geringen Verteidigungschance — und gefördert von einer militärischen Führung, Sie wohlbeamtet ihr Ver-sageriNjnit einer forschen Suada tarnt. Die siebziger Jahre werden

den Schläfern und Einschläfern die Gretchenfrage stellen: „Wie hast du's mit dem Militär? Was ist dir deine £hS*W8 zur rationalen Existenz üJerhaapt wert? Und doch: bis jetzt ist es gutgegangen; die sechziger Jahre haben entscheidende Impulse gebracht. Manche Weichen scheinen richtig gestellt: und da und dort rollt schon ein Expreßzug aus dem Bahnhof. Da ist die neue Rolle Österreichs in Mitteleuropa. Nach der Zeit der Träume in der Ersten Republik und nach dem Totalrückzug aus der Weltpolitik in der frühen Zweiten Republik hat der Österreicher zu einem größeren Selbstverständnis gefunden. Er macht sich weniger Illusionen über sein Land und dessen Anerkennung in der Welt; und er beginnt sich an der Schnittlinie zwischen West und Ost sogar ganz wohl zu fühlen; internationale Organisationen nehmen hier ihren Sitz; Konferenzen finden hier statt; und neuerdings scheint Österreich eine Filterfunktion der Ströme zwischen den Blöcken erhalten zu haben. Die außenpolitischen Leitlinien der fünfziger und sechziger Jahre bestätigen sich: Eine Klarstellung unseres Bekenntnisses zur freien Marktwirtschaft und Demokratie des Westens wird nicht schaden, wenn wir ein neues Verhältnis zu den Einigungsbestrebungen Europas finden wollen. Und da ist auch die Erhöhung der Mobilität. Immer mehr Österreicher sind zu einem Wechsel der starren Fronten aufgebrochen; Arbeitsplatz und Wohnort, Partei und Milieu haben aus Tausenden nicht mehr Gefangene geformt. Umschulung und Weiterbildung sind in bescheidensten Anfängen initiiert; darauf läßt sich ein System errichten. Man diskutiert mehr. Das ist neu in einem Volk, das den Monolog als Dialog pflegt; und das in jener erratischen Blockade des Sich-nicht-vorstellen-Wollens der Änderung ein Prinzip gesehen hat. Die demokratischen Einrichtungen werden einer schaumgebremsten Prüfung unterzogen; und das beweist vor allem die Selbstverständlichkeit dieser Institution. Dringt dieser notwendige Adaptionsprozeß der Willensbildung und Exekutive in der Politik auch zu den Parteien vor, die sich selbst unter das Mikroskop zu stellen hätten?

Weichen werden allerorten gestellt; jetzt mit dem Instrumentarium der

Zukunft. Die Wirtschaftswissenschaft hilft bei der Erarbeitung konjunkturgerechterer Budgets; die Wirtschaftsprogramme der Parteien bestimme Expertken, nicht Dogmen. Die Planung ist kein Tabu für die Rechte — und Wettbewerb kein Tabu für Links. Die Prognostik ist zu einem wichtigen Hilfsmittel auf allen Sektoren geworden. Und der Nationalrat beschäftigt sich sogar schon heute mit dem Bundesstraßennetz des Jahres 2000. Werden die siebziger Jahre also ein großer Sprung vorwärts? Schaffen wir schneller den Anschluß an die Entwicklung der Welt? Und ist es uns tatsächlich möglich, ein europäisches Wunder an innenpolitischer Stabilität und wirtschaftlicher Vernunft fortzusetzen? Denn 25 Jahre ohne Unruhe, Wirtschaftschaos und permanente Streiks ist ein europäisches Wunder in dieser rastlosen Welt. Sozialpartner und Parteien — so gern wir manchmal über sie schimpfen — haben mehr Hausverstand und Verantwortung bewiesen, als nur irgendwer jemals anzunehmen bereit war. Es ist nicht schlecht bestellt im Hause Österreich.

Und doch ist die Schwelle eines neuen Jahrzehnts eine Stufe zur Wahrheit; wollen wir es schaffen, die „Herausforderung 70“ anzunehmen? Österreich hat bewiesen, daß es kann

— wenn es will.

Was wir brauchen, ist die simple Formel der Zukunft: Mehr Fleiß, Anpassung, mehr Änderungswillen, mehr Risiko. Wer jetzt einen Schritt macht, wird demnächst in der gleichen Zeit zwei tun müssen. Wer jetzt ein Buch liest, wird zwei lesen müssen. Wer jetzt einen Schilling investiert, wird morgen mit zwei kalkulieren müssen.

Wir haben die Chance, eine balkanische Schweiz zu werden, deren Bürger in satter Glanzlosigkeit fröhliche Fremdenführer durch ein Backhendelparadies sind, das noch immer mit der Hand angeheizt wird. Oder Weltbürger mit geschickten Händen, klarem Verstand und nüchternen Rechenstiften; sympathisch, weil nicht ohne Freude am Schönen

— aber hellsichtig genug, sich selbst in einer veränderten Welt zu erkennen. Und im Grunde wissend, daß auch ein Jahrzehnt nur eine Sekunde darstellt in der Minute des Menschengeschlechtes auf dem Planeten Erde.

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