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Österreich - wohin?

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Osterreich wohin? Wie oft haben wir uns diese Frage schon gestellt? 1918, 1934, 1938, 1945,1950,1955, 1966,1970,1986, 1990? Schicksalsjahre einer Repu- blik. Fast unheimlich, mit welcher Regenerationskraft dieses Land und seine Bevölkerung die Wirren der dreißiger Jahre überlebt, die „Got- tesfinsternis" der Nazizeit zumin- dest politisch überwunden, die Ge- fahren des Kommunistenputsches gemeistert haben. Wie sie in den fünfziger Jahren mit ihrer neuen Freiheit viel anzufangen wußten, die Reformpolitik der sechziger und siebziger Jahre teils zögernd, teils enthusiastisch akzeptierten und mit neuem Selbstbewußtsein die Her- ausforderungen der achtziger Jah- re annahmen und gleichzeitig poli- tische Veränderungen herbeiführ- ten. Heute sind wir, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, das zwölft- reichste Land der Welt. Prozentuell hat es in Österreich noch nie mehr Zufriedene gegeben. Warum soll 1990 ein neues Schicksalsjahr, wa- rum sollen die neunziger Jahre ins- gesamt ein Jahrzehnt der vielleicht grundsätzlichsten Überlegungen, jedenfalls seit 1945, werden?

Die einfache Antwort könnte lau- ten: weil Österreich durch Ordnung im eigenen Haus einen Beitrag zum Überleben der Menschen leisten muß; weil ein Umweltkollaps ei- nem hoffentlich gebannten Nu- klearkollaps nicht nachsteht; weil auch in Österreich in einer immer reicher werdenden Gesellschaft den Grundfragen der existentiellen Sinnhaftigkeit und des sozialen Ausgleichs immer mehr Bedeutung zukommen wird; weil - konkret - durch Jahrzehnte vernachlässigte und für Jahrzehnte wirkende Re- formen - Pensionen, ÖBB, Schul- denabbau, ausgeglichenes Budget, Sozialpartner, Bürgerbeteiligung - durchgeführt werden müssen. All das stimmt und daran, wie wir - in unserem Einflußbereich - mit die- sen Problemen fertig geworden sind, werden wir von künftigen Genera- tionen gemessen werden.

Warum die neunziger Jahre aber Schicksalsjahre für Österreich sein werden, kann man nicht mit der Aufzählung eines im Grunde schon seit geraumer Zeit bekannten Pro- blemkatalogs beantworten.

1990 ist nämlich in Österreich mehr als nur die Inntalbrücke zu- sammengestürzt. Österreich sieht sich insgesamt - von Politikern al- ler Lager liebevoll als hervorste- chendes Identitätsmerkmal jahr- zehntelang gepflegt - seiner euro- päischen Brückenfunktion beraubt. Die Wälle, Mauern, Gräben, Sta- cheldrähte sind abgebaut, Tausen- de Straßen, Güterwege und Wirt- schaftspfade führen links und rechts an der „Österreichbrücke" vorbei, die bald wie die Semmeringbrücke als beeindruckendes Relikt politi- scher Baustrategien in den Ge- schichtsbüchern zu bewundern sein wird. Als glühender Verfechter der Neutralität, an der auf Jahre hin- aus nicht gerüttelt werden darf, muß man doch auch zur Kenntnis neh- men, daß für viele die Neutralität als verfassungsrechtlich und außen- politisch verpflichtender Ausdruck dieser Brückenfunktion gesehen wird.

Historisch war es natürlich um- gekehrt: erst die Neutralität („nach dem Vorbild der Schweiz") brachte uns die Freiheit. Sie ermöglichte uns - oft sehr mutige - Vermittler- dienste, die gewiß ihren Anteil an der Entwicklung im osteuropäi- schen Raum hatten. Trotzdem muß man nüchtern feststellen, daß die Neutralität ihre Sinnhaftigkeit nicht aus sich selbst, sondern aus ganz bestimmten politischen Kon- stellationen im allgemeinen und der Ost-West-Situation der letzten Jahrzehnte im Konkreten bezieht. Dieunreflektierten „Verewiger" der Neutralität haben daher genauso unrecht wie die vorschnellen „Ab- schaffer".

In den neunziger Jahren wird Österreich - unter der Annahme einer jetzt vorhersehbaren Weiter- entwicklung in Europa - um eine Neubewertung seiner Neutralität nicht herumkommen. Diese mag etwa als Antwort auf die dümm- liche, immer wieder aufkeimende Deutschtümelei auch noch auf Jahrzehnte hinaus ihre Berechti- gung als Bestandteil des österrei- chischen Identitätsbewußtseins haben. Als ein von der UN-Völker- gemeinschaft gewünschter Sonder- status (selbst wenn wir im New Yorker Glaspalast im Verbund der westlichen Staaten agieren) mag der Neutralität auch in Zukunft Be- deutung zukommen.

Österreich wohin? Es besteht kein Anlaß, sich dieser Frage ängstlich zu stellen. Vielmehr hat kaum eine Generation zuvor solche Chancen gehabt, wie wir. Kaum, wenn je- mals, zuvor hatte unsere Gesell- schaft die Mittel, um Gegenwart und Zukunft zu meistern. Kaum, wenn jemals, zuvor wird es so schwer gewesen sein, Ausreden für ein Scheitern zu (er)finden.

Ob Österreich auf Dauer bejaht wird, ob sich seine Menschen hier wohlfühlen und ob wir auch in Zukunft eine unvergleichbare Funktion im politischen Geschehen dieser Welt wahrnehmen können, hängt im wesentlichen von zwei Dingen ab: Unserer (Neu-)Positio- nierung in Europa und einer (Neu- gestaltung unserer politischen Kultur, um die Lösung der überfäl- ligen, eingangs teilweise erwähn- ten Probleme zu ermöglichen.

Am 17. Juli 1989 hat Österreich seinen Beitrittsantrag zur EG ge- stellt. Das war aus vielen Gründen gut so. Gleichzeitig - und der Auf- bruch des letzten Jahres hat dies dramatisch unterstrichen - kann Österreichs Außenpolitik immer nur vom Gedanken einer gesamt- europäischen Politik getragen sein. Hier schon seit Jahren mitgewirkt zu haben, bedeutet für Österreich einen Startvorsprung - politisch, wirtschaftlich und kulturell.

Politisch, weil es vorteilhaft, ja notwendig ist, an der europäischen Willensbildung teilzunehmen; wirtschaftlich, weil es uns insge- samt besser gehen wird und durch ein geeintes Europa solidere und wirksamere Strukturen aufgebaut werden können; kulturell, weil sich für uns als künstlerisches „Netto- geberland" ganz neue Möglichkei- ten im europäischen Kulturdialog ergeben werden.

Voraussetzung ist freilich, daß wir mit diesen Vorstellungen an der künftigen Willensbildung im Rah- men der europäischen Integration teilnehmen. Eine solche „Integra- tion mit Integrität" ist nur dann zielführend, wenn sie das europäi- sehe Gemeinsame als die Summe europäischer Vielfalt versteht, wenn in ihr der „Civis Europaeus" im Bewußtsein seiner Andersartigkeit identifizierbar bleibt. Eine solche „europäische Identigrität", ein sol- ches „Europa der Kulturen" (von Josef Klaus schon vor mehr als zwanzig Jahren gefordert) wird gleichzeitig die wichtigste, vielleicht die einzige Gegenkraft gegen die mit dem politischen Aufbruch der jüngsten Zeit verbundenen Gefah- ren des geistigen Provinzialismus und des politischen Nationalismus sein.

Welche Chance für Österreich, aus der obsoleten Brückenfunktion zu einer neuen europäischen Vielfalt zu finden. So viel Einigung wie nötig, so viel Vielfalt wie möglich. Wirklich überwunden werden kann der Nationalismus als Perversion des legitimen Anliegens regionaler, ethnischer und kultureller Identi- tät nicht durch übernationale In- stitutionen, durch Zentralbürokra- tien oder großstaatliche Pseudoau- toritäten, sondern nur durch die Akzeptanz des Andersseienden, durch Respekt vor dem Andersden- kenden und das allen eigene euro- päische Bewußtsein, selbst einer, wie immer auch großen, Minderheit anzugehören.

Übrigens scheint mir die im eu- ropäischen Verbund ermöglichte In- tensivierung regionaler Kulturviel- falt auch als Antwort auf die von den Unterhaltungsmedien gnaden- los geförderte Globalität der Kul- turlosigkeit unerläßlich. Dies hat nichts mit dem Unterschied zwi- schen Massen- und Elitekultur, aber alles mit kollektivistischem Mach- tanspruch und der Entfaltung des Individuums zu tun. Gerade in die- sem Bereich manifestiert sich das Naheverhältnis von Kultur und Po- litik, das in der Übernahme bedeu- tender politischer Funktionen durch Künstler wie Vaclav Havel, Arpad Göncz oder Mircea Dinescu seine, wenn man so will, staatstragende Personalisierung gefunden hat.

Hand in Hand mit seiner eu- ropäischen Positionierung muß es Österreich um die Erneuerung sei- ner politischen Kultur ernst sein. Und unter „Österreich" sind hier nicht nur, wenn auch in erster Li- nie, die Parteien, sondern ebenso die Institutionen bis hin zu jedem einzelnen gemeint. Beredter Aus- druck des derzeitigen Zustandes ist das Ergebnis einer jüngsten Mei- nungsumfrage, wonach nicht ein- mal mehr ein Fünftel der Österrei- cher Vertrauen in die Politik hat. Nicht einmal ein Drittel glaubt Einfluß nehmen zu können. Die Politik- und Politikerverdrossen- heit reicht weit hinein in die Reihen der Politiker selbst, die genug ha- ben von der Korruption ihrer Stan- desgenossen und sich mit den Struk- turen der eigenen Parteien oft nicht mehr zurechtfinden.

„Umfragepolitik" entartet leicht zur permanenten „Opportunitäts- politik". Politiker und Wähler müs- sen in einer funktionierenden poli- tischen Kultur die eigene Redlich- keit und das Ausmaß der Zu- mutbarkeit laufend überprüfen. Nicht immer sind Politiker die Verführer und Wähler die Verführ- ten, genausooft ist es umgekehrt. Verführung und Verf ührbarkeit be- dingen einander.

Was für eine Chance auch für eine große Koalition, die ihre Rechtfer- tigung daraus beziehen würde, daß sie diese Chance nicht ungenutzt verstreichen läßt. Sie allein könnte, ohne überproportionale Gefahr gesellschaftlicher Unruhen, die not- wendigen Reformen durchführen. Sie kann dem Radikalismus links und rechts vorbeugen, kann die jungen Menschen wieder motivie- ren, kann - durchaus auch im Lich- te eines stärker werdenden Kon- kurrenzdruckes durch andere Par- teien, die Bevormundung durch den Staat zurückdrängen, kann Abhän- gigkeiten verringern, kann durch eine mutige Wahlrechtsreform das Verhältnis der „Abstimmungsabge- ordneten" zu den „Denk- und Ent- scheidungsabgeordneten" umdre- hen, kann die Pensionen auf Jahr- zehnte sichern, die Staatsschulden und Budgetdefizitprobleme in den Griff kriegen und Österreich in ein gemeinsames Europa führen.

Kann? Könnte? Wird? Politiker und Wähler müssen in einen neuen Dialog treten. Ein Politiker, der „nur" tut, was der Wähler will, macht sich als reiner Repräsentant genau so mitschuldig am Dilemma politischer Flauten und Versteine- rungen wie ein Wähler, der nur das bejaht, was ihm der (meist partei- eigene) Politiker vorschlägt. Dazu gehört aber auch, sich von dem ohnehin schon überholten starren Links-Rechts-Denken zu lösen. Die SPÖ ist heute genügend kapita- listisch und die ÖVP schon auf- grund ihres Programms genügend sozial, um den Klassenkampf end- gültig ins Gruselkabinett der euro- päischen Geschichte abschieben und den Weg für eine neue Koali- tion der Vernünftigen freimachen zu können.

Dazu zählt aber auch, daß die Institutionen, fernab von einem neuen Kulturkampf, wieder ge- sellschaftsbildend und nicht aus- schließlich als Interessenvertreter tätig werden, daß aus Nachfolgern wieder Autoritäten werden, daß statt so vieler Nur-Politiker wieder viel mehr Menschen, wenn auch nur auf Zeit, „in der Politik sind".

Dem jungen Menschen muß die Voraussetzung geschaffen werden, sich im nationalen und interna- tionalen Wettbewerb zu bewähren. Das Parteibuch als Versicherungs- polizze gegen berufliche Inkompe- tenz darf es nicht mehr geben, als Meldezettel zum politischen Enga- gement wird es willkommen blei- ben. Beziehungen müssen durch Kreativität, politische Abhängig- keiten durch Ausbildungen und per- sönliches Engagement ersetzt wer- den. Ein Österreich der Fairness, sich selbst, seinen Minderheiten ge- genüber, ein Österreich der Offen- heit, des Selbstbewußtseins, der In- ternationalität.

Österreich wohin? Jede Genera- tion muß aufs neue Antworten auf diese Frage finden. Selten aber war die Ausgangslage so günstig, selten die Hoffnung auf eine (noch) besse- re Zukunft so berechtigt wie jetzt.

Der Autor ist Hau ptgeschäf tsfuhrer der ÖVP.

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