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Entgleisungen in der res publica

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Gemeinwesen können nur so lange bestehen, als die Verfassung und Gesetzgebung, die vertraglichen Grundlagen des staatlichen Zusammenlebens, intakt bleiben; werden sie verletzt, so wirkt das ebenso zersetzend wie das Festhalten an wirtschaftspolitischen Illusionen. Ju-stitia regnorum fundamentum. Als in Österreich Mitte Juli 1927, am Tage nach dem Geschworenenurteil über den Schattendorfer Zwischenfall, der Justizpalast zu brennen begann, hatte sich die Demokratie den Todeskeim geholt. Mehr denn je ist angesichts der weltpolitischen Lage das demokratische Österreich von heute auf Wahrung seiner demokratischen Struktur nach Form und Inhalt angewiesen. Die Artikel 7 und 149 unserer Bundesverfassung legen die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz fest. Verstößt man in Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung gegen diesen Grundsatz etwa dadurch, daß Sonderinteressen bestimmter Gruppen bevorzugt und dazu im politischen Kompromißwege zu Lasten der Allgemeinheit gesichert werden, so fördert man damit zugleich die Tendenz zum Umsturz.

Schon in formaler Beziehung weist der Gesetzgebungsablauf von heute arge Mängel auf. Im Sinne der Verfassung obliegt die Vorbereitung der Gesetze der Regierung; also den Ministern und Landesräten beziehungsweise den legislativen Beamten der Ministerien und Landesregierungen, die von vornherein über die nötige Vorschulung nach Praxis und Tradition verfügen und schon zufolge ihrer neutralen Stellung durch Gruppeninteressen nicht beschwert sind. Solche Vorzüge schlagen im legislativen Konzept der Mitglieder von Volkse und Standesvertretungen nicht immer durch, wenngleich es sicherlich übertrieben war, wenn kürzlich ein hervorragender Rechtslehrer die elende, gerade vom Nationalrat wiederholt gerügte Gesetzestechnik von heute das Willensergebnis einer Oligarchie von Partei-, Kammer-und Gewerkschaftsfunktionären nannte. Nichts gegen die Kammergutachten, die übrigens in der Regel nicht von Kammermitgliedern, sondern von deren Sekretären herrühren; aber es widerspricht zumindest dem Geiste der Verfassung, wenn wichtigste Gesetzesvorlagen subkutan vom Ministerrat in den Parlamentsausschuß und dann zur formalen Abstimmung ins Plenum gelangen, ohne daß in irgendeinem Vorberatungsstadium neben der Standesvertretung auch das allgemeine staatsbürgerliche, also demokratische Interesse im Lichte der Öffentlichkeit hätte zu Worte gelangen können. Verschärft wird dieser übelstand noch durch die Gesetzeshypertrophie, welche beispielsweise in der dritten Juliwoche dieses Jahres einen Rekordstand er-

reichte, da 3 0 Gesetzentwürfe gleichzeitig in parlamentarischer Behandlung standen, wobei von einer organischen Aufeinanderabstimmung und einer einheitlichen gesetzgeberischen Dynamik wohl keine Rede mehr sein konnte.

Bei der legislativen Umrahmung der Preis- und Lohndynamik waren bis vor kurzem Ministerrat und Parlament Formalinstanzen, während die meritori-schen Entscheidungen bei der Sommer 1947 gebildeten ständigen Wirtschaftskommission der drei Kammern und des . Gewerkschaftsbundes lagen. Um dem verfassungsmäßigen Prinzip der persönlichen Ministerverantwortlichkeit etwas näherzukommen, ging im Zuge der Verhandlungen über das fünfte Lohn- und Preisabkommen die Führung auf das aus den Ressortministern bestehende, neugegründete Wirtschaftsdirektorium über; allerdings nur formal, da dessen Wirtschaftsexperten dieselben sind wie die der ständigen Wirtschaftskommission. Richtig ist, daß diese bisher Hervorragendes geleistet hat; daß weiter auch die Kammerbürokratie hinsichtlich ihrer Fachkenntnisse einzig dasteht, zumal die staatliche Bürokratie 1919, 1934, 1938 und 1945 schwersten Erschütterungen ausgesetzt war; daß schließlich auch der Kollektivvertrag zwischen Bundeskammer und Gewerkschaftsbund keines gesetzgebenden Aktes bedarf. Aber es widerspricht dem Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit nach wie vor, wenn bei den grundlegenden Verhandlungen über die materiellen Existenzbedingungen des Bundesvolkes breite und durchaus nicht unwichtige Schichten desselben unver-treten bleiben,

Letzten Endes ist jene etwas chaotische Gestaltung auf die Nichtberücksichtigung der wirtschaftlichen Gemeinschaften in unserer Verfassung zurückzuführen. Schon die Verfassungsnovelle von 1929 wollte durch einen Länder- und Ständerat die wirtschaftsfachlichen Interessen im Ablauf der Gesetzgebung verfassungsrechtlich verankern; zur Durchführung ist es damals nicht gekommen. Die Ender-Verfassung von 1934 stellte bekanntlich einen Bundeswirtschaftsrat von 80 Mitgliedern auf. Da eine Reprise jener Struktur politisch heute nicht durchsetzbar ist, so wäre vielleicht daran zu denken, nach Art des Hauptausschusses des Nationalrates einen Allgemeinen Wirtschaftsausschuß zu bilden mit einem obligatorischen Expertenforum, in dessen Gliederung die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz zum Ausdruck kommen müßte. Eins andere Entgleisungsform in

unserem öffentlichen Leben stellen die Interventionen in Rechtsprechung und Verwaltung dar, da sie zumeist von sachlichen Entscheidungen ablenken und damit die gleiche Behandlung der Staatsbürger verletzen. Gewiß, keine Polizei und Justiz ist unfehlbar, zumal in der Geschworenen- und Schöffengerichtsbarkeit gefühlsmäßige Erwägungen oft genug die rechtspolitischen zurückdrängen. Im Hinblick auf derartige Unzulänglichkeiten mußte, wie erinnerlich, die Staatsanwaltschaft Presseklagen der Behörden zurückziehen; bei einem Verfahren wegen eines eklatanten Raubüberfalles mußte der Oberste Gerichtshof die Entscheidung

eines Geschworenengerichtes beiseiteschieben und ein anderes Geschworenengericht für die neue Verhandlung delegieren. Es gab Verfolgungen staatlicher Funktionäre, die sich bald als vollkomi men ungerechtfertigt herausstellten, so gegen Bobies, Waldstätten, Heindl., sowie gegen andere, die der Öffentlichkeit gar nicht bekanntgeworden sind; der Fall Richter-Brohm sei hier nur angedeutet. Trotz alldem wird man unserer Richterschaft vertrauen dürfen, daß sie hier selbst auf Ordnung hält und sich dabei auch durchsetzt.

Auf viel breiteren Geleisen fährt das Interventionsprinzip in der Verwaltung auf. Zum Teil ist es sogar gesetzlich oder

ve. ordnungsmäßig verankert und kürzlich von Außenminister Dr. Gruber als „Kommissionitis“ dahin charakterisiert worden, daß Entscheidungen vom leitenden Beamten weg an ein Kollegium übertragen werden, in welchem ein Vetorecht nach Art des polnischen Reichstages überhaupt nichts weiterbringen läßt — zum Beispiel in der Zentralstelle für die Ein- und Ausfuhr! auf alle Fälle verflüchtigt sich hier die Verantwortlichkeit für Entscheidungen. Aus der Geschichte weiß jeder, daß hier ein Gefahrenmoment für die Demokratie als solche gegeben Ist. Das Kommissionsunwesen verpolitisiert und korrumpiert die Verwaltung; das Rechtsbewußtsein des Staatsbürgers wird erschüttert, wenn verwaltungsfremde Quereinflüsse mitentscheiden oder wenn gar die Gestion von Selbstverwaltungskörpern mit staatlich übertragenem Wirkungskreis sich auf verbandsfremde Personen erstreckt.

Noch ein kurzes Wort über öffentlich-rechtliche Entgleisungen im Alltag, deren gemeinsamer Nenner der durch den politischen Gruppenegoismus bedingte Niedergang der Rechtsidee ist. über die hier an erster Stelle zu nennende Mietengesetzgebung mit ihren politischen Hintergründen und ihren heute nur schwer mehr zu sanierenden Folgen sei hier nicht näher gesprochen. Gewisse volksdemokratische Rechtsauffassungen schimmern auch im alten und neuen Wiener Wiederaufbaugesetz durch; der ausgebombte Grundstückeigentümer haftet für die Schuttwegräumung nicht nur mit dem Grundstück, sondern mit seinem Gesamtver-

mögen: ist das Sozialpolitik oder Klassengesetzgebung? Von den zwangsweisen Grundabtretungen mit tief reduzierten Entschädigungen ganz zu schweigen.

Es würde zu weit führen, die Durchbrechung der staatsgrundgesetzlich gewährleisteten Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz durch jene Bestimmungen zu zeigen, die heute noch in retotsionsmäßiger Anwendung des nationalsozialistischen Begriffes der Kollektivschuld in Geltung stehen. Es gibt ja noch so viele andere Durchbrechungen der Rechtseinheit. Die Währungsschutzgesetze haben seinerzeit nur die Konten-und Sparbuchgläubiger geschädigt, die Interessen der Besitzer von Pfandbriefen, Kommunalschuldverschreibungen usw. in keiner Weise geschmälert. — Strenge Kostenrechnungsüberprüfungen schreiben die Preisgesetze der Privatwirtschaft vor; für Staatsbetriebe und deren Tariferstellungen gilt dies nicht. — Der Nationalrat beschloß vor eineinhalb Jahren ein Gesetz, welches die Arbeiterkammern davon befreien sollte, an die bei ihnen bis 1938 eingestellten Personen Pensionen zu zahlen, obwohl der Oberste Gerichtshof diese Zahlungspflicht als bestehend erkannt hatte; nur der Einspruch des Bundesrates verhinderte eine derartige Rechtsverletzung. Aber diese machte Schule. Wenige Wochen später wurde im Verlaufe einer Auseinandersetzung zweier niederösterreichischer Krankenkassen mit der Ärztekammer dieser zu verstehen gegeben, man werde Mittel und Wege finden, die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen durch den Nationalrat ändern zu lassen! — Vor etwa

Jahresfrist haben alle politischen Parteien für die öffentlichen Angestellten die Pensionsautomatik anerkannt; das heißt, Gehaltsverbesserungen wirken sich automatisch auch zugunsten der Pensionen aus. Längst ist dieses Versprechen vergessen. Bereits bei zwei Gehaltsnachziehungen blieben Pensionisten mit Nebenerwerb hievon ausgeschlossen. Ebenso auch wurde die den Aktiven bezahlte Qualitätsremuneration in die Bemessungsgrundlage für die Pensionsberechnung nicht einbezogen. — Ein krasser Bruch der Rechtseinheit droht von der geplanten Kürzung der Altersrenten und Pensionen bei Ausübung eines Nebenerwerbs; darüber war in

diesen Spalten schon mehrfach die Rede. Die Entgleisungen im öffentlichen Alltag ereignen sich am lautenden Band; nicht nur in Österreich, auch anderwärts. Will aber unsere Demokratie bestehen bleiben, dann muß sie wieder im öffentlichen Leben zu Treue und Glauben zurückfinden, zur Hochhaltung der Rechtsidee, trotz der damit verbundenen politischen Unbequemlichkeiten. Tatbestände und wohlerworbene Rechte sollen unantastbar sein, gegen sie soll man auch nicht mit dem Kuriosum „rückwirkender“ Gesetze ankämpfen; vor allem aber soll restlos wieder die staatsbürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz gelten.

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