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Sand in der Mühle der Gerechtigkeit

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Wie im täglichen Menschenleben, leuchten auch im Rechtsleben Alarmsignale auf, wenn sich dort der Körper, hier der Geist gegen die Natur versündigt. Sind es dort Schmerzen, die anzeigen, daß etwas im Körper des Menschen nicht in Ordnung ist, mahnt in den Bezirken des Rechts das Gewissen, wenn Vorschriften der Rechtsordnung mit solchen der Sittenordnung in Widerspruch geraten. Wenn sich solches auf dem Gebiete der Rechtsprechung als Massenerscheinung, nämlich in bezug auf ganze Gruppen der Gesellschaft, ereignet, ist es geboten, hierzu nicht zu schweigen, insonderheit, wenn sich, was vor einigen Jahren — sehr zum Schaden des Ansehens unserer Rechtsprechung — im Rahmen der Schweine-p-rei Verordnung geschah, heute auf der Ebene der Arbeitszeitordnung wiederholt.

Damals drohte eine Legion von Strafurteilen „im Namen der Republik“, Fleischhauer, Viehhändler und Kommissionäre wegen eines Verhaltens zu bestrafen, das — wie sich zeigte — nicht strafbar war, Urteile, die jedoch fast jedem Angehörigen dieses Standes das Brandmal des Vorbestraften aufgedrückt hätten. Und dies kam so:

Der Innenminister hatte im Einvernehmen mit dem Landwirtschaftsminister in der „Wiener Zeitung“ die sogenannte Schweinepreisverordnung kundgemacht, welche Händler, Kommissionäre und Fleischhauer — aber nicht den Urproduzenten — zur Einhaltung von Höchstpreisen verpflichtete. Für den Bauer waren keine Höchstpreise festgesetzt, denn dieser hätte unter den Gestehungskosten verkaufen müssen, um die Einhaltung der für den Letztverbraucher bestimmten Höchstpreise zu gewährleisten. Da es daher keine „Ab-Hof-Preise“ gab, erwies es sich, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse stärker als papierene Verordnungen waren, denn es bestanden naturgemäß nur zwei Möglichkeiten: den Kauf von Schweinen und Verkauf von Schweinefleisch einzustellen oder den Bauern kostendeckende Preise zu bezahlen. Die Lösung wurde auf typisch österreichische Art gefunden: Von höchster Stelle zwinkerte man Händlern, Kommissionären und Fleischhauern zu, die Wiener doch nicht ohne Schweinefleisch zu lassen, und durch Jahr und Tag wurde in konsequenter Befolgung dieses Zwirikerns das Schweinefleisch zu überhöhten Preisen verkauft, wogegen das Marktamt' trotz Kenntnis der Tatsachen so lange nicht einschritt, bis sich — wie so manches im menschlichen Leben — auch die Verhältnisse auf dem Schweinemarkt änderten und nach mehr als einem Jahr das Angebot größer als die Nachfrage wurde. Die ehernen Gesetze der Wirtschaft erreichten, was die papierenen Verordnungen nicht vermochten: die Letztverbraucherpreise gingen von selbst zurück. Erst nunmehr regte sich das amtliche Gewissen, und man tat, als ob man erst daraufkäme, was auch bis dahin jedermann wußte. Plötzlich regnete es Anzeigen und Strafanträge, und die Strafgerichte mußten nach dem Buchstaben des Gesetzes Urteile fällen, die die Kommissionäre der Wiener Großmarkthalle und von St. Marx nicht nur zu Freiheitsund Geldstrafen, sondern auch zu Wertersatzstrafen verurteilten, die in einzelnen mir bekannten Fällen 250.000, 300.000 und 400.000 Schilling betrugen. Da diese „Uebeltäter“ jeden einzelnen Kauf fein säuberlich registrierten und für die Ueberpreise auch Warenumsatzsteuer bezahlten, war es nicht schwer, daraufzukommen — was man natürlich ebenfalls früher wußte —, daß auch die Viehhändler auf dem Lande den

Bauern Ueberpreise zahlen mußten. Die couragierte Strafverfolgung sprang nun auf alle Bundesländer über, so daß in Dutzenden und Hunderten von Fällen den einen vor dem Kreisoder Landesgericht die Bestrafung mit der Existenzvernichtung, den anderen kleineren Uebeltätern vor den Bezirksgerichten die Einreihung in die Schar der wirklichen Rechtsbrecher drohte. Der Rechtsprechung aber drohte eine noch viel größere Gefahr, die Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden.

Da war es ein Fehler in der Veröffentlichung der Schweinepreisverordnung, der einen gesamten ehrsamen Stand vor weiterer unangebrachter Diskriminierung bewahrte. Nach den Bestimmungen des Preisregelungsgesetzes war der Innenminister nur im Einvernehmen mit den hieran vornehmlich beteiligten Ministerien zu einer Preisregelung berufen, und es war offenbar, daß daher auch das Einvernehmen mit dem Handelsministerium, das für die Wahrnehmung der Interessen des Handels geschaffen ist, hätte gepflogen werden müssen, das aber fehlte. Diese und andere Bedenken, die gegen die Gesetzmäßigkeit der Verordnung vorgebracht wurden, zogen nicht vor den Gerichtshöfen, die wie am laufenden Band existenzvernichtende Urteile fällten, wozu zu bemerken ist, daß ein Gericht nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, das Verfahren zu unterbrechen und beim Verfassungsgerichtshof Antrag auf Ueberprüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung zu stellen, wenn es die Bedenken teilt, die — hat es sie nicht von selbst — von der Verteidigung vorgebracht werden. Die Rechtsprechung der Einzelrichter auf dem Sitze der Gerichtshöfe griff auf die der Bezirksgerichte unseres Bundesgebietes über, zu deren Ehre es gesagt sei, daß es zwei dieser kleinen Bezirksgerichte, das in Langenlois und St. Peter, waren, die den dort in gleicher Weise vorgetragenen Bedenken Rechnung trugen und beim Verfassungsgerichtshof die Lieberprüfung der Schweinepreisverordnung auf ihre Gesetzmäßigkeit beantragten.

Und siehe da: Der Verfassungsgerichtshof sprach aus, daß selbstverständlich auch das Einvernehmen mit dem Bundesminister für Handel zu pflegen gewesen und mangels dieses Einvernehmens schon deshalb die Verordnung gesetzwidrig sei. Aber noch mehr: Im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof kam hervor, daß die Kundmachung wohl das gepflogene Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Landwirtschaft behauptete, diese Behauptung aber nicht zutraf, denn das Bundesministerium für Landwirtschaft hatte die Zustimmung überhaupt nicht gegeben. So verstummte — spät, aber doch — das Geklapper der Mühlen am rauschenden Bach der Gerechtigkeit.

Ich hätte an Vergangenem nicht gerührt, wäre es nicht notwendig, um aufzuzeigen, daß sich ein ähnliches Schauspiel wiederholt: heute auf der Ebene der Arbeitszeitordnung.

Gewiß ist dagegen nichts zu sagen, wenn die Arbeitszeit wie in Oesterreich vor 1938 gesetzlich geregelt wird, wobei Verstöße gegen eine solche Regelung naturgemäß und auf alle Fälle in einer Zeit der Vollbeschäftigung anders als in der würgenden Arbeitslosigkeit zu beurteilen und aus der Zeitbedingtheit der Verhältnisse nicht als gerichtlich strafbare Tatbestände zu qualifizieren sind. Daß sie nur den Verwaltungsbehörden zur Ahndung überlassen bleiben, galt sowohl für das altösterreichische Achtstundentagsgesetz als auch die deutsche Arbeitszeitordnung, die während der Annexion auf Grund des Wiedervereinigungsgesetzes in unseren Landen eingeführt wurde. Und dabei blieb es auch nach 1945. Und es blieb dabei bis 1953, demnach gerade in den Jahren der Arbeitslosigkeit, da es noch Sinn und Zweck gehabt hätte,

Verstöße gegen die Arbeitszeitordnung zu bestrafen. Ohne daß sich die Rechtslage änderte — plötzlich und unvorhergesehen, aber auch unvorhersehbar, ändert sich ausgerechnet in der Zeit der Vollbeschäftigung die bisherige Rechtsübung, denn erst 1953 kamen die. Arbeitsinspektorate darauf,' daß das, was in der Zeit der Arbeitslosigkeit als nicht strafbar angesehen und nicht verfolgt wurde, nunmehr in der Zeit der Vollbeschäftigung gerichtlich strafbar sei, und daß Unternehmer, die heute Ueberstunden arbeiten lassen müssen, gerichtlich strafbar seien, obgleich ohne diese Ueberstunden beispielsweise die Oper zeitgerecht nicht fertiggestellt werden könnte.

Diesem grotesken Verlangen der Arbeitsinspektorate, dem nunmehr die Anklagebehörden mit Strafanträgen folgen, leisteten vorerst die Erstgerichte keine Gefolgschaft und vermeinten

— meines Erachtens zu Recht —, daß das Straf-anwendungsgesetz 1945, auf Grund dessen überhaupt erst (aber erst acht Jahre später) die gerichtliche Strafbarkeit angenommen wurde, durch die Bestimmung des 27 des späteren Arbeitsinspektionsgesetzes vom Jahre 1947 derogiert wurde, wonach die Ahndung von Uebertretungen der Vorschriften der Arbeitszeit ( 3, Abs. 1 b) ausdrücklich den Verwaltungsbehörden übertragen wurde. Dem kann hinzugefügt werden, daß eine solche Regelung auch der österreichischen Rechtsordnung entspricht, da 26 des Verwaltungsstrafgesetzes bestimmt, daß grundsätzlich jede strafbare Handlung Verwaltungsdelikt ist, wenn das Gesetz nicht ausdrücklich die gerichtliche Zuständigkeit vorschreibt. Die Berufungsgerichte aber waren anderer Meinung. Mag es selbst zutreffend sein, was die Buchstabenjurisprudenz wahrhaben will

— es widerspricht der inneren Gerechtigkeit, etwas plötzlich gerichtlich strafbar zu erklären, was bei ungeänderter Rechtslage niemand einfiel, gerichtlich zu verfolgen, denn die innere Gerechtigkeit verlangt, daß der Staatsbürger schließlich und endlich auch wissen darf, ob sein Tun und Handeln mit dem Risiko belastet ist, hierfür bestraft zu werden.

Aber nicht genug damit: Ueber eine von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes erhobene Nichtigkeitsbeschwerde erkannte der Oberste Gerichtshof am 25. Februar 1955 zu 5 Os 178/55 zu Recht, es sei unzulässig gewesen, in dem Verstoß gegen die Arbeitszeitordnung nur eine Uebertretung zu sehen, denn jeder solche Verstoß sei ein „Vergehe n“. Die gewiß scharfsinnige Argumentation des Höchstgerichtes vermag die Stimme des Gewissens nicht zu beruhigen, daß hier etwas — sei es in der Rechtsprechung, sei es im Gesetz — nicht in Ordnung sei. Und es ist nach meinem Dafürhalten beides nicht in Ordnung und daher zu versuchen, Rechtsordnung und Rechtsprechung mit den Geboten der Sittenordnung in Einklang zu bringen.

Wiederum kommt derselbe Zufall — ein Kundmachungsfehler — gekränktem Rechtsgefühl zu Hilfe:

Die deutsche Arbeitszeitordnung wurde in Oesterreich auf Grund des Wiedervereinigungs-gesetzes eingeführt, das dem Führer und Reichskanzler oder dem von ihm hierzu ermächtigten Reichsminister gestattete, durch Verordnung Reichsrecht in Oesterreich mit Gesetzeskraft einzuführen. Eine solche Delegation der Gesetzgebungsgewalt widerspricht dem demokratischen Grundsatz der Trennung der Gewalten. Die Verflechtung der Legislative mit der Staatsführung begann im „tausendjährigen Reich“ mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, auf Grund dessen die Reichsregierung Gesetzgebungsgewalt ausüben konnte, die ihrerseits in dem Wiedervereinigungsgesetz die Gesetzgebungsgewalt- über den Führer und Reichskanzler bis hinuter zu dem von ihm hierzu ermächtigten Minister weitergab. Immerhin war aber der Reichsminister die letzte Stufe der Gesetzgebung. Müssen wir schon im wiedererstandenen Oesterreich reichsdeutsche Gesetze, die nicht ausdrücklich aufgehoben sind, weiter respektieren — zweifellos hat auch bezüglich dieser der österreichische Richter das Recht, was ihm auch in bezug auf jedes österreichische Gesetz gemäß Artikel 89 unserer Verfassung zusteht, zu prüfen, ob ein Gesetzesbefehl „gehörig kundgemacht“ wurde. Stellt das Gericht einen Kundmachungsfehler fest, so hat es die bezügliche Vorschrift nicht zu respektieren, sondern zu ignorieren. Die diesbezügliche Untersuchung aber führt zu dem Erkenntnis, daß — zufällig — die Verordnung, mit der die deutsche Arbeitszeitordnung in Oesterreich eingeführt wurde, nicht einmal von einem Minister, sondern nur „im Auftrag“ von Beamten der in Frage kommenden Ministerien gezeichnet ist, ihr daher auf Grund dieses Kundmachungsfehlers rechtliche Wirksamkeit fehlt.

Eine Reihe anderer .Erwägungen führt zum selben Ergebnis: Die deutsche Arbeitszeitordnung wurde durch eine spätere, die sogenannte Septemberverordnung 1939, ausdrücklich kraft Gesetzes aufgehoben. Ein Urteil des Berufungsgerichtes glaubt allerdings, aus einer weiteren, in der Dezemberverordnung 1939 enthaltenen Bestimmung schließen zu dürfen, daß damit wieder zu den Grundsätzen der Arbeitszeitordnung zurückgekehrt wurde, übersah jedoch, daß die fünf Jahre später am 31. August 1944 erlassene SechzigstundenwochenVerordnung bestimmte, daß „ab sofort die regelmäßige Arbeitszeit von 48 Wochenstunden um 12 Stunden wöchentlich zu erhöhen ist“. Haben die September- und Dezemberverordnungen 1939 Wirksamkeit, dann auch die Sechzigstunden-wochenverordnung aus dem Jahre 1944, denn sämtliche ruhen auf der Kriegswirtschaftsverordnung vom 1. September 1939, und keine ist ausdrücklich aufgehoben. Kommen hierzu noch die Erwägungen aus dem Arbeitsinspek-tionsgesetz, so hätte sehr wohl auch die Rechtsprechung zu einer den Geboten innerer Gerechtigkeit entsprechenden Regelung führen können, der es jedoch nicht bedarf, wenn gemäß den obigen Ausführungen die Arbeitszeitordnung in Oesterreich — allerdings nur auf Grund eines zufälligen Kundmachungsfehlers — nicht gilt.

Soll es aber nun tatsächlich nur von solchen zufälligen Fehlern abhängen, um zu verhüten, daß etwas als Unrecht und gerichtlich strafbar erkannt wird, das seiner Natur nach nicht Strafe verdient? Soll tatsächlich im Namen der Republik derjenige dafür noch bestraft werden, weil er in der Zeit der Vollbeschäftigung Mehrarbeit leistet? Bejaht man dies, dann, dürfte man in der losgebrochenen Lawine vor Strafanträgen nicht — wie dies geschieht — bei den Unternehmern haltmachen. Es zeigte sich, daß solche gutbezahlte Mehrarbeit über ausdrückliches Verlangen der Arbeiter und Angestellten geleistet wird, und diese wären daher für freiwillig geleistete Mehrarbeit aus dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Mitschuld ebenso verantwortlich wie der Unternehmer, würde man nicht einer gefährlichen Klassenjustiz das Tor öffnen.

Verlangen v hierbei tatsächlich bestehende Gesetze die Bestrafung freiwillig in Zeiten der Vollbeschäftigung geleisteter Mehrarbeit — ich fürchte sehr, daß solchen Gesetzen die Achtung versagt bliebe, und ich variiere das Wort, das unser Bundesminister für Justiz erst unlängst in Rotholz bei Jenbach auf der Tagung österreichischer Richter sprach:

,',Was wäre der Wert von Gesetzen, wenn diejenigen, an die sie sich richten, sich daran nicht halten, weil ihnen der Glaube und die

Achtung vor dem Gesetz geraubt worden sind?“

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