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Das Leben — ein Wagnis

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Das am 12. August dieses Jahres ausgegebene Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich veröffentlicht unter Nr. 145 das Gesetz „betreffend die Abschöpfung von Mehrerlösen, Ausgleichs- und Unterschiedsbeträgen“.

Ein fatales Ereignis lag dieser gesetzgeberischen Schöpfung zugrunde I

Eine Verfügung, auf Grund welcher „im Zusammenhang mit preisregelnden Maßnahmen Mehrerlöse abzuführen, Ausgleichsbeträge zu entrichten oder Unterschiedsbeträge, die sich aus Preiserhöhungen für Warenbestände ergeben, zu leisten“ waren, wurde vom Verfassungsgerichtshof als gesetzwidrig erkannt. Als Antwort auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes sprach aber die Gesetzgebung aus, daß die vom Ver-fassungsgericbtshof als gesetzwidrig erkannten Maßnahmen nunmehr durch dieses Gesetz rückwirkend mit 1. Jänner 1946 „als rechtswirksam zu gelten“ haben.

Diese Regelung mag vom fiskalischen Gesichtspunkte aus zweckmäßig sein, sie erschüttert jedoch in beängstigender Weise das Vertrauen in die Gesetzgebung. Wohin gelangen wir, wenn gesetzwidrige Eingriffe in das Rechtsleben durch rückwirkende Gesetze legalisiert werdenl

Die Forderung soll nicht erst einer Begründung bedürfen, daß das Verbot der rückwirkenden Kraft von Gesetzen nicht nur für das Gebiet des Strafrechtes, sondern auch für das Privat-und daher auch das Wirtschaftsrecht seine Geltung hat.

Auf dem Gebiete des Straf rechtes fehlt im Gegensatze zur Regelung der Ständeverfassung 1934 in unserer geltenden Verfassung ein ausdrückliches Verbot der Rückwirkung von Gesetzen — man könnte glauben, weil ein solches Verbot schon der Natur jedes Strafgesetzes entspricht und daher nicht erst ausdrücklich ausgesprochen werden muß. Aber diese Gesetzeslücke der Verfassung ermöglichte es, dem durch die Strafgesetznovelle 1931 geschaffenen Tatbestand der „geschäftlichen Untreue“ (BGBl. Nr. 365/31) die für einen bestimmten Zweck gewünschte rückwirkende Kraft zuzuerkennen, denn der neugeschaffene 205 c StG sollte „auch auf Handlungen anzuwenden sein, die vor diesem Tage (15. Dezember 1931) begangen wurden“. Bei dieser lex Ehrenfest sollte demnach der Zweck die Mittel heiligen. Aber nicht einmal das gelang! Von jedem im österreichischen Kulturkreis aufgewachsenen Juristen mußte es wahrlich beschämend empfunden werden, als uns Portugal in der Begründung der Abweisung der begehrten Aus-lieferungdieLektionerteilte, daß es in der Natur von Strafgesetzen läge, daß sie kein'e rückwirkende Kraft besitzen.

Auf dem Gebiete des Privatrechtes weist das Kundin? chungs-patent zur Einführung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches vom 1. Juni 1811 ausdrücklich darauf hin, daß „Gesetze nicht zurückwirken“. Aus dem Umstände aber, daß dieser Grundsatz wohl deshalb, weil er selbstverständlich ist, gegenwärtig verfassungsgesetzlich nicht verankert ist, schöpft man gegen den Sinn des Rechts die Gelegenheit, das Gegenteil zu tun.

Selbst strafgesetzliche Bestimmungen traten, wie dies der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 12. März 1948 (2 Os 992/47) aussprach, beispielsweise nach dem Außenhandelsverkehrsgesetz rückwirkend in Kraft, nicht zu reden von den Bestimmungen des Verbotsgesetzes und des Kriegsverbrechergesetzes. Es soll aber nicht so weit kommen, daß der Täter zum Zeitpunkt der Tat nicht weiß, ob seine Handlung überhaupt mit Strafe, und dann mit welcher Strafe bedroht ist, wie denn auch rückwirkende Gesetze im Gebiete des Privatrechtes das Leben zum Wagnis gestalten.

Wohin solche Zustände letzten Endes führen, zeige ich an dem Beispiel einer Zeit, in der untersystematischer UmkehrungallerWerte auch der Grundsatz des Verbotes der Rückwirkung von Gesetzen mißachtet wurde:

Es war das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941, welches bestimmte, daß von der Wirksamkeit dieses Gesetzes an der gefährliche Gewohnheitsverbrecher und der Sittlichkeitsverbrecher der Todesstrafe verfällt, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern. Nach 10, Abs. 2, sollte dieses Gesetz auch für Straftaten gelten, die vor seinem Inkrafttreten begangen wurden.

Im Jahre 1939 wurde nun von der Gestapo ein bis dorthin unbescholtener Lehrer verhaftet. Die politische Untersuchung verlief ergebnislos. Hingegen gestand der Lehrer unter den Prügeln der Gestapo aufrichtig, sich in der Zeit von 1936 bis 1939 an Mädchen vergangen zu haben. Er war der Schändung geständig, worauf nach dem damals geltenden österreichischen Strafgesetz ( 128) Kerker von ein bis fünf Jahren und nur bei sehr erschwerenden Umständen bis zu zehn Jahren stand. Bei der Verhandlung wurde über Antrag des Verteidigers die Psychiatrierung des Beschuldigten beschlossen. Die Durchführung verzögerte sich, weil zu diesem Zwecke der Mann nach Wien überstellt werden mußte, und die neuerliche Anberaumung der Verhandlung verzögerte sich auch dadurch, weil nach durchgeführter Psychiatrierung wohl der Akt zurückgeschickt, der Täter jedoch erst nach wiederholter Urgenz rücküberstellt wurde, so daß zufolge dieser Zufälligkeiten die fortgesetzte Verhandlung auf einen Termin wenige Tage nach dem Wirksamkeitsbeginn jenes Gesetzes anberaumt wurde, welches rückwirkend die Verhängung der Todesstrafe ermöglichte. Bei der Verhandlung dachte niemand an dieses neue Gesetz, am Verhandlungstage war das in Berlin ausgegebene Reichsgesetzblatt, in dem das Gesetz veröffentlicht wurde, auch noch gar nicht eingelangt. Der Täter wurde denn zu einer achtjährigen Zuchthausstrafe verurteilt und das Urteil wurde rechtskräftig.

Nach mehr als einem weiteren Jahr kam man in Berlin darauf, daß es der Senat übersehen hatte, daß am Tage der Urteilsfällung schon durch einige Tage das besagte Gesetz galt, das mit rückwirkender Kraft die Todesstrafe ermöglichte. Der Reichsanwalt erhob die außerordentliche Nichtigkeitsbeschwerde, das Reichsgericht in Leipzig hob das Urteil auf und ein Wiener Sondergericht wurde mit der Neudurchführung des Falles betraut. Und es sprach auf Grund des rückwirkenden Gesetzes die Todesstrafe aus.

Es nützte nichts, daß ich — als ich mich nun des Falles annahm — in Berlin darauf verwies, daß es jedem Rechtsgefühl widerstreitet, einen Angeklagten letzten Endes dafür mit dem Tode zu bestrafen, weil sein Verteidiger pflichtgemäß seine Psychiatrierung betrieb und durchsetzte, ohne welche die Verhandlung vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes durchgeführt worden wäre und niemals die Todesstrafe verhängt hätte werden können. Es half in dieser erbarmungslosen Zeit alles nichts: das Todesurteil wurde nicht nur gesprochen, es wurde auch vollzogen.

Damit aber veranschauliche ich die Wirkungen rückwirkender Gesetze. Man kann wahrhaft sagen, daß durch jedes rückwirkende Gesetz — sei es auf dem Gebiete des Straf- oder Privatrechtes — das Leben zum Wagnis wird.

Darum fort mit rückwirkenden Gesetzen!

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