6569439-1950_13_04.jpg
Digital In Arbeit

Die Grenzen des freien Ermessens

Werbung
Werbung
Werbung

Als vor kurzem ein hoher österreichischer Richter nach 50jähriger Tätigkeit von seinem Amte Abschied nahm, sprach er in einem vor der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag über den „Niedergang der Rechtsidee“. Er sprach hiebei von der uns allen bekannten „Erschütterung der Vorstellung vom Recht“ und davon, daß die „Neigung zu eigenmächtiger, gewalttätiger Durchsetzung des eigenen Interesses“ in den Bezirken des einzelnen, aber — was viel schlimmer ist — auch im Gebiete der Verwaltung auftritt. Und Professor Klang hat hiebei recht, denn allzuoft ist „der Geist der Verfassung in der Tätigkeit der Verwaltungsbehörden nicht ausreichend zu spüren“.

Die Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist erfreulicherweise in zunehmendem Maße daran, hierin Remedur zu schaffen.

Die Verfassung stellt rücksichtlich der Verwaltung zwei Grundsätze auf:

Den ersten in Artikel 18, der besagt: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.“

Der zweite Grundsatz ist im Artikel 130 zu finden, der den Verwaltungsgerichtshof dazu beruft, über die Rechtswidrigkeit von Bescheiden zu erkennen. Hienach liegt eine vom Verwaltungsgerichtshof überprüfbare Rechtswidrigkeit vor, wenn die Behörde von dem ihr eingeräumten freien Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat.

Das freie Ermessen wurde so zu einem Rechtsbegriff. Es wird der Willkür entzogen! Es darf nicht übersehen werden, daß die verfassuhgsgesetzliche Bindung des freien Ermessens, „nur im Sinne des Gesetzes Gebrauch zu machen“, erst durch die Verfassung der ersten Republik (1920) geschaffen wurde. Die Materialien zu dieser Gesetzesbestimmung verweisen ausdrücklich darauf, daß nunmehr der Verwaltungsgerichtshof selbst auszusprechen haben wird, ob die jeweils angefochtene Entscheidung „im Sinne des das Ermessen einräumenden Gesetzes erging“.

Dergestalt kommt der richtigen Beantwortung der Frage entscheidende Bedeutung zu, wann die Behörde von ihrem Ermessen gesetzmäßigen Gebrauch macht, mit anderen Worten: „Was entspricht dem Sinne des Gesetzes?“

Gesetze sollen und wollen das menschliche Leben regeln, das — da wir ein Kulturstaat sind — auch einem ungeschriebenen, doch deshalb nicht weniger wirksamen Gesetz, dem Sittengesetz, unterliegt. Jedes menschliche Gesetz hat demnach in diesem Sittengesetz seine Wurzel, jede auf Grund eines Gesetzes erlassene Verfügung aber im Sittengesetz auch seine Grenze, denn Gesetzgebung und Verwaltung eines gesitteten Staates können, sollen und dürfen nur dem Sittengesetz entsprechende Vorschriften erlassen. Die Verwaltung macht daher niemals im Sinne des das Ermessen einräumenden Gesetzes Gebrauch, wenn ihre Entscheidung im Widerspruch mit dem Sittengesetz gerät. Hierzulande aber hat im Namen des Sittengesetzes Geltung das Christ und Jude in gleicher Weise verpflichtende göttliche Gesetz der zehn Gebote, deren eines besagt: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut.“

Im Rahmen des Kinorechts sprach der Verwaltungsgerichtshof in jüngster Zeit in einem grundsätzlichen Erkenntnis aus, daß durch die angefochtene Entscheidung Gebote von Treu und Glauben verletzt wurden. In der Verweigerung einer Kinokonzession an den Konzessionswerber erblickte der Verwaltungsgerichtshof ein Uberschreiten der Ermessensfreiheit der belangten Behörde, da diese mit ihrer Entscheidung „den dem Gesetz fremden Zweck verfolgte, der KIBA , (Kino-Betriebs-AG, einem gemeindeeigenen Unternehmen) um jeden Preis und unter Zurücksetzung aller sachlichen Momente die Konzession zu geben“.

Der Verwaltungsgerichtshof bekannte sich schon in dem Erkenntnis vom 29. Oktober 1929, A 10/29, zu dem Satz: „Es müsse auch für den Verkehr zwischen Behörden und Parteien ebenso wie im privaten Geschäftsverkehr das ungeschriebene Gesetz von Treu und Glauben Geltung haben.“

Dem widersprach eine in weitesten Kreisen nicht verstandene und immer unerträglicher gewordene Praxis.

Der Wiener Magistrat nahm das Recht in Anspruch, nach dem Wiener Kinogesetz Konzessionen in einer Art zu verleihen, welche auf die einfachste Weise dazu führt, ohne gesetzliche Unterlage — also nicht im Wege der Gesetzgebung, sondern im Weg'e der Verwaltung — Kinos zu sozialisieren. Was auf dem Wege des Kinorechts geschah, könnte natürlich in anderen Rechtsgebieten nicht verweigert werden. Das Rezept aber lautete ganz einfach:

Nach Ablauf der Konzessionsdauer — und jede Kinokonzession ist zeitlich beschränkt erteilt — verweigert die Behörde die Verlängerung der Konzession, oder nach dem Tode des bisherigen Konzessionärs die Neuerteilung der Konzession dem Einschreiter und erteilt diese der „KIBA“, einem gemeindeeigenen Unternehmen. Diese kann allerdings mit dieser Konzession rechtlich nichts anfangen, denn sie besitzt nur die Konzession, während die Betriebsräume, die Apparatur, das Inventar, der goodwill, kurzum das spielfertige Unternehmen einem anderen gehört. Und doch käme durch eine solche Konzessionserteilung die KIBA mit der Zeit auch in das Besitztum des anderen, denn dieser andere könnte es wirtschaftlich nicht aushalten, denn e r hätte das spielfertige Unternehmen ohne Konzession, die KIBA aber die Konzession ohne Unternehmen, Der Druck der Verhältnisse müßte schließlich den Unternehmer zermürben, er müßte sein Unternehmen, das Ergebnis eines arbeitsreichen Lebens, schließlich der KIBA überantworten.

Das Wiener Kinogesetz räumt — wie der Verwaltungsgerichtshof ausspricht — gewiß niemandem eine Vorzugsstellung bei der Verleihung der Konzession ein. Die Ermessensausübung aber findet doch ihre Grenze, wo sie mit dem Sinn des Gesetzes in Widerspruch gerät. Doktor E r h a r t, Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes, erklärte in vielbeachteten Ausführungen in den „Juristischen Blättern“, Seite 493/1948:

„Es kann nicht bezweifelt werden, daß es vom Standpunkt der Rechtssicherheit und des rechtsstaatlichen Gedankens überhaupt einen gewaltigen Unterschied ausmacht, ob dem freien Ermessen die Entscheidungsgewalt in Angelegenheiten zugestanden ist, bei denen es sich nur um einen Zuwachs zu dem rechtlichen Besitzstand des einzelnen handelt oder ob es die Herrschaft auch dort besitzt, wo die Entscheidung in einen bereits vorhandenen Besitzstand einbricht. Es gibt kein Gesetz österreichischen Ursprungs, welches die Ermessenshoheit über das zuerst genannte Gebiet hinaus ausdehnen würde.“

Einen Einbruch in einen vorhandenen Besitzstand aber würde es bedeuten, wären die aufgezeigten Konzessionserteilungen zulässig, denn freies Ermessen wäre sodann nur der Name, unter dem schwerem Unrecht Vorschub geleistet würde. Der Geist der Verfassung aber würde verhöhnt, würde es gestattet, Entscheidungen bestehen zu lassen, bei denen die Behörde von ihrer Ermessensfreiheit eben nicht „im Sinne des Gesetzes“ Gebrauch gemacht hat. Denn was von jeder einzelnen Person verlangt werden muß — Anständigkeit im privaten, beruflichen und geschäftlichen Handeln — davon kann auch die Verwaltung nicht dispensiert werden. Auch ihren Entscheidungen muß ein Ethos zugrunde liegen: Das Verhalten des Beamten wird vom Berufsethos, das Verhalten des Arztes vom Ärzteethos, das Verhalten des Anwalts vom Anwaltsethos geleitet, das Verhalten der Behörde aber muß vom Ethos der Verwaltung geleitet werden.

Wohin wir gelangen, wenn wir dieses Verlangen mißachten, wenn die Grenze überschritten wird, die das Ethos dem Verhalten des einzelnen wie der Allgemeinheit, aber auch und vor allem dem Verhalten der Verwaltung setzt, das haben wir in vergangener Zeit gesehen: in dem Verhalten der Ärzte, die sich für Zwecke mißbrauchen ließen, für die die Ärzte nicht geschaffen sind, in dem Verhalten von Behörden, deren Träger später die Mißachtung dieses Ethos als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenwürde zu verantworten hatten.

Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein! Wie der einzelne im geschäftlichen Leben nicht etwas verkaufen kann, was ihm nicht gehört, sollte es nicht erst der Belehrung des Verwaltungsgerichtshofes bedürfen, daß es nicht nur gegen die Gebote von Treu und Glauben verstößt, sondern an sich ein Unding ist, eine Konzession auf ein Unternehmen zu erteilen, das einem andern gehört.

Dem Verwaltungsgerichthof wurde allerdings das Recht abgesprochen, die gesetzmäßige Ausübung des freien Ermessens näher zu untersuchen. „Der Hinweis auf das freie Ermessen der Behörde“ genüge, und dies sei geschehen, wenn die Behörde zum Ausdruck gebracht habe, daß „ihre Entscheidung ein Akt ihres freien Ermessens sei“. Der Verwaltungsgerichtshof faßt jedoch seine Rolle anders auf. Er nahm das Nachprüfungsrecht der Betätigung des freien Ermessens dahin in Anspruch, ob im Einzelfall vom freien Ermessen „im Sinne des Gesetzes“ Gebrauch gemacht wurde, und ließ sich nicht zu einem gedankenlosen Automaten degradieren, der er sein müßte, wollte man ihm zumuten, einfach jede Entscheidung zu schlucken, wenn sie nur als Ermessensentscheidung deklariert wird. Der Verwaltungsgerichtshof hat vielmehr das

Recht in Anspruch genommen, auch zu untersuchen, ob sie auch tatsächlich eine solche i s t.

Wenn Professor Klang , in seinem eingangs erwähnten Vortrag „Kostproben“ für -Unsitten der Verwaltung gab, wären diese jederzeit zu bereichern. Wenn der Vortrag von einer erhofften Besserung der Sitte spricht und erklärt, daß davon

„noch nicht viel zu sehen ist und die Achtung vor Recht und Gesetz auf einem Tiefstand gesunken sind, der auf die Dauer nicht ohne Gefahr für das Staatsgefüge bleiben kann“ dann ist es die Nutzanwendung der besprochenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes, daß wir nunmehr doch langsam dazu kommen, auf dem Gebiete der Verwaltung Klarheit darüber zu gewinnen, wo der gesetzmäßige Gebrauch des freien Ermessens endet und die Willkür beginnt, womit ein bemerkenswerter Beitrag zur Besserung der Sitten auf dem Gebiete der Verwaltung geleistet ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung