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Hauch einer fernen Zeit

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Der Verwaltungsgerichtshof fällte am 25. Oktober des Jahres 1876 sein erstes Erkenntnis, dessen Gegenstand eine noch in Metzen Getreide bemessene Reallast war, die das k. k. Ministerium für Kultur und Unterricht nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in gesetzwidriger Weise unter Verletzung der Rechte des Pfarrers an eine sogenannte Lokalie (Seelsorgestation) zugewiesen hatte. Den Leser berührt der Hauch einer fernen Zeit. In den ersten Jahrzehnten der Verwaltungsgerichtsbarkeit waren aber Streitigkeiten ähnlicher Art und Auseinandersetzungen um Wildschäden neben den bis heute bedeutungsvoll gebliebenen Gewerbe- und Bausachen sowie vor allem Gebührenangelegenheiten, wichtige Felder der Tätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes. Die Erkenntnissammlungen spiegeln aber auch in eindrucksvoller Weise die Probleme des Nationalitätenrechts der weiten Monarchie.

Seit 1883 entwickelte sich mit der Sozialversicherung und den Arbeiterschutzvorschriften ein neues wichtiges Feld von Aufgaben der Rechtsprechung. Eine erste schwere Überlastung trat im Gefolge des neuen Personalsteuerrechtes seit 1896 auf. Aber auch diesmal gelang es, den Anfall zu meistern. Während des ersten Weltkrieges wuchsen die Aufgaben des Staates und damit der Verwaltungsgerichtsbarkeit sprunghaft an. Der Gerichtshof hatte einen jährlichen Anfall von 10.000 Beschwerden in Familienunterhaltssachen zu bewältigen.

Mit dem Ende der Monarchie schrumpft zwar der Raum, auf den sich die Tätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes bezog, zusammen. Die Kräfte des alten Verwaltungsgerichtshofes verteilen sich in die Nachfolgestaaten. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof in Warschau wird nacheinander von drei, das Oberste Verwaltungsgericht in Prag nacheinander von zwei Räten des altösterreichischen Verwaltungsgerichtshofes geleitet. Die Arbeit des neuen österreichischen Verwaltungsgerichtshofes aber wächst infolge der weiteren Intensivierung der Staatstätigkeit ständig an. Die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat wandelt auch die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Gesetzgeber ahnt die Gefahr einer Überlastung und beschränkt auf wichtigen Gebieten, wo ein Massenanfall von Beschwerden und eine Lähmung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu erwarten stand, das Beschwerderecht, ol.ne aber die Kontrollfunktion zur Gänze auszuschalten.

Das Jahr 1925 brachte eine der schönsten Früchte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf dem Gebiete des Verfahrensrechtes, die Verwaltungsverfahrensgesetze; in ihnen ist die Summe der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Verfahrensfragen gezogene sie haben weit über die Grenzen Österreichs hinaus als Vorbild gewirkt.

Die Verfassung 1934 verbindet den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof zum Bundesgerichtshof. Der autoritäre Staat stellt die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor schwere Probleme, ohne aber sonst ihr Wesen zu gefährden., Das Jahr 1938 bringt mit dem vorläufigen Ende Österreichs und einem totalitären Staat das Ende einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle wird bald weithin von der Zulassung durch die Verwaltungsbehörden abhängig. Der totale Staat beseitigt die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht formell, sucht sie sich aber mit mancherlei Maßnahmen gefügig zu machen.

1945 gilt es, den österreichischen Verwaltungsgerichtshof wieder aufzubauen. Ein Mitschöpfer der Verfahrensgesetze, Emmerich C o r e t h, wird Präsident des neuen Gerichtshofes, der die Überlieferung bewußt fortsetzt. Die Schwierigkeiten, mit denen das verbunden war, kennzeichnete in höchst eindrucksvoller Weise der im Jahre 1960 verstorbene ehemalige Vizepräsident des Verwaltungsgerichtshofes, E h r h a r t, als er im Jahre 1951 aus Anlaß des 75jährigen Bestehens des Verwaltungsgerichtshofes die Festrede hielt:

„Als im Jahre 1945 Österreich und die Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder erstanden, lag eine ungeheure Krise über das Land gebreitet. Im Gegensatz zu jener von 1918 war sie diesmal vom Schimmer der Befreiung und der Hoffnung überglänzt, ihre äußeren Auswirkungen waren nicht minder schwer. Ein wirtschaftliches Trümmerfeld, eine Hochflut neuer, dringender Probleme, die Notwendigkeit, sich vorläufig in großem Ausmaß Normen von fremder Herkunft zu bedienen, die zum Teil auf völlig verschiedenen weltanschaulichen und staatsrechtlichen Voraussetzungen beruhten, dazu ein zahlenmäßig ungenügendes, zum Teil ungeschultes Personal — es war kein Wunder, daß die Verwaltung damals in das Chaos zu versinken drohte. Wir waren anfangs nur ein kleiner Stab, Leute aus früheren Perioden der Verwaltungsgerichtsbarkeit .. . Wir strengten unsere Kräfte an, in dieses Wirrsal, soweit es an uns lag, am Ariadnefaden unserer hohen Tradition eine Ordnung zu bringen. Völlig neue Probleme, die von Grund aus durchdacht werden mußten, die Notwendigkeit, die Lösung unter dem unabweislichen Bedürfnis der faktischen Situation zu betrachten, die ohne Präzedenz dastand, dazu ein mächtiges Crescendo der anfallenden Beschwerden; die Lage war anfangs beinahe verzweifelt. Dann kam Hilfe durch das Eintreffen der Jüngeren und Jungen. Dank ihrer bedingungslosen Hingabe an ihr Amt und ihrer persönlichen Fähigkeiten konnten wir diese Last allmählich abbürden . .. Das persönliche Verdienst des einzelnen also, aber dazu ein zweites Element, das man von jeher beobachten konnte, die geheimnisvolle Assimilationskraft des Verwaltungsgerichtshofes, die einem jeden, der in seinen Kreis tritt, über alle Verschiedenheit der Individualität hinweg ein gemeinsames Ideal und eine bestimmte geistige Grundhaltung aufprägt... Und noch ein anderes, das in der Tradition des Verwaltungsgerichtshofes wurzelt und nie untergehen darf, das besondere Verhältnis gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Wertschätzung und Hilfsbereitschaft und das stets wache Bewußtsein der gemeinsamen Arbeit, welches es verhindert, daß der notwendige und fruchtbare, oft hitzige Gegensatz der sachlichen Irrungen zur Ranküne und zum ehrgeizigen Festhalten an der eigenen Ansicht um jeden Preis und gegen besseres Wissen wird. Das ist der Korpsgeist im guten Sinne des Wortes, der den Verwaltungsgerichtshof von Anfang an ausgezeichnet hat, und ohne den keine zusammengefaßte Gruppe ihr Bestes leisten kann, ob sie ein Regiment im Felde ist oder das Gremium eines Gerichtshofes.“

Soweit die Worte eines Mannes, der selbst dem Verwaltungsgerichtshof durch dreißig Jahre angehört hat, ihn von Grund auf kannte, und einer der stärksten Träger seiner Überlieferung war.

Der Gerichtshof erbrachte aus der Kraft seiner Überlieferung, gerade in der schweren Situation der Nachkriegszeit, eine gewaltige Leistung. So wird etwa das Reichsleistungsgesetz, ein handliches Werkzeug des totalen Staates und durch seine Weitergeltung eine schwere Versuchung in den Notständen der Nachkriegszeit, durch die Rechtsprechung in den einschränkenden Rahmen der österreichischen Rechtsordnung gestellt und auf diese Weise „gezähmt“.

Die Fülle der Beschwerden, die im Zusammenhang mit dem Reichsleistungsgesetz, dem NS-Gesetz und dem Bedarfsdeckungsstrafgesetz anfielen, verursachten manche Schwierigkeit, doch schwand die Zahl solcher Beschwerden mit der Überwindung der unmittelbaren Nachkriegskrisen dahin. Schwierigste Probleme aber stellt nach wie vor das Rückstellungsrecht. Mit dem Ende der Bewirtschaftung des Wohnraumes trat eine wichtige Kontrollaufgabe des Gerichtshofes in den Hintergrund. Unter den neuen Gegebenheiten einer sich belebenden Wirtschaft fanden sich aber neue Anlässe, den Verwaltungsgerichtshof anzurufen. War etwa in der ersten Nachkriegszeit auf dem Gebiet des Bauwesens der Streit um notstandspolizeiliche Maßnahmen und baupolizeiliche Aufträge im Vordergrund gestanden, wobei der Gerichtshof die Rechtsprechung über eine Notwendigkeit der Prüfung der wirtschaftlichen Zu-mutbarkeit (nicht der Wirtschaftlichkeit) solcher Aufträge entwickelt hat, brachte die Konjunktur vermehrten

Streit zwischen Bauwerbern und Anrainern um die Zulässigkeit von Bauvorhaben. Im Gewerberecht mußte sich der Verwaltungsgerichtshof im steigenden Ausmaß mit den Fragen des Lokalbedarfes befassen und entwickelte, in Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen über die Bedeutung der Betriebsformen der Gast- und Schankgewerbe, jene Rechtsprechung, die gegen den Widerstand gewichtiger Interessentengruppen sozusagen die rechtliche Lebensgrundlage für die Espressos, Rasthäuser usw. schuf. Der Streit um die Zulässigkeit von Betriebsanlagen spiegelt in eindrucksvoller Weise große Probleme der Zeit wider, etwa die Aufgabe der Rechtsordnung bei der Bekämpfung des Lärms. Der großzügige Ausbau der Wasserkräfte stellt den Gerichtshof auf dem Gebiet des Wasserrechts und des Elektrizitätsrechtes vor schwierige Probleme. Gerade hier handelt es sich oft auch im Einzelfall um Entscheidungen von beträchtlicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Auf dem Rechtsgebiet der Staatsbürgerschaft in dem immer noch nicht durch Gesetze österreichischen Ursprungs neugeordneten Bereich der Fürsorge bleiben aktuelle und schwierige Fragen zu lösen.

Auf dem Gebiet des Steuerrechts wuchsen im Zeitalter der Konjunktur die Beschwerden gewaltig an. Das Finanzrecht stellt heute nicht eine mehr oder minder stabile Normenordnung dar, sondern ist in der Auseinandersetzung der einander widerstreitenden Interessen in ständiger Bewegung begriffen. Auch auf diesem Rechtsgebiet war die schwierige Aufgabe gestellt, einen großen Normenkomplex fremden Ursprungs mit dem Ganzen der österreichischen Rechtsordnung zu „versöhnen“.

Eine besonders wichtige Aufgabe von hohem Rang erwächst dem Verwaltungsgerichtshof dadurch, daß ihm, und zwar, nach einer jüngst erfolgten wichtigen Klarstellung, seinen Senaten, das Recht zusteht, beim Verfassungsgerichtshof die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu beantragen. Auch kommt seinen Senaten das Recht zu, dieselbe Prüfung hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen zu begehren. In diesen beiden Funktionen konnte der Verwaltungsgerichtshof in den letzten Jahren mehrfach zu wichtigen Klarstellungen und zur Bereinigung der Rechtsordnung beitragen.

Der Überblick, der in diesem Aufsatz versucht wurde, sollte aufzeigen, daß das Entstehen von Rückständen beim Verwaltungsgerichtshof und die Bitterkeit, die sie verursachen, zu einem guten Teil Ausdruck einer Entwicklung sind, die zu einer ständigen Zunahme der gesetzgeberischen und der vollziehenden Tätigkeit des Staates geführt haben, während die Verantwortlichen nicht immer rechtzeitig bereit waren, die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Personalstand nach in dem jeweils erforderlichen Maße der neuen Situation anzupassen. Den Rückständen kommt aber nicht etwa einfach wegen der Zunahme der Materien und der Staatstätigkeit erhöhte Bedeutung zu: Je mehr die „Daseinsvorsorge“ Gegenstand der Rechtsprechung wird, desto stärker muß auch das Bedürfnis nach einer Beschleunigung der Entscheidungen sein.

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