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Fünfzig Jahre bürgerliche Rechtspflege

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Kaum auf irgendeinem Gebiete der Gesetzgebung gegen Ende des 19. Jahrhunderts war man im alten Österreich derart im Rückstände, wie auf dem des bürgerlichen Gerichtswesens. Während 1873 eine durchaus modern gedachte Strafprozeßordnung mit freier Würdigung der vorliegenden Beweise, mit voller Mündlichkeit und unmittelbarer Verhandlung vor dem urteilenden Richter, auch mit Schwurgerichten, eingeführt worden war und sich bewährt hatte — Sie gilt im wesentlichen noch heute unverändert —, war die bürgerliche Gerichtsbarkeit, also die Rechtspflege im Gebiete des Privatrechtes, Zivilprozeß und Verfahren der Zwangsvollstreckung, ebenso rückständig und veraltet, wie gegen alles Gefühl einer geläuterten, vorgeschrittenen Justiz. Eine allgemeine Gerichtsordnung von. 1781 und eine kaum übersehbare Fülle kleiner und mittelgroßer Nachtrags- und Sondergesetze belasteten den Richter und waren der rechtsuchenden Bevölkerung unverständlich. Es bestanden eine ganze Anzahl von verschiedenen Verfahrensarten neben dem alten Grundgesetze von 1781, ohne dieses aber zu verbessern oder zu ergänzen. Alle diese Gesetze ruhten auf der Grundlage der Schriftlichkeit des Verfahrens, das einer großen Zahl von Formvorschriften unterlag, denen nur Berufsjuristen gewachsen waren, weshalb auch die Gesetze in weitem Umfang den Anwaltszwang verordnet hatten. Schon durch ihn waren die wahren Interessenten der Rechtsstreite, Kläger und Geklagter, von ihrer eigenen Angelegenheit ferngehalten, sie hatten überhaupt keine Gelegenheit, persönlich und in mündlicher Rede vor ihren Richter zu kommen. Eine papierene Wand zahlreicher, in den Anwaltskanzleien mit viel Arbeit und Kosten angefertigter Schriften, Satzschriften genannt, schlossen das Volk von seinen Richtern ab. Dazu kam eine aus grauer Vorzeit übernommene „Beweistheorie“, derzufolge nicht die Überzeugung des Richters den durchgeführten Beweisen Wert und überzeugende Kraft zuerkannte. Das Gesetz bestimmte abstrakt, schablonenhaft, den Wert der Beweismittel, unterschied die Zeugen in klassische, bedenkliche und verwerfliche, erkannte zwei Sachverständigen vollen, unwiderleglichen Beweis zu und — wohl das schlimmste von allem — es legte durch ein gestuftes System von Eiden der zum Schwure zugelassenen Partei die wirkliche Entscheidung des Prozesses, also dessen Gewinn oder Verlust, in den Mund und in ihr Gewissen. Eigentlich urteilte sie, denn der Richter hatte nur ein „bedingtes“ Endurteil gesprochen, das der Klage Folge gab oder sie abwies, je nachdem dieser oder jener Prozeßeid geschworen wurde.

Welche Versuchung für die schwörende Partei! Wer, wie der Verfasser dieser Zeilen, noch durch Jahre hindurch als Richter die alte Prozeßgesetzgebung vor 1898 mitgemacht hat, wird sich der bedenklichen Vorkommnisse erinnern, die dringenden Verdacht rege machten, der Schwörende sei sich bewußt, er spreche nicht die „volle Wahrheit“, wie er in der Eidesformel unter Berufung auf Gott vor dem Kreuze und brennenden Kerzen geschworen hatte. Aber zu lockend stand der Prozeßgewinn vor ihm, bedingt durch die Ablegung des Eides! Es würde zu weit führen, wollte ich die Gebrechen des alten Gerichtsverfahrens im einzelnen vorführen. Es war unbestritten, daß Österreich seine Ziviljustiz erneuern, volkstümlicher, fortschrittlicher gestalten müsse. Der Ruf nach Reform war allgemein, aber er fand erst 1874 durch ein von Minister Julius Glaser zustandegebrachtes Gesetz über das Bagatellverfahren Befriedigung. Dieses nur auf Klagen bis 25, später bis zu 50 Gulden anzuwendende Verfahren hat das Verdienst, freie Beweiswürdigung, Unmittelbarkeit der mündlichen Verhandlung vor dem urteilenden Richter und Einvernehmung der Partei als Zeuge eingeführt zu haben, unter Abschaffung des Systems der formalen Parteieneide. Nicht mehr diese Eide und ihre Ablegung durch diese oder die andere Partei — als aufgetragener, zurückgeschobener Haupteid, als Erfüllungs-, Schätzungs- oder „Würderungseid“ — alles ein rechtsgeschichtliches Gerümpel, mitgeschleppt durch die Jahrhunderte! Auch Volksöffentlichkeit der Gerichtsverhandlung brachte das Gesetz von 1874, eine Errungenschaft, die für das bürgerliche Verfahren freilich nicht die große Bedeutung hat wie für den Strafprozeß. Das wohlgelungene Bagatellgesetz von 1874 bildete in der weiteren Entwicklung eine der Grundlagen für Reformbestrebungen. 1877 trat die deutsche Reichs- prozeßordnpng auf den Plan und sie wurde Vorbild für die dem Parlament wiederholt vorgelegten Entwürfe. Sooft ein neuer Justizminister kam, gab es eine neufrisierte Vorlage für ein Prozeßgesetz. Aber alle diese Anläufe blieben schon am Beginn ihres Weges stecken, kamen nicht einmal zu irgendeiner Beratung. Da erschienen 1881

Aufsätze des PrivatHozenten und Kanzleidirektors der Wiener Universität, Franz Klein, mit dem Titel „Pro futuro". Hier entwickelte Klein Grundsätze, die — unter Festhaltung guter Einrichtungen des österreichischen Rechtes — neue Wege verkündeten. Wohl anerkannte Klein die große Bedeutung der deutschen Prozeßordnung, aber Wichtiges aus ihr lehnte er ab. Insbesondere wollte er — mit vollstem Recht — dem Richter die führende Stelle im Rechtsstreite zuweisen, ihn nicht nur gehorsam abhängen lassen vom Tun oder Nichttun der Parteien. Auch lehnte er das im deutschen Recht noch immer beibehaltene System der formalen Parteieneide als Entscheidungsmittel im Rechtskampfe ab. Unter dem Eindrücke der Schrift „Pro futuro“ wurde Klein in das Justizministerium berufen (1891), kaum 28 Jahre alt, um dort, gemessen an den Gewohnheiten der damaligen Zeit, in einem förmlichen Sturmlauf der Beförderung zum Sektionschef aufzurücken (1896). In zwei Jahren arbeitete Klein Gesetzentwürfe für eine Jurisdiktionsnorm, eine Zivilprozeßordnung aus und sogleich auch das Gesetz über Zwangsvollstreckung, die Exekutionsordnung. Die beiden ersten wurden am 1. August 1895 verlautbart, die letztere 1896. War die Ausarbeitung der Gesetze schon ein Meisterstück, so muß man noch mehr die Geschicklichkeit bewundern, mit der Klein sein großes Werk durch die oft so träge Parlamentssphäre zu leiten wußte. Das Glück hatte ihm wirksame Helfer gewährt, vor allem den einsichtsvollen hochgebildeten Justizminister Friedrich Graf Schönborn und den Berichterstatter Abgeordneten Dr. von Baernreither. Klein wußte das Abgeordnetenhaus förmlich zu überrumpeln und durch ein besonderes Beratungsgesetz die Möglichkeit der Verschleppung und des unsachlichen Widerstandes zu nehmen. Eine weitere Großtat Kleins war, wie er es verstand, das Reformwerk in die Wirklichkeit einzuführen. Dazu bedurfte es einer Neugestaltung der inneren Einrichtungen der Gerichtsbehörden und ihrer Kanzleien. Mit Temperament und Tatkraft führte Klein auch das zu glücklichem Ende. Das Aktenwesen und die Tätigkeit der Hilfsämter fanden eine praktische Modernisierung.

Am 1. Jänner 1898 trat das große Werk In das praktische Leben; es bewährte sich in dem nun vollendeten halben Jahrhundert. Und dies trotz der gewaltigen Umwälzungen, die das staatliche Schicksal und die öffentlichen- Einrichtungen in Österreich durch zwei ungeheure Kriege und deren unheilvolle Nachwirkungen erlitten hatten. Freilich wurden manche Änderungen an seinen Gesetzen zeitbedingt notwendig, im Fluß der Zeiten ist manches aus der Kl einseben Prozeßgestaltung überholt worden und würde nach einer, die Formen erleichternden und das Verfahren einfacher, kürzer und volkstümlicher gestaltenden Erneuerung rufen, aber die Grundpfeiler des stilvollen, mächtigen Baues, in den die österreichische Rechtspflege vor fünfzig Jahren eingezogen war, stehen heute so wie damals unerschüttert und tragfähig vor uns. Es ist vaterländische Ehrensache, des großen Werkes und seiner Schöpfer in dankbarer Würdigung zu gedenken.

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