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Strafredit und Verbrechen

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Es ist nicht zu kühn, zu behaupten, daß es nicht eine strafrechtliche Lehre von der Strafe und vom Verbrechen gibt, die sich allgemeiner Zustimmung erfreute.

Strafe ist ein soziologischer Begriff, neben-b e i auch ein moralischer und juristischer. Man braucht über sie nicht mehr zu wissen, als daß sie ein Uebel ist; das zu erkennen, ist nicht schwer. Man kann statt Strafe auch ein anderes Wort wählen, etwa das Wort „Sanktion“. Sieht man näher hin, dann entpuppt sich auch die Sanktion (Zwangsarbeit, Detention usw.) als ein Uebel — wenigstens in den „Augen des Betroffenen. Ob ein Gemeinwesen ohne Strafe auskommen kann, weiß ich nicht, aber eins weiß ich: es gibt kein Gemeinwesen, das keine Strafen androht. Mag eine Strafe des näheren so oder so beschaffen sein, an ihrem Kern läßt sich nichts ändern. — Strafe im moralischen Sinne ist Vergeltung der Schuld. Mit der Ueber-nahme des Schuldmomentes aus der Moral nimmt man sich die Möglichkeit, die Rechtsstrafe — und nur von ihr soll hier die Rede sein — anders denn als Vergeltung zu rechtfertigen. Strafe im juristischen Sinn ist Vollzug der Strafdrohung. Der Begriff der Strafe ist der höchste des Strafrechtes, das logische Prius aller anderen strafrechtlichen Begriffe, also auch des Begriffes des Verbrechens, das als ein mit Strafe bedrohtes Verhalten zu definieren ist. Bestraft wird von Rechts wegen nicht zur Vergeltung; es wäre auch sonderbar, anzunehmen, die Strafe bezwecke, dem Vergeltungsbedürfnis der Menschen zu entsprechen. Man straft auch nicht, um auf den Bestraften einzuwirken; denn wer zu etwas Strafbarem entschlossen ist, den schreckt in der Regel auch der Gedanke an die ihm drohende Strafe nicht. Man bestraft, um der Strafdrohung die ihr im allgemeinen innewohnende abhaltende Kraft zu wahren. Denn eine jahrhundertealte Erfahrung lehrt, daß die tiefere Wirkung der Strafdrohung darin besteht, daß die meisten Menschen — ein gewisses kulturelles Niveau der Bevölkerung vorausgesetzt — gar nicht daran denken, die solchermaßen verpönte Tat zu begehen, solange die Drohung wahrgemacht wird. Die Bestrafung hat also letzten Endes den Zweck, zu bewirken, daß Verbrechen im allgemeinen unterbleiben. Diese unschwer nachzuweisende Tatsache, ist die Rechtfertigung des in jeder Strafe liegenden Leides. Die abhaltende Wirkung auf die AH“ gemeinheit wird jedoch schwächer, wenn die angedrohten Strafen gewissermaßen auf dem Papier bleiben, d. h. je weniger Bedeutung Verurteilung und Vollzug im allgemeinen haben-

Und das soll im folgenden an einem Beispiel gezeigt werden.

Es läßt sich schwerlich in Oesterreich eine schlimmere Entwicklung im kriminellen Bereich feststellen, als bei den Sittlichkeitsverbrechen. Von Jahr zu Jahr wächst die Verurteilungsquote der Sittlichkeitsverbrecher. Die Veränderlichkeit der Reihe der Projektionszahlen (siehe die statistische Skizze) wird besonders deutlich, wenn wir das „Gefälle“ zwischen den Werten am Anfang und am Ende einer jeden Periode messen:

I. Periode II. Periode

1882/1885 1910/1913 1922/1925 1934/1937

7 16 22 29

+ 9 ' +7

III. Periode 1948 1953 17 41 + 24

Die Spannung zwischen dem Tiefstwert am Anfang der ersten Periode und dem Höchstwert am Ende der dritten Periode beträgt (plus) 34.

Die relative Häufigkeit der Straffälligkeit wegen Sittlichkeitsverbrechen ist bis 1913 auf das Dreifache, bis 1937 auf das Sechsfache und bis 1953 auf das Achtfache von 18 82 gestiegen.

Ich will nun das Geheimnis dieser Entwicklung lüften. Die Ursache ist die relative Bedeutungslosigkeit der Verurteilung als Vollzug der Strafdrohung im allgemeinen. Wer diese Aufklärung bezweifelt, den lade ich ein, die statistische Skizze aufmerksam zu studieren.

Wir ersehen aus ihr, daß zum Beispiel im Durchschnitt der Jahre 1882 bis 1885 25 Prozent der Verurteilten Freiheitsstrafen in der Dauer bis zu drei Monaten erhielten, 50 Prozent aller Verurteilten Strafen bis zu sechs Monaten und insgesamt 75 Prozent solche bis zu 18 Monaten. Nur in einem Viertel der Fälle wurden Freiheitsstrafen in der Dauer von mehr als 18 Monaten verhängt. Diese Verteilung änderte sich in der Folge erheblich.

Und nun einige Hinweise auf die vom Gesetzgeber in der Regel angedrohten Strafen!

So drängt sich denn die Frage auf: Wie ist der seltsame Widerspruch zu erklären?

Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll hervorgehoben werden, daß die Skizze nicht sagen, will, die Häufung von Sittlichkeitsverbrechen beweise, daß die im Gesetz dafür angedrohten Strafen nicht abhaltend gewirkt hätten; es kam vielmehr darauf an, zu prüfen, welche Rolle im Strafrecht die Idee der Gerechtigkeit spielt, und die Frage auf zuwerfen: Wie weit darf man in der Gerechtigkeit gehen, daß die verhängte „gerechte“ Strafe noch als Vollzug der angedrohten Strafe angesehen werden kann?

Neben dem Moment der Zweckmäßigkeit hat der Gesetzgeber den moralischen Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu beachten. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, läßt er durch Aufstellung des „Strafrahmens“ dem Richter einen Spielraum bei der Strafbemessung. Der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit kommt auch in den Vorschriften über das sogenannte außerordentliche Milderungsrecht zum Ausdruck, die den Richter ermächtigen, sehr weit unter die Strafgrenzen herabzugehen. Welche praktische Bedeutung das außerordentliche Milderungsrecht hat, dafür möge ein Beispiel aus der jüngsten Zeit Zeugnis geben. Im Durchschnitt der Jahre 1951 bis 1953 erhielten 87 Prozent der wegen Not* zucht Verurteilten eine Freiheitsstrafe unter fünf Jahren; davon 39 Prozent solche unter ejnem Jahr. Wegen Schändung wurden in derselben Zeit 56 Prozent, wegen Homosexualität 90 Prozent der Verbrecher zu einer Freiheitsstrafe von, unter einem Jahr verurteilt.

Nach dem ersten Weltkrieg ist ein ganzes System von Strafmilderungsvorschriften entstanden. Man wird nicht leugnen können, daß sich die Sexualkriminalität durchaus folgerichtig entwickelte. Jedenfalls waren keine Anzeichen dafür vorhanden, daß sich an der festgestellten Entwicklung etwas ändern werde. Seit dem Jahre 1924 hat vor allem die Zahl der vorbestraften Sittlichkeitsverbrecher zugenommen. Während die Zahl der nicht vorbestraften Sittlichkeitsverbrecher 1952 bis 1953 um,40 Prozent gegenüber 1924/25 gestiegen ist, beträgt die Zunahme bei den Vorbestraften 200 Prozent. Man muß den Richtern zugute halten, daß sie das Uebel erkannten; sie reagierten auf die sich häufenden Sittlichkeitsverbrechen, indem sie der steigenden Kriminalität durch längere Freiheitsstrafen zu begegnen suchten. Allerdings beschränkte sich die Aendc-rung der Strafpraxis auf Sittlichkeitsverbrechen. In den Jahren 1948 bis 195 3 erreichte die Reaktion ein Maß, so daß es durchaus zutreffend ist, wenn man sagt: die Aenderung der Strafpraxis (die steigende Strafdauer) ist nahezu ganz von der steigenden Häufigkeit der Sittlichkeitsverbrechen bestimmt.

Ich glaube, den wichtigsten Fehler herausgefunden zu haben, der unterlief. Damit besteht die Möglichkeit, den richtigen Weg zu finden. Es kann kein Zweifel an der Abhängigkeit von Strafe und Verbrechen bestehen und auch nicht daran, daß man die konkrete Wirklichkeit der Strafdrohung schwächt, wenn die angedrohten Strafen im allgemeinen nicht vollzogen werden.

Wenn im Strafgesetz individualistische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, dann ist dies damit begründet, daß der Gesetzgeber mit den gegebenen Faktoren rechnen, daß er seine Vorschriften den herrschenden Anschauungen anpassen muß; deshalb soll hier dem Gesetzgeber keinerlei Anweisung gegeben werden, wie er die Normen und Strafen im einzelnen einzurichten hätte.

Man muß aber die Oeffentlichkeit entschieden davor warnen, sich gegen die Idee der Zweckmäßigkeit im Recht zu wenden. Vergessen wir nicht, daß der moralische Gesichtspunkt der Gerechtigkeit dazu verleitet, die Lösung des Problems der Verantwortlichkeit des „Täters“ in dessen subjektiver Beziehung zur Tat oder zum Erfolg zu suchen. Bis zur völligen Abkehr vom Recht und vom Leben steigert sich dieser Subjektivismus, wenn die Strafbarkeit geradezu vom Charakter, von der Persönlichkeit des Täters abhängig gemacht wird. O b gegen den Täter von Rechts wegen eingeschritten werden soll, ist grundsätzlich unabhängig von seiner seelischen Disposition zur Zeit der Tat. Er gewinnt den Anschein, als bildeten vornehmlich psychologische Momente das Schuldproblem. Nur die Schuld, die von der Subjektivität des einzelnen Täters abstrahiert, steht mit der generellen Natur des Rechtes im Einklang. Es kann daher sein, daß selbst dort, wo von moralischer Schuld keine Rede ist, die Zweckmäßigkeit Bestrafung verlangt.

Es ist übrigens von wesentlicher Bedeutung, festzustellen, daß die hier einschlagenden Einwendungen (biologische, psychologische, soziologische) ihrer überzeugenden Begründung entbehren, solange die Gerichte die gesetzlichen Repressionsmöglichkeiten zur Bekämpfung der Sittlichkeitsverbrechen nicht voll ausgeschöpft haben. Und das erschiene doch unerläßlich. Allerdings will mir scheinen, daß mit manchen Fortbildungen- unseres Straf rechtes, mit denen man sich aus Angst vor dem absoluten Geist des Strafgesetzbuches dem Psychologismus auslieferte, das Strafrecht in eine andere Epoche des Absolutismus hineingeführt wurde.

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