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Kodex und Spiegel?

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Unser geltendes Strafgesetz aus dem Jahr 1852, das sich selbst nur eine Neufassung des Gesetzes von 1803 nennt, bedarf unbestritten einer Anpassung an die heutigen Verhältnisse und Sichtung. Man kann zu diesem Zweck das StG novellieren und sich damit auf das eindeutig als reformbedürftig Erkannte beschränken oder aber ein neues Gesetz verfassen. In letzterem Fall werden alle weltanschaulichen und politischen Probleme um das Strafrecht neu aufgerührt, neu durchdiskutiert und durchgefochten und schließlich neue Kompromisse geschlossen werden müssen. Bundesminister Broda und Professor Nowakowski haben ihre Absicht kundgetan, das Werk gegenüber all diesen Problemen neutral aufzubauen, so daß es „von allen rechtschaff enenen Staatsbürgern bejaht werden kann, wo immer sie stehen“. Tatsächlich muß aber jede Strafrechtsordnung zur Frage nach Wesen und Zweck der Strafe Stellung beziehen und festlegen, welche Werte sie anerkennen und schützen will, und eine Rangordnung unter diesen Werten aufstellen. Auch im Strafrecht kann es keine „wertneutrale Rechtsordnung“ geben.

Die Frage nach der Rechtfertigung der Strafe verweist auf die Probleme der Schuld und Willensfreiheit; ihre Lösung setzt die Grundfesten der Strafrechtsordnung. Nur zufolge der Anerkennung der Willensfreiheit kann dem Täter wegen seiner persönlichen Schuld ein Vorwurf aus dem von ihm gesetzten Verhalten gemacht werden. Der Entwurf erläutert den Schuldbegriff in 38 Abs. 2. Danach hat das Gericht zu berücksichtigen, inwieweit die Tat auf eine gegenüber rechtlich geschützten Werten ablehnende oder gleichgültige Einstellung des Täters und inwieweit sie auf äußere Umstände oder Beweggründe zurückzuführen ist, die sie auch einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen nahelegen können. Diese Bestimmung beruht auf dem Gedanken der Charakterschuld, wie er von Adolf Merkl entwickelt und von Max Ernst Mayer in die Worte gekleidet worden ist: Der Charakter belastet, das Motiv entlastet. Beide Autoren waren Deterministen und wollten mit ihrer Lehre zum Ausdruck bringen, daß Verbrechen durch das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt Zustandekommen, also durch Faktoren, die sich der Beeinflußbarkeit durch den Menschen entziehen. Die Lehre von der Charakterschuld erblickt in einem bestimmten „So-Sein“ der Persönlichkeit bereits die Grundlage der „Schuld“; sie geht also nicht von der Fähigkeit der freien Selbstbestimmung aus.

Einer solchen Lehre folgend können über einen Täter nur vorbeugende und sichernde Maßnahmen verhängt werden, Maßnahmen, die dem Täter wohl auch ein Übel zufügen, weil sie sich ohne Zufügen eines solchen nicht vollziehen lassen, die ihm aber nicht gleichzeitig zu erkennen geben, daß er das Übel für seine Schuld empfängt. In diesem Sinn bringt der Strafgesetzentwurf eine Vermengung von Strafen und sichernden Maßnahmen, indem er die gemeinsame Vollziehung beider und die automatische Anrechnung der sichernden Maßnahmen auf die Strafe anordnet. Auch aus 43 und 46 Abs. 3 spricht wieder der Gedanke des Determinismus; nach diesen Stellen des Entwurfes kann eine Geldstrafe anstelle einer Freiheitsstrafe verhängt werden, „wenn von einer Geldstrafe eine genügende Wirkung zu erhoffen ist“. Das Wort „Wirkung“ zeigt, daß sich die Autoren des Entwurfes unter der Strafe nicht die Sühne für eine auf Grund der Willensfreiheit auf sich geladene Schuld vorstellen.

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