6686555-1962_19_04.jpg
Digital In Arbeit

Proporzstraf recht ?

Werbung
Werbung
Werbung

„Proporz auch im Strafrecht“ — das klingt scheußlich und wäre es auch. Die eine Bestimmung auf marxistischmaterialistischer Grundlage, die andere compensando in christlich-thomisti-schem Geist? Ein solches Strafgesetzbuch kann niemand wünschen. Am wenigsten ein Universitätsprofessor. Leider legt der Beitrag Dr. Haslingers den Gedanken nahe, daß der österreichische Strafgesetzentwurf so ausschauen könnte. Gott sei Dank trifft das nicht zu. Wenn man der Einsicht Raum gibt, daß unser neues Strafgesetz nur „ein Gesetz der pluralistischen Gesellschaft“ sein könne,, so meint man etwas grundsätzlich anderes: ein Strafgesetz, das nicht nur von rund der Hälfte der Bevölkerung, sondern von allen rechtschaffenen Staatsbürgern bejaht werden kann, gleichgültig, wo sie weltanschaulich und politisch stehen. Das Strafgesetzbuch soll kein politischer Zankapfel sein, sondern eine gemeinsame Grundlage. Das ist eine kriminalpolitische, aber auch eine sittliche Notwendigkeit. Denn das Strafen ist ein zutiefst sittliches Problem, auch für den, der sich zu einer reinen Zweckstrafe bekennt. Die Fragen der Kriminalpolitik sind umstritten. Der Gesetzgeber wird es keinem in aHemt recht machen können. Das liegt in der Natur der Sache'. Aber im Grundsätzlichen soll jeder das Ganze bejahen können, ohne säcrificium fidei seu intellectus.

Jeder Doktrinär und mancher Gelehrte neigt dazu, die praktische Bedeutung der Gegensätze zu überschätzen. So verschieden die weltanschaulichen und wissenschaftlichen Grundlegungen sein mögen, im praktischen Ergebnis kommt man sich dennoch oft nahe. Der eine verneint die Strafbarkeit des Zurechnungsunfähigen, weil er von ihm nicht erwartet, daß er von seiner Wahlfreiheit sinnvollen Gebrauch mache, der andere, weil er von ihm nicht erwartet, daß er von den Forderungen der Gesellschaft auf dem Weg über ein Werterlebnis bestimmt werden könne. Aber beide stellen auf denselben Kreis von Erscheinungen ab. Was man von einem Standpunkt aus als gerechte Vergeltung verlangt, ergibt sich vom anderen aus als Forderung einer richtig verstandenen und sinnvoll begrenzten Generalprävention. Man lebt schließlich im selben Kulturbereich. Und die kriminalpolitischen Erfahrungstatsachen und Notwendigkeiten muß zuletzt jeder in Rechnung stellen. Gewiß bleiben Differenzen, die im Grundsätzlichen wurzeln. Aber sie lösen sich, praktisch gesehen, in der Regel in Maßfragen auf. Als solche lassen sie sich durch einen Kompromiß überwinden. So ist ein pluralistisches Strafgesetzbuch möglich. Freilich um den Preis, daß der rechtsphilosophischen und weltanschaulichen Ausdeutung Spielraum bleibt. Man mag das eine „grundsatzlose Haltung“ nennen. Aber man kann auch der Auffassung sein, daß es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sei, religiöse, weltanschauliche oder rechtsphilosophische Bekenntnisse zu deklarieren. Die Aussagen des Gesetzes müssen klar sein.

Auch die Strafgesetzentwürfe der Jahre 1912 und 1927, also aus der Zeit der Monarchie und der Ersten Republik, bekannten sich nicht zu einem bestimmten weltanschaulich vorgezeichneten Menschenbild. Und

selbst unser altes Strafgesetz ist zumindest mehrschichtig und läßt verschiedenen Akzentverlagerungen Raum. Nur deshalb konnte es eineinhalb Jahrhunderte überdauern. Aus alledem ergibt sich auch für den Gesetzgeber des Jahres 1962 ein Rahmen. Und die Strafgesetzreform wurde vom Nationalrat im Jahre 1954 einstimmig beschlossen.

Man sollte sich davor hüten, kriminalpolitische Fragen künstlich zu weltanschaulichen zu überhöhen. So besagt das christliche Naturrecht gewiß, daß

die Sodomie höchst verwerflich ist; aber nicht, daß sie der Staat bestrafen müsse. Viele eindeutig katholische Staaten — so Spanien und Italien — lassen sie straflos. Die erste Lesung beschloß die Streichung der Strafdrohung im österreichischen Entwurf auch mit den Stimmen derer, die zweifellos einem christlichen Naturrecht verbunden sind. Das heißeste Eisen ist wohl die Abtreibung. Auch hier fand man sich in der ersten Lesung nach langer, sehr gründlicher Beratung zu einer gemeinsamen Lösung zusammen. Sie hat die Auseinandersetzung nicht beenden können. Wer ein Strafgesetz erstrebt, das dem pluralistischen Staat angemessen ist, wird jedenfalls auch hier die Grenzen achten müssen, über die der andere von seinen Grundlagen aus nicht hinausgehen kann.

Dr. Haslinger meint, der pluralistische Staat schaufle sich selbst sein Grab. In Wahrheit ist die pluralistische Struktur eine Tatsache. Wohin es führt, wenn man sie einfach nicht zur Kenntnis nimmt, haben wir in Österreich bereits erprobt. Seit 1945 gehen wir einen anderen Weg. Der Strafgesetzentwurf soll nicht zum Rückfall führen. Im Gegenteil: er soll beweisen, daß die Koalition nicht nur zum Proporz fähig ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung