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Mehr Schutz für die Umwelt als für die Ungeborenen

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Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist der Streit um die Freigabe der Abtreibung erneut aufgeflammt. Der Vorsitzende der Westdeutschen Bischofskonferenz, Kardinal Joseph Höffner, sprach in einem Interview des Deutschlandfunks in diesem Zusammenhang von Mord und meinte, er verstehe, wenn ein Münchner Arzt das Abtreibungsgeschehen in der Bundesrepublik als Massenmord bezeichnet habe. Darauf warf Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel dem Kardinal in einem Brief „als katholischer Abgeordneter” vor, die Reform des Paragraphen 218 des deutschen Strafgesetzbuches mit der Ausrottung jüdischer Mitbürger gleichzusetzen. Hierzu nahm nun der Kardinal in einem Brief an Vogel Stellung. Darin heißt es u. a.:

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Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist der Streit um die Freigabe der Abtreibung erneut aufgeflammt. Der Vorsitzende der Westdeutschen Bischofskonferenz, Kardinal Joseph Höffner, sprach in einem Interview des Deutschlandfunks in diesem Zusammenhang von Mord und meinte, er verstehe, wenn ein Münchner Arzt das Abtreibungsgeschehen in der Bundesrepublik als Massenmord bezeichnet habe. Darauf warf Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel dem Kardinal in einem Brief „als katholischer Abgeordneter” vor, die Reform des Paragraphen 218 des deutschen Strafgesetzbuches mit der Ausrottung jüdischer Mitbürger gleichzusetzen. Hierzu nahm nun der Kardinal in einem Brief an Vogel Stellung. Darin heißt es u. a.:

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Ein Teil der Medien und noch einige andere Koalitionspolitiker haben Anstoß daran genommen, daß ich im Zusammenhang mit Abtreibung von Mord gesprochen habe. An dieser Bewertung der Abtreibung halte ich fest. Dabei bin ich mir darüber im klaren, daß nach unserer staatlichen Rechtsordnung die Bezeichnung Mord juristisch nicht zutrifft.

Dies ändert aber nichts daran, daß es sich beim Tatbestand der Abtreibung um die vorsätzliche Tötung ungeborenen menschlichen Lebens handelt. Daß vom Augenblick der Empfängnis an ein neues selbständiges menschliches Individuum vorhanden ist,- ist heute unter Biologen und Medizinern nicht mehr umstritten.

So haben der-deutsche Embryologe Prof. Blechschmidt aus Göttingen und der Arzt und Biologe Prof. Nishimura aus Tokio sowie der Pariser Universitätsprofessor Jeröme Le- jeune nachgewiesen, daß von der Empfängnis an nicht nur alle Zellen des menschlichen Embryos in jeder Phase seiner Entwicklung menschliche Zellen sind, sondern alle Zellverbände, Organe und Organsysteme charakteristisch menschliche Eigenart zeigen. Was sich in der Entwicklung des menschlichen Eis zum Embryo und dann zum Fötus ändert, ist immer nur sein Erscheinungsbild.

Wenn von der Empfängnis an ein Mensch im Mutterleib heranwächst, dann kann die vorsätzliche Tötung eines solchen noch ungeborenen Menschen nach allgemeinem Sprachverständnis, aber auch mit biologischer und medizinischer Begründung mit Fug und Recht als Mord bezeichnet werden.

Die Kirche hat seit Jahrhunderten den Standpunkt vertreten, den das Zweite Vatikanische Konzü in die Worte zusammengefaßt hat: „Das Leben ist von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen” (Gaudium et spes, 51).

Entgegen Ihrer Behauptung haben weder ich noch meihe Mitbrüder im Bischofsamt Ihnen persönlich oder den Sozialdemokraten insgesamt den Vorwurf gemacht, sie wollten bewußt das ungeborene Leben des Schutzes berauben und zur beliebigen Disposition stellen. Ganz im Gegenteil haben die deutschen Bischöfe in ihrem Hirtenschreiben zum Schutz des ungeborenen Lebens vom 25. April 1973 wörtlich erklärt:

„Wir verkennen nicht, daß die verantwortlichen Frauen und Männer, die sich für die Fristenregelung oder für die weitgefaßte Indikationenregelung einsetzen, damįį einen Ausweg aus bestehenden Schwierigkeiten suchen wollen.”

Andererseits haben wir Bischöfe nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir die von Ihrer Fraktion vorgelegten Gesetzentwürfe und Reformvorschläge nicht als einen geeigneten Ausweg aus bestehenden Schwierigkeiten ansehen können, weil diese das Lebensrecht des Ungeborenen nicht hinreichend berücksichtigen und einen besseren und wirkungsvolleren Schutz des ungeborenen Lebens nicht erwarten ließen. Daß unsere Bedenken und Befürchtungen berechtigt waren, hat die Auswirkung der Reform des § 218 StGB in der Praxis hinlänglich bewiesen.

Zu der Frage, ob das frühere Recht den Schutzzweck in befriedigender Weise erfüllt habe, weise ich darauf hin, daß ich mehrfach in der Öffentlichkeit betont habe, das Strafrecht allein könne das ungeborene Leben nicht ausreichend schützen.

In den Stellungnahmen der Bischöfe und kirchlicher Gremien ist immer wieder ausgeführt worden, daß neben den strafrechtlichen Normen soziale und flankierende Maßnahmen vielfältiger Art notwendig sind. Seitens der Kirche sind dazu wiederholt konkrete Vorschläge gemacht worden. Eine falsche Entscheidung war es jedoch, daß der strafrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens wesentlich einge- . schränkt worden ist. Ich bin nach wie vor der Überzeugung - und so steht es auch im Urteü des Bundesverfassungsgerichtes - daß die Existenz einer Strafvorschrift viele Bürger davon abhält, eine Straftat zu begehen. Das gilt sicher auch für die Abtreibung. Hinzu kommt, daß gerade das Strafrecht eine sittenbildende Kraft ausübt und beim Wegfall einer strafrechtlichen Norm sich auch das sittliche Bewußtsein der Bevölkerung ändert in der Annahme, daß erlaubt und sittlich gerechtfertigt ist, was nicht verboten ist.

Ich stimme Ihnen zu, daß auch innerhalb der Kirche nicht immer genug Verständnis für die Konfliktsituation einer schwangeren Frau und gegenüber einer unehelichen Mutter vorhanden war, und daß die Diskussion über einen schnelleren und intensiveren Ausbau der Beratungsund Hilfsmaßnahmen auch innerhalb der beiden Kirchen erst im Zusammenhang mit der Änderung der strafrechtlichen Vorschriften breiter in Gang gekommen ist Das kann aber nicht heißen, daß die Kirche vor der Änderung des § 218 StGB in diesem Bereich nichts getan hätte. Längst vor der Reform der Abtreibungsvorschriften haben sich die christlichen Kirchen um Frauen in Not und um Mutter und Kind gekümmert und in Zehntausenden von Fällen geholfen.

Nicht zustimmen kann ich Ihrer Auffassung, daß das neue Recht eine Verbesserung des Lebensschutzes darstelle. Ich bin der Überzeugung, daß die Änderung des § 218 StGB keine Änderung zum Besseren war, daß der Lebensschutz des Ungebo renen wesentlich eingeschränkt worden ist, upd daß das neue Recht so unklar formuliert ist, daß es in der Praxis vielfach umgangen wird.

Als Beispiel dafür nenne ich nur das Verständnis von sozialer Beratung und die Auslegung der Notlagenindikation durch den Landesverband Bremen der Deutschen Gesellschaft für Sexualberatung und Familienplanung - Pro familia -, die in einem Schreiben an den Präsidenten der Bundesärztekammer deutlich wurden. „Pro familia” hält eine „unerwünschte” Schwangerschaft an sich schon für eine Notlage, die zum straffreien Abbruch der Schwangerschaftberechtigt.

Im Modellzentrum der „Pro fami- , lia” in Bremen, das von der Bundesregierung gefördert und finanziert wird, werden mit der obengenannten „Gesetzesauslegung” nach eigenem Eingeständnis täglich sieben Abtreibungen durchgeführt. Bei 52 Wochen bedeutet dies, daß in einer von der Bundesregierung geförderten „Beratungsstelle”, die gemäß § 218 b StGB insbesondere über solche Hilfen beraten soll, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern, im Jahr über 1800 Kinder im Mutterleibe getötet werden.

Wenn Sie weiterhin ausführen, daß der materielle Inhalt der Reform des § 218 StGB zwischen den Parteien des Bundestages nicht streitig gewesen sei und auch die CDU-CSU-Frak- tion die soziale Indikation bejaht habe und es nicht redlich sei, wenn die Kritik am neuen Recht diesen Sachverhalt unerwähnt lasse und sich damit dem Verdacht der Parteilichkeit aussetze, so kann ich auch diesen Vorwurf nicht gelten lassen.

Zunächst einmal ist es doch eine unbestreitbare Tatsache, daß das Gesetz zur Änderung des § 218 StGB nur mit den Stimmen der SPD- und FDP-Fraktionen verabschiedet worden ist und die CDU-CSU-Fraktion gegen das Gesetz gestimmt hat. Im übrigen haben die Bischöfe nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie auch den von der CDU-CSU-Fraktion vorgelegten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts entschieden und mit Nachdruck ablehnen. Das ist der Opposition wiederholt mitgeteüt worden.

Wenn - wie Sie schreiben - die Opposition im Bundestag das geltende Recht nicht ändern will, und wenn die österreichische Volkspartei erklärt hat, daß sie auch im Falle eines Wahlsieges keine Initiative zur Änderung der Fristenlösung ergreifen wolle, dann kann das die Kirche nicht hindern, mit allen legalen Mitteln gegen solche Gesetze anzugehen. Ich erkläre hiermit erneut, daß die katholische Kirche in Deutschland sich mit diesem Gesetz niemals abfinden wird.

Ähnliche Erklärungen haben übrigens auch die österreichischen Bi— schöfe abgegeben, und der in Ihrem Schreiben zitierte Erzbischof von Wien, Kardinal König, hat noch vor kurzem die Abtreibungsgesetze in Österreich entschieden verurteilt.

Besonders schwer fällt mir das Verständnis für Ihre Argumentation, die für 1978 mitgeteilte Zahl von 73.500 legalen Abtreibungen entspreche „positiven Erwartungen”.

73.500 Abtreibungen, die nach vorsichtigen Schätzungen 1979 auf über 85.000 ansteigen werden und die zu über 70% aus „Notlagenindikation” vorgenommen und aus öffentlichen Kassen finanziert werden, können wohl niemals positiv gewertet werden.

Rechnet man dazu, daß nach offiziellen Angaben immer noch jährlich ca. 50.000 deutsche Frauen Abtreibungen im Ausland vornehmen lassen, und berücksichtigt man die Aussagen erfahrener Klinik- und Frauenärzte, daß die Dunkelziffer der Abtreibungen nicht nennenswert zurückgegangen ist, dann kann man wohl kaum behaupten, daß die Zahl der Abtreibungen insgesamt nach der Gesetzesreform erheblich zurückgegangen sei.

Sie schreiben, daß es für Sie keine Gründe gibt, eine Änderung des geltenden Rechts zu befürworten. Ich bedauere dies, zumal doch auch Ihnen bekannt geworden sein müßte, daß die „Notlagenindikation” wegen ihrer unklaren Formulierung in der Praxis unterlaufen wird. Zumindest in dieäem Punkte müßten Bundesregierung und Gesetzgeber daran interessiert sein, die Gesetzestexte so klar zu formulieren, daß Mißbrauche weitgehend ausgeschlossen werden.

Ich bedauere Ihre Haltung aber auch im Hinblick darauf, daß tausendfache Abtreibungen mit öffentlichen Mitteln finanziert werden. Ich erhalte immer wieder Briefe von Bürgern, die sich in ihrem Gewissen belastet fühlen, weil sie gegen ihren Willen gezwungen werden, mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen Abtreibungen mitfinanzieren zu müssen.

Wichtig scheint mir nach der unmißverständlichen Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß die schwere Notlage so gravierend sein muß, daß sie mit der medizinischen Indikation, mit einer schweren Gefahr für Leib und Leben, gleichzusetzen ist Diese Einschränkung des Tatbestandes findet sich weder in ausreichender Klarheit im Gesetzestext noch in der Praxis sichergestellt.

In einer Rechtsordnung zeigt das Strafrecht än, welche Rechtsgüter besonderen Schutz verdienen und benötigen. Als jüngstes Beispiel dafür sei auf die Begründung verwiesen, mit der die Strafen gegen Umweltdelikate drastisch verschärft worden sind. Was der Umwelt an Strafrechtsschutz recht ist, muß um so mehr dem menschlichen Leben, dem doch die Umwelt dienen soll, billig sein.

Mit einer erstaunlichen Hartnäk- kigkeit wird die Tatsache verdrängt oder verniedlicht, daß nach amtlichen statistischen Erhebungen im vergangenen Jahr 73.500 Kinder im Mutterleib nach einem formal legalen Verfahren getötet wurden. Auch Sie sprechen in Ihrem Schreiben häufig von „Unterbrechungen” der Schwangerschaft, als wenn nach einer Tötungshandlung sich noch etwas fortsetzen ließe.

Mein dringendes Anliegen ist, daß alle Politiker und Bürger das Leben der ungeborenen Kinder schützen. Dazu gehören nicht nur eine dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht werdende einschränkende Auslegung der Notlagenindikation, sondern auch eine umfassende und koordinierte Bemühung um Beratung und Hüfe für die Mütter. Wir alle dürfen es nicht geschehen lassen, daß die unheilvollen Zahlen der Abtreibungen weiter ansteigen.

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