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Eine liebende und vergebende Kirche

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Ein amerikanisches Projekt weist auf eine mit dem gerade wieder aktuellen Abtreibungsproblem verbundene Aufgabe der Kirche hin, die ihr niemand absprechen kann.

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Ein amerikanisches Projekt weist auf eine mit dem gerade wieder aktuellen Abtreibungsproblem verbundene Aufgabe der Kirche hin, die ihr niemand absprechen kann.

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Seit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 22. Jänner 1973 sind Abtreibungen in allen 50 Bundesstaaten der USA während der gesamten Schwangerschaft erlaubt. In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft darf der Eingriff in jeder Ordination oder Privatklinik durchgeführt werden, später nur in staatlich anerkannten Kliniken oder Spitälern, wobei die einzelnen Bundesstaaten nach dem sechsten Monat einschreiten könnten, es in der Praxis aber nicht tun.

Jährlich werden in den USA etwa 1,5 Millionen Kinder abgetrieben, wahrscheinlich sogar mehr, denn es gibt keine ausdrückliche Verpflichtung, eine Abtreibung zu melden. Etwa 150.000 dieser Abtreibungen erfolgen nach dem dritten Schwangerschaftsmonat, wobei mitunter auch lebende Kinder zur Welt kommen - etwa 500 solcher Kinder werden jährlich zur Adoption freigegeben. Abtreibungsgegner argwöhnen freilich, daß man bisweilen auch Kinder, die den Eingriff überlebt haben, noch sterben läßt.

Bereits im November 1975 hat die katholische Bischofskonferenz der USA einen „Pastoral Plan f or Pro-Life Activities” (Pastoralplan von Aktivitäten für das Leben) vorgelegt. Darin geht es sowohl um die moralische Verurteilung der Abtreibung als auch um Möglichkeiten ihrer Vermeidung und um die Versöhnung von Menschen, die hier gesündigt haben, mit Gott und der Kirche.

Das im Vorjahr in der Erzdiözese Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin gestartete „Projekt Rachel” (siehe Kasten) liegt exakt auf dieser Linie, nimmt genau die grundlegende christlichkirchliche Aufgabe der Versöhnung des Sünders mit Gott wahr, bezieht einen klaren moralischen Standpunkt, steigt aber nicht für politische Veränderungen auf die Barrikaden.

Ausgangspunkt für das von Vicki Thorn geleitete Projekt war auch die Überlegung, daß in den USA 30 bis 40 Prozent der abtreibenden Frauen katholisch sind. Im Staat Wisconsin gibt es pro Jahr etwa 20.000 Abtreibungen, man kann also annehmen, daß 7000 Katholikinnen (und natürlich ebenso viele Männer und vielleicht doppelt so viele Großeltern) von dem Problem betroffen sind.

Diesen Menschen bietet das Projekt, das über ein eigenes Büro verfügt und auch über die Sozialdienststellen der Erzdiözese Milwaukee erreichbar ist, Gelegenheit zur Aussprache und Beratung. Als erste Gesprächspartner sind meist Frauen am geeignetsten, später wird auf Wunsch der Kontakt zu einem der rund 70 für das Projekt ausgebildeten Priester (von 900 in der Diözese) hergestellt. Meist wollen die Ratsuchenden keinen Priester aus ihrer näheren Umgebung.

Obwohl bisher keine echte Werbung für das* Projekt gemacht wurde, klingelt im Büro seit dem ersten Ausbildungstag der Mitarbeiter das Telefon, haben die Medien das Thema aufgegriffen. Das Echo ist, auch seitens eingefleischter Abtreibungsbefürworter, sehr positiv, nur eine kleine Minderheit von Katholiken neigt laut Frau Thorn dazu, Frauen, die abgetrieben haben, lieber leiden zu sehen als sie womöglich beim Gottesdienst zu treffen.

Dabei wird im Rahmen des Projektes Abtreibung keineswegs bagatellisiert, sondern als zutiefst unchristliche Tötung eines hilflosen Menschen verurteilt. Aber noch wichtiger als die Verurteilung der Sünde ist im Christentum das Angebot an den Sünder. „Wir sind eine liebende und vergebende Kirche” heißt es in der Projekt-Rachel-Broschüre.

Die oft schweren physischen und psychischen Folgen einer Abtreibung — Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Promiskuität, Selbstmordabsichten (laut einer US-Studie hatten von 4000 Lebensmüden 1800 eine Abtreibung hinter sich) - geben der amerikanischen Öffentlichekit längst zu denken. Das Bußsakrament, das im Rahmen dieses Projektes eine erstaunliche Aufwertung erfährt, kann hier im wahrsten Sinn des Wortes seelentröstend wirken. Menschen betreten das Projekt-Büro völlig niedergeschlagen und verlassen es „wie auf Wolken schwebend”, berichtet Vicki Thorn. Die Trostsuchenden haben oft eine gewisse religiöse Basis, aber selten eine enge Beziehung zur Kirche.

Inzwischen wächst das Interesse am Modell „Rachel” in der katholischen Kirche der USA (Frau

Thorn wird demnächst in Miami vor Delegierten der Pro-Life-Bewegung aus allen Bundesstaaten sprechen) und bei anderen christlichen Kirchen. Sicher wäre das Modell auch einen Versuch in Österreich wert.

Die politische Debatte in den USA hat sich inzwischen von der religiösen auf die biologische Ebene verlagert, seit Bernard Na-thanson, einst Chef der größten Abtreibungsklinik, das Videoband einer Abtreibung vorgeführt und die überkonfessionelle Gruppe der „durch Abtreibung ausgebeuteten Frauen” („Women Exploited by Abortion”) an Bedeutung gewonnen hat.

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