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Die Pillenburos

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Wiens Sozialarbeiter registrieren eine seit Jahren steigende Zahl von Menschen, die Rat und Hilfe zur Lösung ihrer persönlichen Probleme benötigen, sind sich aber im unklaren darüber, worauf dies zurückzuführen sein mag. Das Übergreifen eines bislang auf das Berufsleben beschränkten Streß auf den privaten Bereich nimmt in der Liste der in Betracht gezogenen, aber hypothetischen Gründe jedenfalls die erste Stelle ein.

Seit 16 Jahren amtiert in der Gonzagagasse eine Ehe- und Familienberatungsstelle des Sozialamtes der Stadt Wien, diie zehn Jahre lang einen stets gleichbleibenden Zustrom von rund tausend Beratungsfällen pro Jahr registrierte. Diese Zahl stieg aber in den letzten Jahren, sie wuchs auf 1700 Fälle 1972 und 2438 Fälle im vergangenen Jahr. Eine zweite, im Amtshaus in der Meidlinger Hauptstraße unlängst eingerichtete Beratungsstelle stellt den ersten Schritt einer Aufstockung auf insgesamt fünf derartige Beratungsstellen dar.

Es waren die seinerzeit alarmierend hinaufschnellenden Scheidungsziffern, die den ersten Anstoß zur Schaffung einer solchen Beratungsstelle im Jahr 1956 gegeben haben. Dabei gab es in Europa wenig Vorbilder für eine Ehe- und Fami-lienplaniung auf nichtkonfessioneller Grundlage — etwa die „Marriage Guidance Council“-Bewegung in Großbritannien, die aber eine völlig andere Struktur hat. Dabei stand in Wien, wie hier strikt betont wird, nicht der Wunsch Pate, konfessionellen Beratungsinstitutionen etwa im Rahmen der Seelsorge eine Konkurrenz zur Seite zu stellen, sondern jene Schichten zu erfassen, die den Wag zu priesterlichen Ratgebern in persönlichen Krisensituationen nicht fanden. Auch Professor Doktor H. Strotzka, der als ärztlicher Leiter der Wiener Ehe- und Familienberatung die Nachfolge von Professor Dr. W. Spiel angetreten hat, betont diese Aufgabenteilung.

Eine 1972 vorgenommene, vier Monate umfassende statistische Erhebung ließ den recht interessanten Sachverhalt in Erscheinung treten, daß in 70 Prozent aller Fälle entweder Frauen - zur Beratung kamen oder zumindest die Initiative, Rat zu suchen, von Frauen ausgegangen war. Was mit ähnlichen Erfahrungen in anderen ambulatorischen Therapieeinrichtungen korrespondiert. Die Erklärung der Wiener Sozialarbeiter: „Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation der Frau dürfte es ihr im geringeren Maße bei familiären Krisensituationen möglich machen, in anderen Lebensbereichen kompensatorisch Befriedigung zu finden, es wird ihr jedoch leichter gemacht, in krisenhaften Situationen durch Appelle an die Umwelt heranzutreten. Ein weiterer Faktor ist die Mehrbelastung durch Beruf und Familie.“

Bei der altersmäßigen Verteilung der Klienten ergab sich ein Gipfel bei den Frauen im fünften, bei den Männern im vierten Lebensjahrzehnt, Verheiratete waren sehr stark überrepräsentiert, Arbeiter unter-repräsentiert, wenn auch nicht in dem ursprünglich erwarteten Ausmaß. Letzterer Aspekt erschien den Sozialarbeitern „deshalb von besonderer Bedeutung, da es gerade für Angehörige der sozialen Grundschicht aus den verschiedensten Gründen schwierig ist, sich entsprechende Beratung und Hilfe zu verschaffen.“

Beratung und Hilfe kommen von Teams, denen Sozialarbeiter, Psychiater, Psychologen und Juristen angehören und künftig auch Gynäkologen angehören sollen. Letztere sollen unter anderem Schwangerschaftstests, Zelltests, hormonelle Untersuchungen und so weiter durchführen, sind aber auch berechtigt, Rezepte auszustellen. Für die Pille, zum Beispiel.

Progressive Optimisten, respektive konfessionell gebundene Pessimisten vermuten freilich, daß ein ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt über Wien gebreitetes Netz von solchen Beratungsstellen, das ausdrücklich auch die Hilfe auf dem Weg zum Wunschkind auf seine Fahnen geschrieben hat, und durch Gynäkologen verstärkt wird, eines nahen Tages — gewollt oder ungewollt, aber schon eher gewollt — zu einem System von Anlaufstellen für den Schwangerschaftsabbruch werden könnte. Denn es erseheint einerseits schwer denkbar, daß sich die Sozialarbeiter der Stadt Wien in dieser Richtung zielenden Bitten um „Rat und Hilfe“ werden entziehen können und wollen, anderseits aber auch sehr wahrscheinlich, daß sich derartige Ratschläge und Hilfen, werden sie in den Beratungsstellen tatsächlich erteilt, alsbald herumsprechen.derzeit die breite Schuldemokratie anlaufen soll, ist man seinerzeit auch an die Demokratisierung der höchsten Ebene — des Unterrichtsministeriums — gegangen. Die Schüler hatten am Beginn eine gesetzli-

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