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Wo steht unsere Caritas ?

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Die erste Phase der Nachkriegs-Caritas in Österreich klingt ab — die zwei Jahre, in denen die kirchliche Liebestätgkeit zunächst einmal reaktiviert wurde, um den dringlichsten Anforderungen gerecht zu werden; in denen aber auch schon ihre alten und neuen Leitideen zum Ausdruck kamen, sich gewisse Aktionen festigten und systemisierten, weitere Entwicklungen abzeichneten. Nun gilt es, zur zweiten Phase überzuleiten:- Ausbau der Ausgangsstellung, planvoller Aufbau, um den bevorstehenden Belastungsproben und wachsenden Bedürfnissen selber gewachsen zu sein. Es mag 'deshalb auch an der Zeit sein, sich über die Lage und den Entwicklungsstand der Caritas besinnlich Rechenschaft • zu geben und der Öffentlichkeit die aktuellen Anliegen derselben nahezubringen.

Die österreichische Caritas hatte schon immer ein eigenes Gepräge. In der Zeit ihres ersten Aufbaues nach 1920 lebten noch beträchtliche Reste fürsorgerischen Bestandes aus der Habsburger-Ära in den Stiftungen, in humanitären Vereinen, in Abmachungen mit staatlichen Stellen, in ungelenkter Ordenspolitik. Die Caritasverbände der ersten Nachkriegszeit haben sich auf diese Bestände aus der Vergangenheit stark gestützt, aber doch mitunter versäumt, sie den Forderungen neuzeitlicher Fürsorge, dem Organisationsprinzip der katholischen Aktion und den juridischen Notwendigkeiten einer Kulturkampfära anzupassen. Weder die Pfarrcaritas noch die Ordenscaritas wurde systematisch genug gefördert, woran auch die Volksfremdheit und geistige Enge gewisser Stellen mitschuldig gewesen sein mögen.

Darüber soll nicht übersehen werden, daß im einzelnen ein sehr reges caritatives Leben und Wirken herrschte, als der Nationalsozialismus 1 9 3 8 mit rauher Hand Zugriff. Die Caritas verlor sofort die finanzielle Rückendeckung der Sterbevorsorge und Subsidien, das Organisationsnetz der Vereine und Stiftungen zerriß, die Beziehungen zu den staatlichen Behörden wurden zur Gefahr, zumal der Rückhalt am Deutschen Caritasverband bewußt abgelehnt wurde. Eine geistige Leere wurde sichtbar. NS-Kommissare distanzierten restliche Organisationsstellen vom kirdilichen Leben. Diese Entfremdung beeinträchtigte naturgemäß auch die Sicherheit und Richtigkeit der Taktik; die Schädigung der Caritas in der Kulturkampfzeit läßt sich deshalb formaljuristisch nur zum Teil jetzt wieder ausgleichen.

Was wurde seit 1945 wieder aufgeholt? In der Erzdiözese Wien zum Beispiel ergibt sich folgende Gegenüberstellung:

Kindergärten- 1938 1947

“Wien-Stadt 37 34

außerhalb Wiens 85 22

Kinderhorte

Wien-Stadt 22 22

außerhalb Wiens 38 17

Hauskrankenpflege Wien 27 40

außerhalb Wiens 69 ?

Bei den katholischen Privatspitälern (10) blieb die Zahl unverändert.. — Bisher noch nicht wiedererrichtet sind jedoch:

Kinderbewahranstalten 45 (Wien) und 24 (außerhalb Wiens),

Tagesheimstätten 45,

Waisenhäuser 4 und 3 (außerhalb Wiens),

Arbeitsschulen 22 und 32 (außerhalb Wiens),

Pensionate 16 und 6 (außerhalb Wiens),

Mütterberatungen 15,

verschiedene Heime 27.

Es ist — in Anbetracht der vielfältigen Schwierigkeiten — also bereits sehr viel Wiederaufbau geleistet worden. Bei den Altersheimen haben wir sogar einen Zuwachs gegenüber 1938 festzustellen. Auch die Orden haben ihre Stellung in der

Caritas im wesentlichen durchhalten können. •

1938; 147 Niederlassungen mit 4824 Mitgliedern.

1945: 161 Niederlassungen mit 4736 Mitgliedern (Erzdiözese Wien).

Ihre Personalverluste waren relativ gering geblieben oder durch Zuwanderung wieder ausgeglichen; allerdings sind zirka ein Sechstel der Schwestern an der Überlastung invalide geworden, und es wurden 1945 in Wien vorerst nur 85 Postulantinnen gezählt, während 40 Prozent der Mutterhäuser zunächst überhaupt keinen Nachwuchs hatten.

Die Bischöfe haben im Frühjahr 1945 nicht gezögert, die diözesaneCaritas zu reorganisieren und zu deren Leitung meist neue Männer berufen, deren Auswahl sich durchwegs bewährte. Die Wiedererweckung c'aritativer Vereine wurde prinzipiell vermieden. Die Caritas wurde vielmehr auf der Grundlage von Diözese und Pfarrei organisiert. Auch der — ausnahmsweise wiedererweckte — Vinzenz-Verein ist in den Pfarrcaritasausschuß eingeordnet. Die früheren „Caritasverbände“ sind entweder aufgelassen oder nur mehi Träger wirtschaftlicher, beziehungsweise juridischer Teilfunktionen. Gerade im vermögensrechtlichen Bereich ist das kirchliche Diözesanprinzip aber vorerst noch nicht überall durchdrungen. Die Verwirklichung der Pfarrcaritas als Organisationseinheit ist noch nicht großzügig und zielbewußt genug angepackt worden. Doch ist die praktische Arbeit nicht vernachlässigt worden.

Unter den Arbeiten standen natürlich diejenigen im Vordergrund, deren Dringlichkeit sich durch den Notstand ergab. Die Caritas hat da in den zwei Jahren eine lebendige Aufgeschlossenheit bewiesen und sich auch dort eingesetzt, wo ihre Voraussetzungen und Erfahrungen geringer erschienen. Zunächst galt es eine E r n ä h-r u n g s h i 1 f e für die Hungernden zu ermöglichen; zentral und pfarrliche Ausspeisungen, Stellen für Lebensmittelspenden, Zubußen an Anstalten, Erholungsplätze usw. ohne Zahl wurden eingerichtet. Im Winter traten Wärmestuben hinzu. Von besonderer Bedeutung wurde bald die Flüchtlingsbetreuung, die gegenüber den staatlichen Brutalitäten ein w.ahres Ruhmesblatt der Caritas darstellt. Neben ihr zu nennen sind Heimkehrerhilfe, Suchdienst, Mädchenschutz und vor allem die Bahnhofmission, die in opfervollem Einsatz Großes leistete. Während die Jugendfürsorge noch nicht auf vollen Touren läuft, sind die Bemühungen für das Kind — Heime, Kindergärten, Horte, Landverschickung, ^ Auslandsaktionen — hervorragend. Ältershilfe, Krsnkenhausfürsorge und Haus k r a n k e n-pflege mußten vielfach neu aufgebaut werden und sind damit noch nicht fertig, während die Leistungsfähigkeit unserer geistlichen Krankenhäuser und Pflegeschwestern, nach wie vor bis zur äußersten Grenze eingesetzt ist. Die Studentenhilfe hat durch Mensa, Fürsorge, Krankenbetreuung, Spenden usw. eine rasche Entfaltung gefunden. Die Sorge um die Lehrlinge, Hausgehilfinnen und um Sondergruppen, wie Blinde, Taubstumme, Süchtige, Kriegsversehrte usw ist vereinzelt gut entwickelt worden. Während für und durch caritative Herbergen ausgezeichnete Wanderer- und Fremdenfürsorge geleistet wird, ist die Erholungshilfe in Heimen. Ferienaktionen, Mütterfreizeiten usw. noch arg zeitbedingt gehemmt. Bei der Einsatzfreudigkeit unserer caritativen Stellen und Personen ist der Aktionsbereich weiterhin noch völlig im Fluß.

Die Mittel konnten geldlich bisher aufgebracht werden. Die monatliche Sammlung im Kirchenraum erbringt jeweils auf den Kopf des Katholiken 5 Groschen, auf den Kirchenbesudier 30 Groschen. Der Ertrag des eigentlichen Monatsopfers ist örtlich stark verschieden. Wenn man jedoch bedenkt, daß 1946 über 339 Millionen A-Ziga-retten a 1 Schilling und (in Wien allein) 51 Millionen Kinokarten verkauft wurden, so scheint die finanzielle Leistung für die Caritas noch nicht an ihre Grenze gekommen zu sein. Daß die Sachleistungen der Bauern für die städtische Caritas im ganzen hinter den Erfordernissen zurückbleiben, hängt gewiß auch mit der Festigung des Schleichhandels und mit der Vertiefung der Kluft zwischen Stadt und Land zusammen. Um so wichtiger ist die Spende vom Ausland gewesen; derzeit ist sie zwar sehr zurückgegangen, aber es zeigt sich, daß deswegen die Möglichkeiten selber noch nicht erschöpft sind. Da Österreich im Ausland zwar manche Freunde, aber wenig Anwälte hat, müßten wir selbst unsere Notlage draußen nachdrücklicher zur Kenntnis bringen.

Unbefriedigend ist unser Personalbestand. Der derzeitige Nachwuchi-mangel der Orden ist notorisch. Der örtlichen Caritas fehlt es oft an ehrenamtlichen Mitarbeitern. Auch die religiösen Gemeinschaften wie Kongregation, Drittorden, Pfarrjugend stellen nur wenig Hilfskräfte bei. Der Entwicklung der neuen Caritas-Bruderschaften in der Diözese Salzburg sehen wir deshalb mit größtem Interesse entgegen. Die Ansätze zur Neugründung „moderner“ Orden oder weltlicher Gemeinschaften im Sinne der päpstlichen Konstitution „Provida“ sind bei uns derzeit nur sehr vereinzelt. Um so kräftiger ist der Zuj weiblicher Jugendlicher zur hauptamtlichen Caritasarbeit. Zu ihrer Schulung ist eine ganze Reihe zum Teil neuer Schultypen eingerichtet worden, über die ich bereits berichtete. (Vgl. „Der Seelsorger“ XVIII/6, S. 153—155.) Ihre rechtzeitige Zusammenfassung zu Berufsgemein-jchaften ist im Gang. Es steht zu erwarten, daß sich neben den Fach berufen (Krankenschwester, Säuglingspflegerin, Kindergätrne-rin, Hebamme, Fürsorgerin, Heimleiterin) und der Seelsorgshelferin eine eigentliche Pfarrcaritas-Schwester durchsetzt.

Für diese Schulen sind die Lehrpläne noch in Entwicklung, und an Unterrichtsmaterialien für die caritativen Fächer fehlt es arg. Auch die Schulung der ehrenamtlichen Helfer leidet sehr darunte.r daß der ideelle und wissenschaftlicht Bereich der Caritas in Österreich seit Jahren vernachlässigt wurde. Entsprechende Literatur ist bei'uns in den letzten zehn Jahren fast nicht erschienen. Für Herbst 1947 ist endlich die Caritas-Zeitschrift angekündigt. Eine Sammlung von Predigt- und Vortragsskizzen über caritative Fragen wird von mir vorbereitet. Unsere Werbung und Ideenpropaganda steckt noch in den Kinderschuhen. Vielleicht sind meine Bemühungen um die Einrichtung eines Instituts für C a f i t a s w i s s e n s c h a f t noch reff ruht; um so wertvoller wäre dann die Bildung eines geistigen Führung s-kreises durch die'Diözesan-direktoren der österreichischen Caritas. Dieser hätte auch das Rüstzeug für kommende Auseinandersetzungen über das Lebensrecht und die Eigengesetzlichkeit der kirchlichen Liebestätigkeit zu liefern*.

D'e Caritas kann nicht Arbeitsgebiete, die ihr nicht zus igen oder „undankbar“ sind, abstoßen und sich auf „aussichtsreichere“ Anliegen konzentrieren. So|ches Streben kennzeichnet jede parteipolitische Fürsorge. Unser richtunggebender Gesichtspunkt muß die Dringlichkeit des Notstandes bleiben. Der missionarische Charakter der Caritas ist unbedingt zu wahren. Wir werden uns deshalb den neuanf^llenden Arbeiten in Jugendrettung, Mädchenschutz, Fami-lienfürsorge, Müttererholung, K r i e g s o p f ,e r h i 1 f e usw. zielbewußt zuwenden müssen. Wir dürfen uns das Gesetz des Handelns weder aufdrängen noch abnehmen lassen durch politische oder Verwaltungsstellen. Es geht um die E i g e n-ständigkeit und Eigengesetzlichkeit der kirchlichen Liebestätigkeit! Ausbau der eigenen Stellungen — Festigkeit gegenüber Obergriffen der Bürokratie — Selbstbestimmung der Aufgabenstellung und Methodik sollen uns stets mehr Leitgedanken sein.

Darum der erneute Ruf nach der Pfarrcaritas! Es gibt die diözesane Zentrale, die Ordenscaritas bleibt, Fachverbände werden wieder hinzukommen — aber sie alle brauchen als Keimzelle und Organisationseinheit die Pfarre; wie in der Seelsorge, so auch in der Liebestätigkeit. Sowohl das Seelsorgeamt wie die Diözesan-caritas in Wien haben Richtlinien dafür herausgebracht; es gilt, dieselben zu überdenken und an eine nachdrückliche Verwirklichung zu' gehen. In der Stadt — und auf dem Lande! Wir sind uns darin einig, daß wir besonders die Dorfcaritas bisher zentral vernachlässigten. Soll uns — wie früher der Industriearbeiter — der Landarbeiter an seiner Not seelisch verlorengehen? Können wir andererseits auf die Hilfe der Bauernschaft bei der Bewältigung der Volksnot verzichten?

Unsere Caritas muß noch viel umfassender zu einer V o 1 k s s a c h e werden. Auch kirchliche Fürsorge hat den Hang zum Schreibtisch, zur Bürokratie, zur Vet-An-

Vgl. zu den religiösen Fragestellungen “der Caritasarbeit meine Abhandlung ..Über das Wesensbild der caritativen Orden“, demnächst in der Linzer Quartalschrift.staltung und Inzucht. Lebendig und stark bleibt sie aber nur mitten im Volk; im Kirchenvolk. Wir gehen nicht auf die Straße, an die Öffentlichkeit, und meiden die Sammlungen dort. Die Erfahrungen mit Wohltätigkeitsveranstaltungen und gar mit „prominenten Künstlern“ sind nicht durchwegs erfreulich. Aber unser gutes, treues Kirchenvolk gehört zur Caritas, und die Caritas gehört zu ihm. Keine Gelegenheit, kein Fest und kein Schmerz soll versäumt werden, die beiden einander näherzubringen. Unsere Laienmitarbeiter, Männer und Frauen, alle mögen auf dieses Anliegen achten.

Das bedeutet nicht den Verzicht auf geistige Vertiefung! Im Gegenteil — wir brauchen diese gerade in der nächsten Zeit. Unsere Schulen verlangen nach innerem Ausbau; ihre Abschlußzeugnisse sollen hochwertiger sein als staatliche Papiere. Die — längst fällige — katholische Krankenpflegeschule Wiens muß ein wirkungsfähiger Typ werden. Unser Gedankengut soll überzeugend in die öffentlichen Für-jorgeschulen eindringen. Die Schulung der ehrenamtlichen Helfer(innen) braucht einen frischeren Zug, braucht große Gedanken und zielsichere Jahreslosungen. Die Caritas setzt auch hier die religiösen Grundlagen voraus; mögen uns die Pastoral-' theologen behilflich sein zur theologischen Deutung der Caritas. Sicherlich müssen wir aber auch viel mehr beten um die Gnade der Liebe für uns alle. Die Not unserer Jahre und all die Opfer unserer Arbeit in der Caritas werden auf dieselbe gewiß mehr und mehr den Segen von oben herabziehen. Das ist ja unsere größte Sehnsucht — die nach begnadeter Caritas!

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