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Keine Fürsorgemaschinerie!

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Gertrude G., 86 Jahre alt, alleinstehend, sehr intelligent, durch bittere Erfahrungen mißtrauisch geworden, Inhaberin einer Zweizimmerwohnung im neunten Bezirk, deren Pflege ihr längst über den Kopf gewachsen ist, offene Beingeschwüre. Mehr durch Zufall kommt eine Cari-tas-Socialis-Schwester auf ihre Spur. Obwohl Gertrude G. sehr abweisend ist, kann die Schwester sie zu einem Spitalsaufenthalt wegen der Beingeschwüre überreden. Bei einem Hausbesuch nach der Entlassung aus dem Spital ist Gertrude G. wohl etwas erholt, aber ihr Gesicht ist voll blauer Flecke, weil sie .wiederholt gestürzt ist. Die Wohnung ist total verwahrlost. Die Hausparteien regen

sich bereits auf. Nur langsam und geduldig kann die Caritas-Socialis-Schwester das Mißtrauen Gertrude G.s überwinden, ihr eine Heimhelferin vermitteln, die ihre Wohnung besorgt. „Frau G. gewann an Selbstvertrauen und Zuversicht, ist wieder auf Ordnung bedacht, hat zu ihrer Heimhelferin ein Verhältnis gewonnen und ist auch bereit, sich mit einem Arzt neu zu arrangieren, um eine Besserung ihrer Beingeschwüre zu erreichen.“ So heißt es nüchtern im „Erfolgsbericht“ der Caritas-Socialis-Schwester.

Aber Gertrude G. ist kein Einzelfall. 320.000 Wiener sind älter als 65 Jahre. Von zirka 120.000 Wienern über 75 leben 50 Prozent allein in \ ihren Wohnungen. Erika Danzinger, VP-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der Aktion „Diene dem Alter“ (die aus einer Initiative der Caritas Socialis entstanden ist) betont: „Mindestens 35.000 Wiener über 65 geben an, allein nicht mehr zurechtzukommen.“ Josef Steurer, Leiter des Diözesanreferats für Alten-pastoral, verweist auf eine Studie der Arbeiterkammer über „Armut in Wien“, die im Vorjahr veröffentlicht wurde. Demnach erreichen 13.400 Wiener Pensionistenhaushalte nicht einmal den „Mindeststandard“ (den die Arbeiterkammer zum Zeitpunkt der Untersuchung mit einem jährlichen Prokopfeinkommen von 19.100 Schilling netto angenommen hatte). Weitere 95.500 Pensionister-haushalte erreichen die obere Armutsgrenze nicht (24.500 Schilling Prokopfeinkommen jährlich). 86 Prozent aller Wiener Haushalte, die unter dem Mindeststandard leben, sind Pensionistenhaushalte. Hinter den Zahlenspielen verbergen sich unzählige menschliche Schicksale. Josef Steurer formuliert: „Das Problem der älteren Menschen ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“ Früher sei die Arbeiterschaft aus der Gesell-

schaft ausgeklammert gewesen, heute seien es die älteren Menschen, die nichts mehr „leisten“ können. Steurer läßt keinen Zweifel: Für ihn ist das Problem der älteren Menschen nicht nur eine pastorale, sondern eine gesellschaftspolitische Frage.

Zwar haben Wirtschaft und Politik spät, aber doch die älteren Menschen entdeckt. In der jüngsten Nummer der Caritas-Socialis-Schwester heißt es: „Die Konsumwerbung spricht von den .goldenen Jahren des Lebens', die politischen Parteien feilen an Reformen für die ,Senioren'. Das Interesse kommt nicht von ungefähr. Leben doch allein in Wien fast 500.000 Menschen, die älter als

60 Jahre sind. Nur sind für viele dieser .Senioren' die Jahre des Alters keine .goldenen Jahre'. 50 Prozent der mehr als 65jährigen müssen nämlich mit Mindest- und Kleinpensionen auskommen.“ Das Sicherheitsnetz des Sozdalstaats sei zwar dicht geknüpft. Doch trotz bester Absichten werde der hilfsbedürftige ältere Mensch oft zu einer Nummer in der Maschinerie der Fürsorge. Gerade ältere Menschen brauchten aber individuelle, differenzierte Hilfe, sie sehnten sich danach, als Menschen ernstgenommen zu werden, Geborgenheit zu finden.

Um diese individuelle differenzierte Hilfe bemüht sich in Wien eine ganze Palette kirchlicher Organisationen. Neben dem Diözesanreferat für Altenpastoral sind auf diesem Sektor die Caritas Socialis und in Verbindung mit ihr die Aktion „Diene dem Alter“, die Caritas der Erzdiözese, verschiedene Orden, der Katholische Familienverband, die Katholische Frauenbewegung und die „Vereinigung Altenhilfe“ tätig.

Die Caritas der Erzdiözese, die Caritas Socialis und verschiedene Orden führen eine Reihe von Seniorenheimen, in denen aber nur relativ wenige ältere Menschen unterkommen können. Ganz abgesehen davon, daß heute wieder die Ansicht vorherrscht, es wäre besser, die Senioren nicht in ein Ghetto zu sperren, kostet ein Altersheimplatz 5500 Schilling im Monat. Zumindest, wenn der Erhalter des Senioren-wohnheims kostendeckend arbeiten will. Für ein Ehepaar wären das 11.000 Schilling. „Das kann also keine Lösung sein, wenn man sich vor Augen hält, wie buchstäblich arm viele Menschen über 65 in dieser Stadt sind“, meint Josef Steurer. Ihm schwebt ein anderes Modell vor. Er möchte mit Hilfe des Diözesan-fonds für Altenhilfe eine Wohnung kaufen, in unmittelbarer Nähe einer

Pfarre, damit sich engagierte Pfarrkinder ständig um diese Wohnung kümmern können. Drei bis vier ältere Menschen sollen in dieser Wohnung gemeinsam einen neuen Hausstand gründen. In einer kleinen Gruppe ließen sich die Konflikte des Zusammenlebens leichter lösen, man käme weg vom Massenbetrieb. Steurer ist sich im klaren darüber, daß die Verwirklichung dieses Projektes schwer sein wird: „Man muß die richtigen Leute finden. Aber ich möchte es probieren, auch wenn's danebengeht.“

Ein anderes Projekt des Altenpa-storalref erenten steht unmittelbar vor der Eröffnung. Es handelt sich um das sogenannte Minigesundheits-

Zentrum in der Siccardsburggasse in Wien-Favoriten. Die Senioren sollen in diesem Mini Zentrum Gelegenheit zur Körperpflege finden (vor allem Bad unter Aufsicht) aber auch Medikamentenkontrolle, Ruheräume, Diätmahlzeiten, Wäschedienst und die Möglichkeit gymnastischer Betätigung.

Steurers Traum wäre ein Minigesundheitszentrum in jedem Bezirk. Zumindest in jenen Stadtteilen, wo der Anteil der älteren Menschen mehr als 30 Prozent beträgt, also am Neubau, in Grinzing, Rudolfsheim, Fünf haus, Hernais und Währdng. Vorläufig muß er sich mit dem Ausbau des diözesanen Alten- und Krankendienstes begnügen. Entstanden war die Idee dieses Dienstes bei einem Treffen zwischen Kardinal König und Ärzten des 21. Bezirkes anläßlich einer bischöflichen Visitation in Floridsdorf. Seit 1967 arbeiten im 21. Bezirk niederländische Schwestern, mittlerweile sind solche Dienste auch in Meidling (Namen Jesu), in Favoriten (St. Anton) und in Lie-sing entstanden. Dort hat die ungarische „Schwesternkongregation der Armenfürsorge“ den Alten- und Krankendienst übernommen. Die 1927 vom damaligen Erzbischof von Eger, Lajos Szmrecsänyi, gegründete Kongregation hat die Altenarbeit als ausdrücklichen Ordenszweck. Die Schwestern kochen für die von ihnen betreuten älteren Menschen Diät, besorgen für andere die Einkäufe, helfen beim Wohnungsputz, machen Spitalsbesuche, nehmen Behördenwege ab, verständigen Verwandte. Vor allem sind sie aber immer zum Gespräch bereit und stellen sich regelmäßig bei ihren Schützlingen mit Blumen oder einem kleinen Präsent ein.

Um die materiellen Nöte kümmern sich auf breiter Basis auch die Caritas der Erzdiözese und die Aktdon „Diene dem Alter“ der Caritas So-

cialis. So leisteten etwa die 34 geschulten Altenhelferinnen von „Diene dem Alter“ im Vorjahr rund 18.000 Einsätze. Dazu kommen noch die Einsätze der freivertraglich vermittelten Betreuerinnen und die Besuchsdienste der ehrenamtlichen Helfer. Die drei Sozialarbeiterinnen der Aktion bearbeiteten im Vorjahr 2000 Anfragen. Die Caritas versorgt im Rahmen von „Essen auf Rädern“ ältere Menschen in den Bezirken 1, 4, 5, 14, 17 und 18 mit Normal- und Diätkost. Außerdem bietet die Caritas Heimhilfe, also Pflege und einfache Haushaltsführung für ältere Menschen.

Auf pfarrlicher Basis arbeiten Alten- und Krankendienste mit aus-

gebildeten Schwestern in fünf Wiener Pfarren. Viele Hoffnungen knüpft Steurer an die Sozialausschüsse der neuen Pfarrgemeinderäte, der „Pfarrparlamente“ in Wien: „Immer mehr Pfarrverantwortliche sehen ein, daß Altenarbeit mehr bedeutet, als die Eröffnung eines Seniorenklubs.“ Womit die Bedeutung der Klubs nicht unterschätzt werden soll. Zur Zeit arbeiten in Wien 120 pfarrliche Altenklubs, fünf davon sind sogar täglich geöffnet. Verhandlungen mit der Stadt Wien sind im Gang, um eine finanzielle Gleichbehandlung der täglich geöffneten pfarrlichen Altenklubs mit den städtischen Seniorenklubs zu erreichen.

Der Star unter den kirchlichen Altenklubs ist zweifellos der Klub der Aktion „Diene dem Alter“ in der Porzellangasse. Dort sind die Klubräume ganz bewußt nicht als Wärmestuben, Versammlungslokal, Asyl oder Kaffeehaus angelegt. Sie sind ein gepflegtes Zuhause, in dem ältere Menschen, wenn auch nur für ein paar Stunden, richtig daheim sein können. Vor allem ist es gelungen, ein „Milieu“ zu schaffen, in dem ältere Menschen nicht passive Konsumenten sind, sondern die Gestaltung ihrer Zeit selbst in die Hand genommen haben. Erika Danzinger: „Altenhilfe sollte weit mehr als bisher den älteren Menschen Mut einflößen und sie zur eigenen Tätigkeit anspornen. Wir möchten nicht für ältere Menschen arbeiten, sondern mit ihnen.“ Ihr Traumziel wären geschützte Werkstätten, in denen die Senioren weben, sticken, stricken, nähen, Keramiken und Einlegearbeiten herstellen können.

In die gleiche Kerbe schlägt Josef Steurer. Sein Geheimrezept ist das Altenturnen, mit dem ältere Menschen nicht nur körperlich, sondern auch geistig, seelisch mobilisiert werden sollen. Guter Engel bei der

Verwirklichung dieser Pläne ist Prof. Berta Komauer, die sich seit ihrer Pensionierung intensiv mit dem Problem der Seniorengymnastik auseinandergesetzt hat und heute „einsame Spitze in Europa“ ist. Berta Komauer, von der niemand vermuten würde, daß sie selbst schon mit dem 80. Geburtstag kokettiert, hat auf wissenschaftlicher Basis ein Leibesübungenprogramm für Senioren ausgearbeitet, dessen Verwirklichung auf breiter Basis in den kirchlichen Altenklubs im Herbst geplant ist. Zur Zeit bildet sie in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Leibeserziehung Fachkräfte aus, die den Besuchern der pfarrlichen Altehklubs das altersgemäße Turnen schmackhaft machen können.

Psychologische Hilfe bietet die Katholische Frauenbewegung den Senioren in einer Beratungsstelle im Pastoralamt am Stephansplatz, während sich der Katholische Familienverband vor drei Jahren den „Oma-Dienst“ einfallen lassen hat. Wie die

Leiterin des Oma-Dienstes, Traudl Langfelder, betont, gehe es darum, Mütter mit kleinen Kindern und ältere Frauen, die gerne Kinder betreuen würden, zusammenzubringen und so zur Aktivierung der Senioren beizutragen. Die Omas werden den Familien auf Dauer vermittelt, um einen guten persönlichen Kontakt herzustellen.

Die Ausbildung von Altenhelfern hat die Caritas der Erzdiözese in ihrer Fachschule für Altenhilfe übernommen. Zur Zeit läuft in Wien der dritte Jahrgang dieses Schulversuchs. Die Ausbildung dauert ein Jahr und umfaßt 600 Theoriestunden und 400 Praxisstunden. Zur Zeit führt die Fachschule in einigen Wiener Dekanaten (Simmering, Leopoldstadt, Döbling) einen Pflegekurs. Zielgruppe sind Frauen, die in ihrem Pfarrbereich kranke und behinderte ältere Menschen in deren Wohnung versorgen könnten. Altenreferent Steurer peilt dabei gleich einen Nebeneffekt an: die jungen Mütter könnten so wieder die über der Medikamenteneuphorie der letzten 20 Jahre in Vergessenheit geratene Rolle des „Heilpraktikers in der Familie“ lernen.

Und die religiöse Dimension? Vieles, was von kirchlicher Seite für die älteren Menschen getan wird, könnten vielleicht auch andere tun. Der Seelsorger Hildebrand Merkl, der mit der Aktion „Diene dem Alter“ zusammenarbeitet, faßt das materielle Bemühen als Voraussetzung für das geistliche Gespräch, das behutsame Heranführen an die Sinnfrage auf: „Die heutige Seelsorge sieht immer mehr den ganzen Menschen. Heute geht es nicht nur um eine letzte ,gute Sterbestunde', sondern es geht darum, den älteren Menschen zu helfen, menschenwürdig zu leben und auch im Alter persönlich zu reifen.“

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