Englisch lernen für die Baustelle?

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Geringe oder falsche Ausbildung ist die Schiene, die junge Menschen direkt in die Armut führen kann. Eine Entwicklung, die derzeit noch viel zu wenig Beachtung findet.

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Geringe oder falsche Ausbildung ist die Schiene, die junge Menschen direkt in die Armut führen kann. Eine Entwicklung, die derzeit noch viel zu wenig Beachtung findet.

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Mit der Arbeitslosigkeit des Vaters hat alles angefangen. Martin war 14, als sein Vater "wegrationalisiert" wurde: "Aus" nach 21 Jahren Betriebszugehörigkeit. Der Vater hat das nicht verkraftet, hat zum Alkohol gegriffen, war nur noch "zu": "Es war nicht mehr schön daheim." Martin flüchtet vor den dauernden Streitereien ums Geld, kommt tagelang nicht nach Hause, wechselt vom Gymnasium auf die Hauptschule, von der auf eine andere, verliert Freunde, rutscht ins Drogenmilieu; trifft schließlich auf einen Sozialarbeiter, mit dem er kann, beendet die Schule, beginnt eine Lehre. Mittlerweile ist Martin 16 und lebt in einem Lehrlingswohnheim. Sein Monatseinkommen beträgt 3.800 Schilling.

Von praktisch nichts lebt die 17jährige Karin. Seit einem halben Jahr sucht sie eine Lehrstelle in der Gegend um St. Pölten. Eine aussichtslose Sache, selbst mit einem sehr guten HBLA-Abschluß: "In Krems war eine Friseurlehre ausgeschrieben, da haben sich 50 Leute drum beworben." Karin wohnt im neu gebauten Haus ihrer Eltern, die stecken bis über beide Ohren in Schulden.

Verena wiederum ist - noch - vollauf beschäftigt. Sie studiert und bezieht als ältestes von fünf Kindern ein Stipendium - in Durchschnittshöhe, dazu die Kinderbeihilfe. Von den rund 6.000 Schilling Einkommen zehnmal im Jahr verbraucht Verena monatlich 3.300 Schilling für das Zimmer im Studentenwohnheim: "Andere haben noch weniger."

Leicht tun sich junge Menschen im Wohlfahrtsstaat Österreich nicht. Im Gegenteil: die Zahl jener Jugendlichen, die armutsgefährdet oder arm zu nennen ist, steigt und hat den Anteil der "alten Armen" längst überschritten. Schüler in Familien mit geringem oder keinem Einkommen, Jugendliche ohne Lehrstelle oder Job, Studenten aus weniger betuchten Elternhäusern, aber auch junge Familien und Alleinerzieherinnen zählen zu den "jungen Armen". Studentenproteste und endlose Lehrlingsdebatten manifestieren inzwischen die prekäre Situation, trotzdem ist "das Bewußtsein dafür, daß es in Österreich arme Jugendliche gibt, noch nicht sehr weit ausgeprägt", konstatiert Norbert Schermann, Referent des Instituts für Jugendpastoral in der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Jugend Österreichs (AKJÖ). Schermann ortet in Gesellschaft wie Wissenschaft "einen Hang dazu, differenzierte Wahrnehmung zum Thema Armut zu verweigern" - was sich in einer simplen Tatsache niederschlägt: "Es gibt praktisch kein Datenmaterial zum Aspekt Jugendarmut." Das trifft vor allem auf den großen Teil der unter 20jährigen zu, der ohne eigenes Einkommen noch im elterlichen Haushalt lebt: in der Statistik scheinen diese Jugendlichen praktisch gar nicht auf, da bei einschlägigen Einkommens-Erhebungen ausschließlich Haushalte betrachtet werden. Jugendliche würden also "in den Familienverband hineindelegiert", kritisiert Schermann, und damit auch in der Diskussion um Armut als eigenständige Größe negiert. Staatliche Transfers an Jugendliche machen den "Umweg über die Familie", wem sie letztendlich zugute kommen, bleibt ungewiß.

Geld muß man haben Dabei spielt insbesondere bei Pubertären materieller Besitz eine wesentliche, weil identitätsstiftende Rolle. Bestimmte Modemarken, die aktuelle CD-Sammlung prägen das kulturelle Selbstverständnis Jugendlicher, sind "generations-stiftendes Element": "Von daher ist es eine Katastrophe, bestimmte Waren nicht erwerben zu können", so Schermann. Gleichzeitig komme die Entkoppelung von Konsum und Leistung zum Tragen: "Es fragt kein Mensch mehr: woher hast du die Mittel, um dir das leisten zu können? Das Diktat lautet: du hast die Mittel zu haben, woher ist egal." Die elterliche Parole "leiste was, dann kriegst du was" kollidiert mit der Erfahrung des Hauptschülers, trotz brav erbrachter Leistungen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu bleiben. Dem "Aufstiegsmythos" der westlichen Welt stehen die nüchternen Fakten der Sozialforschung gegenüber: 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen verlassen nicht das soziale Milieu, in das sie hineingeboren wurden.

Am Lehrstellenmarkt hat vor zwei Jahren erstmals die Zahl der Lehrstellensuchenden jene der Lehrstellenangebote überschritten, berichtet der Geschäftsführer des Instituts für Jugendforschung in Wien, Bernhard Heinzlmaier: "Die Schere geht jetzt also auch im quantitativen Bereich auf." Bisher hatte man immer noch, wenn auch unabhängig von regionalen Möglichkeiten und persönlichen Wünschen, Gesuche gegen Angebote positiv aufrechnen können. Heinzlmaier gibt der Lehre überhaupt wenig Chance auf Karriere. Angesichts des Strukturwandels in der Wirtschaft - weg vom Produktions-, hin zum Dienstleistungsbereich - und einer mehr Flexibilität und Mobilität fordernden "Europäisierung" der Arbeit lautet sein Credo: "Hinein mit den Leuten in höhere Bildungsgänge!"

Auf seiten der Katholischen Arbeiterinnen- und Arbeiterjugend (KAJ) hat man sich schon mit minimalen Forderungen nach mehr Bildung kalte Füße geholt. KAJ-Bundessekretärin Gertraud Langwiesner macht für Defizite in der dualen Ausbildung in erster Linie die Wirtschaftstreibenden verantwortlich: "Die wollen einfach nicht investieren und jammern nur. Jetzt soll der Lehrling auch noch Englisch lernen: um Gottes willen, was braucht der Englisch auf der Baustelle?"

Bildung kostet was Dort, wo es Bildung gibt, muß immer häufiger auch dafür bezahlt werden. Karin beispielsweise hatte beim Arbeitsamt vergeblich nach einer Lehrstelle für Masseurin gesucht. Statt dessen bekam sie ein Anmeldeformular für einen Masseurkurs in die Hand gedrückt: "Da standen die Kosten drauf: ungefähr 70.000 Schilling der Kurs mit Diplom. Um mir das leisten zu können, muß ich mindestens sechs Jahre arbeiten gehen."

Gerade bei Mädchen werde bei der Ausbildung immer noch und erst recht wieder gespart, kritisiert Marion Breiter, Vorsitzende des Netzwerkes für Frauen- und Mädchenarbeit in Österreich. Das belege der letzte Frauenbericht ebenso wie die anhaltende, jedes vierte Mädchen in Österreich betreffende Einstellung von Eltern, das Kind würde "ja doch heiraten". Zwei Drittel aller Lehrstellensuchenden seien Mädchen, so Breiter, und nur ein Bruchteil des Lehrstellenspektrums komme traditionellerweise für sie in Frage.

Mit geringer oder falscher Ausbildung werde aber die Schiene in die Armut gelegt. "Jugendarmut kann nur diskutiert werden unter der Voraussetzung einer Geschlechter differenzierenden Betrachtungsweise", betont auch AKJÖ-Referent Schermann.

Ganz drastisch gestaltet sich die Situation für Jugendliche am Land. Zur stärkeren Verhaftung in Rollenklischees treten Probleme mit Mobilität und generell dürftigem Arbeitsangebot. Karin hatte es mit ihrem HBLA-Abschluß zunächst im Gaststättengewerbe versucht: "Die meisten sagen aber: erst ab 18, weil da hast schon ein Auto und kannst auch um elf oder zwölf auf d'Nacht heimfahren; das kann ich jetzt nicht, weil es von St. Pölten zu meinem Heimatort um die Zeit keine Zugverbindungen mehr gibt."

Bedrängnis herrscht aber nicht nur unter Lehrstellensuchenden, auch auf den Universitäten wird es eng. Dort zeigt sich mittlerweile, daß der freie Universitätszugang nicht die gewünschte Öffnung hin zu Arbeiter- und Bauernschichten gebracht hat, wie der Leiter des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung, Bernd Marin, feststellt. Vielmehr seien Beamten- und Akademikerkinder durch das System gefördert worden. Verschärft werden die Ungleichheiten jetzt noch durch die Auswirkungen des Sparpakets. Sie bedeuten, "daß vor allem Kinder aus Mehrkinderfamilien immer weniger zu studieren beginnen", so der Vorsitzende der Österreichischen Hochschülerschaft, Wolfgang Gattringer.

Soziale Selektion Im letzten Semester sind die Studienanfängerzahlen um acht Prozent zurückgegangen, immer mehr Maturanten gehen erst einmal einige Monate oder Jahre Geld verdienen. Gattringer: "Natürlich findet hier eine soziale Selektion statt, eine Selektion nach der Brieftasche der Eltern." Während des zweiten Studienabschnitts arbeiten heute bereits drei Viertel aller Studenten, im Genick der Druck, die Mindeststudiendauer nicht zu überschreiten. Von ihr sind im Zuge des Sparpaketes Sozialleistungen wie Studien- und Familienbeihilfe abhängig gemacht worden. Die Freifahrten sind sowieso gefallen, und das heißt viel bei einem durchschnittlichen Studentenbudget von 6.500 Schilling. Nur zwölf Prozent aller Studierenden speisen dies aus einem Stipendium, dessen mittlere Höhe bei 4.500 Schilling liegt. Die Wohnkosten explodieren derweil, auch in den Heimen, wo kaum mehr ein Kammerl mit zehn Quadratmetern unter 3.500 Schilling zu haben ist. "Das Studentenheim erfüllt seinen sozialen Zweck schon lange nicht mehr", so Gattringer.

Die Folgen der Bedrängnis: Einzelkämpfertum, Rückzug aus der gemeinsamen Verantwortung, aus politischem Engagement - und damit noch weniger Chancen auf Durchsetzung von Interessen. Während Studenten aber zumindest die Möglichkeit bleibt, per Wählerstimme ein politisches Zeichen zu setzen, fallen Jugendliche unter 18 Jahren als politische Subjekte gänzlich unter den Tisch. Die Forderung diverser Jugendorganisationen: Wer mit 14 für strafmündig erklärt und dem Arbeitsleben mit all seinen Pflichten und Härten ausgesetzt wird, soll mit 16 auch das Recht bekommen, sich politisch dazu zu äußern. Nur als Wähler könne es Jugendlichen gelingen, Politiker auf sich aufmerksam zu machen.

Am 13./14. Mai 1998 veranstaltet das Institut für Jugendpastoral der Arbeitsgemeinschaft Katholische Jugend Österreichs (AKJÖ) in St. Virgil (Salzburg) ein Symposium zum Thema "Jugendarmut und Jugendarbeit".

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