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Vor der Tür die Butterbrote für die Armen...

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Eine Million Menschen sind in Österreich akut armutsgeiahr-det. Soziale Studien prophezeien für die Zukunft eine zwischen arm und reich tief gespaltene Gesellschaft.

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Eine Million Menschen sind in Österreich akut armutsgeiahr-det. Soziale Studien prophezeien für die Zukunft eine zwischen arm und reich tief gespaltene Gesellschaft.

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Wenn ich in der Früh aufstehe, weiß ich, daß mir für diesen Tag 40 Schilling zur Verfügung stehen. Ein Kaffee, ein Kipferl, vielleicht eine Zeitung und dann ist es für heute vorbei.” Die Stimme am Telefon verstummt für einen Augenblick. „Ich habe einen Beitrag im Radio über die Armutskonferenz gehört. Mir ist es lange Zeit sehr schlecht gegangen.” Wieder eine Pause. Der Mann räuspert sich. „Ich würde gerne mitarbeiten.”

Rund eine Million Menschen sind in Österreich akut armutsgefährdet. Wer das nicht glaubt, kann in der Studie des Sozialministeriums „Von Ausgrenzung bedroht” nachschlagen. Orientiert an der einkommensbezogenen EU-Skala zählen 26 von 100 alleinstehenden Osterreicherinnen und Österreichern im Alter von mehr als 65 Jahren zur Gruppe der Armutsge-fährdeten. Allein das sind schon 100.000 Ernstfälle. Und von den 250.000 Alleinerziehenden gilt jeder fünfte als verstärkt von Armut bedroht. Mit einem Kind trägt ein(e) Al-leinerziehende(r) bereits ein höheres Verarmungsrisiko, bei Familien mit Alleinverdiener wird es ab drei Kindern brenzlig. Arbeitslose und Zu-wanderer runden den Armenclub ab.

Die Armutsspirale zwingt jetzt weitere Teile der Bevölkerung in die Knie

Auf den Arbeitsmarkt bezogen: Während sogenannte Randgruppen in den letzten Jahrzehnten schon zum gewohnten Bild unserer Gesellschaft gehörten, zwingt die Armutsspirale jetzt weitere Teile der Bevölkerung in die Knie. Eine Hochrechnung der heutigen Veränderungen der Arbeitswelt für zwei Generationen - durchgeführt durch das Europäische Zentrum für Sozialforschung - führt zu einer tief gespaltenen Gesellschaft: E,inem Viertel gut ausgebildeter, vollbeschäftigter und sozial gut abgesicherter Arbeitnehmer würde ein weiteres Viertel von weniger gut gesicherten, im Durchschnitt weniger gut ausgebildeten und meist im Dienstleistungsbereich beschäftigten „Flexi-Workern” gegenüberstehen. Die andere Hälfte wären Gelegenheitsund Saisonarbeiter, schlecht bezahlt, oft arbeitslos, mehr oder weniger an der Armutsgrenze lebend: zu einem Großteil Frauen, ausländische Staatsbürgerinnen), Behinderte, Alte oder auch unterschiedlich gut qualifizierte Jugendliche, denen es nicht gelingt, einen Job zu bekommen. In Frankreich sind jetzt schon 26;Prozent aller Jugendlichen arbeitslos, weitere 25 Prozent fretten sich mit Gelegenheitsarbeiten durch.

Arm ist aber nicht nur, wer in Pappschachteln am Bahnhof schläft, sondern wer am Leben nicht voll teilnehmen kann. Arm ist, wer sich Heizen, Wohnen, Essen, Urlaub und Bildung für die Kinder nicht mehr leisten kann. Um Armut erfassen zu können, ist auf die gesamte Lebenslage von Menschen Bezug zu nehmen. Wobei Lebenslagen als Spielraum, den die gesellschaftlichen Bedingungen dem einzelnen zur Entfaltung und Befriedigung seiner wichtigen Interessen bieten, zu verstehen ist. Im Lebenslagenkonzept werden Einkommen, Wohnung, Bildung, Sozialbeziehungen, Gesundheit untersucht und mit Lebenszufriedenheit, Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, Ängsten und Sorgen verglichen. Kumulationseffekte weisen auf Verarmungsund Ausgrenzungstendenzen hin.

Die zahlreichen Ausschließungsmechanismen, die mit fehlender ökonomischer Eintrittskarte zur Normgesellschaft einhergehen, fressen sich in die betroffenen Personen selbst hinein. Für Arbeitslose beginnt die Frage eigener Bedeutung(slosigkeit) und (Un)Wichtigkeit am Selbstvertrauen zu nagen, alleinerziehende Mütter vereinsamen, weil ihnen die Freundinnen abhanden gekommen sind, die früher noch auf ihre Kinder aufgepaßt haben. Armut korrespondiert mit Armut an Ressourcen, wie zum Beispiel der Zeit. In Zeitarmut liefert sie ihr Kind in der Früh im Kindergarten ab, zischt in die Arbeit, um die Lebenshaltungskosten zu finanzieren, am Abend holt sie ihr Kleines wieder ab, versorgt es, macht den Haushalt, und fällt ins Bett. Arm ist auch, wer keine Zeit mehr hat - außer um das Überleben zu sichern. Soziale Ausgrenzung geht mit einer Abnahme an zur Verfügung stehenden Selbsthilfepotentialen einher.

Dort, wo Solidarität am nötigsten wäre, geht sie am meisten ab...

In verarmten Wohnmilieus ist ein völliger Ausfall der Nachbarschaftshilfe festzustellen, bei gleichzeitiger Distanzierung und Abgrenzung von den übrigen Hausbewohner(inne)n. Dort, wo Solidarität am nötigsten wäre, geht sie am meisten ab. Die Gesichter der Armut sind nicht schrill, Menschen verstummen. Die anderen am Band, denen die bedrohliche Einsicht aufstößt, daß ihr jetziger Status viel unsicherer ist als sie je gedacht hätten, verstummen im Baunzen, wehren sich im dumpfen Groll. Scham auf der einen Seite, rebellierende Selbstunterwerfung auf der anderen. Die in Sorge um ihre Lebensgrundlagen stehen sind aber nicht bei Protestveranstaltungen auf der Straße zu sehen: Mindestrentner, Zu-wanderer, Arbeitslose, Alleinerziehende haben sich schon längst aus allen politischen Zusammenhängen zurückgezogen, ihre Lebenslagen sind völlig vereinzelt, ihre Interessen in den letzten Wahlkämpfen als einander gegensätzlich erklärt worden.

Die realen Nöte und massiv verletzten Gerechtigkeitsgefühle der Bevölkerung gewieften Demagogen zu überlassen, wird den Betroffenen wie der Gesellschaft insgesamt auf Dauer nicht guttun. Daß eine engagierte Sozialpolitik die beste Sicherheitspolitik ist, zeigen die Berechnungen bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um ein einziges Prozent: 760 zusätzliche Morde, 31.000 mehr Opfer von Gewaltverbrechen, 111.000 mehr Eigentumsdelikte, 18.000 mehr Herztote in den USA. Dazu kommen finanzielle Lasten:

In Österreich kostet ein Prozent zu -sätzliche Arbeitslosigkeit direkt drei und indirekt etwa neun Milliarden Schilling. Die Steigerung von Drogen- und Alkoholmißbrauch, Gewalt in den Familien und andere Folgen wurden im einzelnen nicht erhoben. Heimerziehung für verwahrloste Kinder ist in jedem Fall sauteuer ohne zu wirken, Psychiatrie und Gefängnis sind die kostenintensivsten Unterbringungsformen im Land. Die Etablierung eines Gleichgewichts des Schreckens zwischen denen, die ihre Privilegien mit erhöhtem Polizeiaufgebot absichern werden, und denen, die die Verarmung in gewalttätige Unzufriedenheit treibt, wird Fixpunkt einer Gesellschaft im Auseinanderbrechen. Der Marsch in die Vier-Viertel-Gesellschaft wird durch ein Polizeikordon gesichert.

Blickkontakt zwischen den Gesättigten und den Menschen am Rand...

Die Binnenrivalitäten zwischep,Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen Armen und „bald Armen”, zwischen Zuwanderern und Eingeborenen finden in der Splittergesellschaft fruchtbaren Boden, um weiter zu gedeihen. Das Sparpaket war ein Lehrbeispiel dafür, wie Interessen und Macht im öffentlichen Meinungskampf vertreten sind.

Die Verteidiger des lähmenden Versorgungsstaates wie die Herolde des neoliberalen Sparstaates können zwar bei der Taschengeldstreichung für Behinderte oder der Kürzung der Notstandshilfe mauern, für die Beibehaltung moderner Sklavenarbeit von Kolporteuren ist ein Herausbrechen von Ziegeln aber allemal möglich. Um den Blickkontakt zwischen den Gesättigten und den Menschen am Rand der Wohlstandsparty wiederherzustellen, haben sich Wohlfahrtsverbände, Sozialinitiativen, Bildungseinrichtungen, soziale Bewegungen in Österreich zum „Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung” zusammengeschlossen. In Wiener Gemeindebezirken werden sich lokale Foren gründen, im ländlichen Baum bilden sich Bündnisse vor Ort, die mit ihrem Interessendruck zu verhindern suchen, daß den Schwachen die Schwächsten zum politischen Opfer dargebracht werden.

Die Stimme am Telefon hat für mich einstweilen Gesicht bekommen, ein vierzigjähriger Mann mit faltiger Stirn, an der man den Druck der letzten Jahre erahnen kann. Herr Petrik wird sich engagieren, in einer Gruppe, die sich mit Armut und Arbeitslosigkeit beschäftigt. „Gebt den Armen Kuchen”, hat Marie Antoinette 1789 vorgeschlagen. 200 Jahre später schütteln wir den Kopf über soviel Unvernunft. Diejenigen, die sich nicht in die erste Reihe am Büffet durchkämpfen konnten, bitten wir, die Party zu verlassen. Vor der Tür gibt es dann Butterbrote.

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