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Digital In Arbeit

„Schmutzige Arbeit?“

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In einem gewissen Sinn muß man auch jene Arbeitnehmer den „neuen Armen“ zurechnen, die infolge unzureichender Berufskenntnisse oder besonderer zufälliger Bedingungen „schmutzige Arbeiten“ leisten: Fremdarbeiter und rassisch Diskriminierte ebenso wie Immigranten der ersten Generation gehören zu dieser Gruppe.

Die relativ und oft auch absolut hohe Honorierung sichert jenen, die gleichsam unehrenhafte Arbeiten für die Gesellschaft verrichten, einen guten Rang in der Einkommenshierarchie. Anderseits ist aber die soziale Diskriminierung derart, daß die in Frage kommenden Arbeiter sich am Rand der Gesellschaft ansiedeln müssen. Dadurch erstreckt sich der Status der Armut oft über Generationen. Ähnliches gilt für jene, die Notberufe haben, das heißt in einer besonderen Lebenssituation eine berufliche Tätigkeit ausüben, die zum Unterschied von den schmutzigen Arbeiten auch relativ schwach honoriert wird. Da die in Notberufen Tätigen mit ihren Versorgungschancen meist nahe der kritischen Poverty-line sind, betrachten sie ihren Beruf oft als provisorisch, wodurch es zu Sozialfrustrationen kommt, die sie als Folge ihres geringen Einkommens im Konsumbereich (etwa durch Pnestigekonsum) nicht beheben können.

Typisch und atypisch

Die Kennzeichen der „neuen Armut“ sind, unter gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Merkmale der klassischen Armut, sowohl typische als atypische:

Da jede Familienplanung fehlt, ist die Zahl der Kinder in den Armenregionen außerordentlich hoch. Das Je-Kopf-Einkommen ist nun meist als Folge einer Korrelation von Kinderzahl und ökonomischen Lebenschancen außerordentlich gering.

Wegen des Vorherrschens spezi-

fischer Krankheiten und der Abneigung, rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist die Sterblichkeitsziffer vor allem in den südamerikanischen Armenregionen relativ hoch. Dieser Sachverhalt ist ein zusätzlicher Grund dafür, daß die Zahl der jungen Menschen, ähnlich wie in den Entwicklungsländern, in den Regionen „neuer Armut“ besonders groß ist. Dadurch ist aber auch die Zahl der Noch-nicht-Produzen- ten weit über dem Durchschnitt gelegen.

Während bei der klassischen Armut das Patriarchat überwiegt, gibt es in den typischen Lebensregionen der „neuen Armut“ eigenartige Formen des Matriarchates, eine Folge der Promiskuität. (Bis zu einem Viertel sind die Lebensgemeinschaften illegitim.) Der Vater ist entweder nicht ermittelbar oder vielfach, wenn eruiert, nicht geneigt, sich an den Häushaltsverband zu binden. Nicht selten sind aber die sogenannten „wilden Ehen“ auch eine Vorform der offiziellen Ehen. Diese werden zuweilen deswegen nicht oder spät abgeschlossen, weil man, noch in konventionellen Vorstellungen befangen, die Kosten der Eheschließung, vor allem der Sippenbewirtung, nicht zu tragen vermag.

Die Familienstruktur in den Regionen „neuer Armut“ ist daher durch eine weitgehende Absenz der Väter charakterisiert. Daher die relativ große Bedeutung der Mutterverwandtschaft wie bei manchen primitiven Völkern.

Anderseits besteht aber wiedef ein Kult der Maskulinitöt, wie ihn Lab- bens, Klanfer und Lewis schildern, teilweise auch als Anzeiger eines pansexualistisch-animalischen Lebensstils, der wieder Index der besonderen Versorgungslage und der eigenartigen Werthorizonte der „neuen Armen“ ist.

Armut im Ghetto

Ein weiteres atypisches Kennzeichen ist die Ansammlung von Armut in verschlossenen Regionen (Slums, Kanisterstädte wie die Favellas Südamerikas).

Die Ghettoisierung der Armut als eine lokale Akkumulation von Elend hat verschiedene Ursachen: In erster Linie sind die in den Armenquartieren verfügbaren Mietwohnungen billig, wenn Wohnungen nicht ohnedies von den Armen selbst errichtet werden. Der zweite Grund ist, daß die Armen einander als sozial ebenbürtig betrachten und dies durch Wohnen in der gleichen Region betonen. Ein weiterer Grund ist, daß sich in der Armenregion eine Summe bedarfskonformer Dienste entwickelt, die schichttypisch sind, daher oft als wirksamer angesehen werden als die Dienste der Behörden. Auf diese Weise werden eigenartige Infrastrukturen konstituiert, welche die formalen (behördlichen) Infrastrukturen oft überflüssig machen. Durch die Etablierung der Armen in eigenen Wohn- und Lebensräumen kommt es schließlich zu dem, was die Theorie exclusion sociale nennt, zu einer Selbstausschließung der Armen und zu einer strukturellen Unterbrechung der Kontakte zur Gesamtgesellschaft, die stets noch als herrenständisch organisiert angesprochen wird.

Solidarität

Als Folge ähnlicher Lebensbedingungen und gemeinsamen Wohnens entsteht auch eine autochthone Kleingesellschaft.

Da die Formen des Soziallebens zu einem nicht geringen Teil pathologischer Natur sind, die Gesellschaft selbst aber ihre Dienste meist nur typisch veranlagten Personen anbietet, kommt es zum Entstehen einer eigenartigen Solidarität Diese ist kaum ethisch begründet, sondern zeigt sich in einer solidarischen Verwertung gegebener Lebenschancen, in einem eigenartigen un-ethischen Konkretismus.

Wo Solidarität sichtbar wird,, hat sie die Form von Nachbarschaftshilfe. Die solidarischen Akte sind durch statisches Denken, durch den Willen, angemessen versorgt zu werden, wenn nicht zu überleben, Begründet. Solidarische Hilfe wird außerdem in Erwartung von Gegenhilfe geboten.

Als Folge eines relativ einheitlichen, allgemeinen und beruflichen Bildungsniveaus und einer oft gerade geographischen Begrenzung, entsteht im Bereich der neuen Armut eine margin ale Eigenkultur, die jedoch heute Verbindungslinien zur Gesamtkultur aufrechterhält (etwa durch Pflichtschulen und durch die Einflußeffekte der Massenmedien). 1

Daher ist die Kultur der Armen keine Volkskultur, wie sie noch im klassischen Pauperismus bestanden hat, sondern eine exklusive Kultur, die jedoch vielfach extrovertiert und daher im Sinn der jeweüigen regionalen völkischen Kultur manipulierbar ist.

Die Eigenkultur der Armen in den verschlossenen Regionen ist, wie bei den Zünften der exklusiven mittelalterlichen Handwerkerstädte, weitgehend verhaltensbestimmend, so daß sie sogar zur Endogamie führt, die auf der Vorstellung einer Ebenbürtigkeit beruht. Gerade bei der Verehelichung wird das Statusbewußtsein — wie bei anderen Schichten — stark ausgedrückt: Die Armen versuchen, wenn sie heiraten, die ihnen zugemutete soziale Rolle optimal darzustellen.

Keineswegs ist die Kultur der Armen eine Summe von Verhaltensweisen, die von der „Empörung“ bestimmt sind, von jener Armengesinnung, in der Hegel den „Pöbel“ ausgewiesen sieht. Die Armenkultur reflektiert lediglich als Überbau die besonderen Seinslagen der Armen am Rand der Gesamtgesellschaft.

Der in der Gesellschaft sonst vollzogene Prozeß der Annahme der sozialen Normen durch die jungen Menschen wird nach Beendigung der Pflichtschule abgebrochen. Nunmehr kommt es zur Sozialisierung in Richtung auf die Denk- und Seinsweisen der lokalisierten Armengesellschaft.

Die Eigenkultur der Armen

Im besonderen zeigt sich die Eigenkultur der Armen in einer

• Modifikation und einer Reduktion der Hochsprache an.

• Die Gesellschaftsformen sind jene der offenen und jeweils nur provisorischen Gruppe, deren Elementarzweck die Selbstversorgung ist.

• Die aus der besonderen Lebensstruktur begründeten Verhaltensregeln sind relativ wenig zeremoniell und im Sinn eines einfachen Konkretismus ausgeführt. Eventuelle Verhaltensriten sind bedarfsbestimmt, reflektieren also nur-mate- rielle Sachverhalte.

• Die Führung in der Eigengesellschaft der Armen ist keine etablierte, sondern wird ad hoc, oft durch

Toleranz, anerkannt. Daher zeigt die Kleingesellschaft der Armen Merkmale von sozial ungegliederten primitiven Gesellschaften.

• Anderseits haben die lokal integrierten „neuen Armen“, zum Unterschied von den primitiven Gesellschaften, kaum allgemeine Wertvorstellungen.

• Schließlich ist die Gesellschaft der

Armen auch dadurch gekennzeichnet, daß sie eine besondere Art hat, das Eigentumsrecht zu interpretieren.

Soweit das Eigentum in Gebrauchsgegenständen materialisiert ist, hat es oft den Charakter eines Solddar- eigentums, zeigt also an, daß bedingt gemeinsame Ansprüche an einen Eigentumskomplex bestehen, die in Situationen drastischer Not erhoben werden können; wie im vorindustriellen Familieneigentum.

Gewollte Armut

Angesichts der Merkmale der „neuen Armut“ kann man in ihrem

Bestand ein Anzeichen dafür sehen, daß die Infrastruktur, vor allem im Bereich des Dargebotes von Bildungsgütern, noch nicht völlig ausreicht. Oft, weü das Konsumwissen fehlt, um die neuen Bildungschancen in Berufswissen, in Bildungskapital, übersetzen zu können. Das sollte Anlaß sein, die Instrumente der Grund- und der Berufsbildung zu adaptieren, von der beruflichen Rehabilitation bis zu den hohen Schulen. Jede Produktion von Bil dungschancen setzt freilich neben Aufnahmefähigkeit auch Aufnahme- willigkeit voraus.

Das Armsein bliebe dann auf ein gewillkürte Armut beschränkt, die nicht mehr wie ehedem ein Skandal, sondern, so verwunderlich dies zu sein scheint, der Ausweis einer freiheitlichen Ordnung wäre, in der man auch das Recht sowie die unangetastete Freiheit haben muß, auf die Chance einer gesicherten Wohlfahrt zu verzichten.

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