Die vielen Ebenen sozialer Ungleichheit

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"Eine Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich wird Spuren in unseren demokratischen Gesellschaften hinterlassen und deren Stabilität unterminieren."

Wer sich in diesen politisch aufgeheizten Zeiten ein Mindestmaß an Objektivität bewahrt hat, kann nicht leugnen, dass wir in einer Welt leben, die von Ungleichheit geprägt ist. Ebenso wenig kann geleugnet werden, dass diese Ungleichheit soziale und politische Gründe hat. Sie ist nicht zufällig entstanden.

Die Ungleichheit bezieht sich auf verschiedene Dimensionen des Lebens. Dabei sind Vermögen und Einkommen entscheidende Faktoren für eine Reihe von weiteren bedeutenden Bereichen wie Zeit, Raum, Gesundheit oder Politik. Beginnen wir mit der Zeitverteilung.

Wie viel Zeit hat ein Mensch statistisch betrachtet zur Verfügung? In einem Land wie Österreich beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung derzeit knappe 82 Jahre. Ähnliche Werte gelten für die meisten anderen west-und nordeuropäischen Staaten. Global betrachtet liegen wir damit sehr weit vorne, auch wenn wir nicht ganz an die Spitzenreiter Japan oder Hongkong herankommen. In den ärmsten Ländern der Welt wie Lesotho oder Swasiland hingegen beträgt die Lebenserwartung laut UNO nicht einmal 50 Jahre.

Sowohl global betrachtet als auch innerhalb von Nationalstaaten spielt die Frage des Einkommens eine entscheidende Rolle für die Verteilung der Lebenszeit. BezieherInnen von niedrigeren Einkommen haben auch in Europa eine deutlich geringere Lebenserwartung. Berechnungen für Deutschland ergeben 11 Jahre Unterschied zwischen Männern, die weniger als 60 %des mittleren Einkommens beziehen im Vergleich zu solchen, die mehr als 150 % des mittleren Einkommens beziehen. "Arme sterben früher", titelte folgerichtig das Rostocker Max-Planck-Institut für Demographische Forschung schon 2013.

Frauen haben weniger Zeit

Lebenszeit ist also sehr ungleich verteilt. Doch auch die täglich für einen selbst frei verfügbare Zeit ist nicht für alle gleich. Zwar hat ein Tag für jeden Menschen 24 Stunden. Doch über wieviele dieser Stunden er/sie frei verfügen kann, ist eine andere Frage, die wiederum mit Einkommen und Beschäftigungsstatus sowie in der Folge mit Work-Life-Balance und Betreuungsaufgaben zu tun hat. Insofern ist die frei verfügbare Zeit für Frauen, insbesondere für alleinerziehende Frauen, deutlich geringer als für Männer. Abhängig ist jedoch auch die frei verfügbare Zeit von der eigenen Vermögens-oder Einkommenssituation. Wer sich finanziell keine existenziellen Sorgen machen muss, kann sich seine Zeit selbstverständlich freier einteilen als jemand, der von Monat zu Monat sein Einkommen für die Abdeckung der Grundbedürfnisse aufwendet und kein Vermögen besitzt. Mit anderen Worten: Mit mehr Geld kann man sich auch mehr Zeit leisten. Oder noch einmal anders: Wer mehr Geld hat, hat statistisch betrachtet auch mehr Zeit: mehr Lebenszeit und mehr frei verfügbare Zeit.

Eine weitere Dimension unseres Lebens ist der Raum, den wir zur Verfügung haben. Bezogen auf den Wohnraum zeigt sich laut Eurostat, dass 2015 ca. 17 %der EU-Bevölkerung in überbelegten Wohnungen lebten. Die höchsten Quoten verzeichnen dahingehend die ärmeren EU-Mitgliedstaaten wie Rumänien, wo dies sogar für die Hälfte der Menschen gilt. Auch wenn die Frage der verfügbaren Wohnfläche von verschiedenen Aspekten abhängt und normativ einiges gegen eine zu starke Ausdehnung des Wohnraums spricht, gilt auch hier: Wer mehr Geld hat, kann sich mehr Wohnfläche leisten. Wer über wenig Vermögen oder Einkommen verfügt, hat tendenziell auch deutlich weniger Platz für sich zur Verfügung bzw. wohnt eher in überbelegten Wohnungen.

Unterminierung der Demokratie

Einen noch stärkeren Zusammenhang gibt es zwischen Einkommen, Vermögen und Gesundheit. Global betrachtet wird es niemanden überraschen, dass in den ärmsten Ländern der Welt auch die gesundheitliche Lage am schlechtesten, die Gefahr von Epidemien am größten ist. Das hat viel mit nicht existenten oder maroden Gesundheitssystemen zu tun. Doch auch in den reichen Wohlfahrtsstaaten Europas haben ärmere Menschen ein höheres Krankheitsrisiko zu beklagen. Dies wirkt sich -wie bereits gezeigt -ganz maßgeblich auf die Lebenserwartung aus. Aber nicht nur. Menschen mit geringeren Einkommen leiden öfter an verschiedenen Krankheiten als wohlhabendere. Sie bekunden in Umfragen auch eine deutlich geringere subjektive Gesundheit.

Schließlich führt soziale Ungleichheit auch zu einer ungleichen Verteilung von politischem Einfluss und Macht. Menschen mit höheren Einkommen und Vermögen nehmen allen relevanten Studien zufolge regelmäßig an Wahlen teil und nutzen auch andere Partizipationsformen, um ihre politischen Interessen zu verfolgen. Ärmere hingegen zählen öfter zu den NichtwählerInnen und zu denen, die sich politisch zurückziehen. Sie erwarten sich wenig von den AkteurInnen der repräsentativen Demokratie, haben kaum Zugang zu Parteien oder Institutionen und fühlen sich von diesen nicht vertreten. Zur sozioökonomischen Marginalisierung kommt also eine politische hinzu, die durch eine Selbstmarginalisierung noch verschärft wird. Das wiederum unterminiert langfristig die Demokratie, die doch auf Freiheit und Gleichheit aller BürgerInnen aufbaut und darauf angewiesen ist, dass alle die gleichen Chancen zur Mitbestimmung haben und auch nutzen.

Bildung als entscheidender Hebel

Ungleiche Einkommens- und Vermögensverhältnisse sind ohne jeden Zweifel die Hauptursachen für Ungleichheit in Bezug auf Zeit, Raum, Gesundheit und Politik. Eine weitere Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich wird Spuren in unseren demokratischen Gesellschaften hinterlassen und deren Stabilität unterminieren. Das mag manche mehr und andere weniger stören. Jene PolitikerInnen, die das stört -etwa aus Gerechtigkeitserwägungen heraus oder weil sie christliche Werte wie menschliche Gleichwertigkeit oder Nächstenliebe vertreten - haben eine Reihe von Möglichkeiten, um Maßnahmen dagegen zu setzen. Auf globaler Ebene können sie Spielregeln entwickeln, die nicht zulasten der Ärmsten gehen, sondern diese im Gegenteil in ihrer Entwicklung fördern. Ungleichheit können sie aber auch innerhalb Europas und der eigenen nationalstaatlichen Grenzen bekämpfen, wenn sie das wollen -etwa durch gesetzliche Mindestlöhne, Kollektivverträge, steuerliche Umverteilung oder gendergerechte Bezahlung. Sie können auch versuchen, indirekt zu intervenieren, indem sie Arbeitszeiten verkürzen, Urlaubszeiten verlängern oder das Gesundheitssystem stärken. Wenn sie ernsthaft und nachhaltig dagegen angehen wollen, sollten sie jedoch die Gleichheit im Bildungsbereich erhöhen. Denn Bildung ist einer der stärksten Hebel für höhere Einkommen und damit auch für ein längeres Leben mit mehr Zeit und Raum sowie besserer Gesundheit und politischer Beteiligung.

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