Gravierende Unterschiede auch in Europa

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Arme Menschen sterben früher als sozial Bessergestellte. Grund für die Unterschiedeinnerhalb Europas bei der Lebenserwartung, die nunerstmals wieder sinkt, sind vor allem soziale Faktoren wie Ernährung, Bildung, Hygiene und Arbeitslosigkeit.

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Arme Menschen sterben früher als sozial Bessergestellte. Grund für die Unterschiedeinnerhalb Europas bei der Lebenserwartung, die nunerstmals wieder sinkt, sind vor allem soziale Faktoren wie Ernährung, Bildung, Hygiene und Arbeitslosigkeit.

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Die Armen bezahlen zunehmend mit ihrer Gesundheit, auch innerhalb der 51 europäischen Staaten. Das war der Tenor des zweiten European Health Forum Gastein (EHFG). Mehr als 300 Teilnehmer aus 30 Ländern diskutierten in Salzburg Anfang Oktober zentrale Fragen zum Thema Gesundheit.

Arme Menschen werden häufiger krank und der Tod trifft sie um Jahre früher als Menschen mit höherem Einkommen. Besonders groß ist die Kluft zwischen Ost- und Westeuropa, aber auch innerhalb der einzelnen EU-Länder gibt es gravierende Unterschiede.

Ein Beispiel aus der Statistik der Weltgesundheitsorganisation WHO: ein Bub, der heute in Schweden zur Welt kommt, kann mit einer Lebenserwartung von 77 Jahren rechnen. Er lebt im Schnitt um mehr als drei Jahre länger, als wenn er in Dänemark geboren wäre und sogar um sechs Jahre länger als ein Bub, dessen Eltern in England der untersten sozialen Schicht angehören.

Im Staatenvergleich haben Neugeborene in Japan und Island die höchste Lebenserwartung. Erst danach rangiert der EU-Staat Schweden, gefolgt von der Schweiz und Frankreich. Dänemark, Irland und Portugal reihen sich nach den USA und Neuseeland ein. Österreich liegt im Mittelfeld (siehe Grafik).

"Wir bemühen uns, in Europa dieses Ungleichgewicht abzuschaffen", erklärt Anna Ritsatakis, Leiterin des europäischen Zentrums für Gesundheitspolitik der Weltgesundheitsorganisation in Brüssel, während des Gesundheitsforums in Bad Hofgastein. "Es ist aber äußerst schwierig, die Ungerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung zu beseitigen."

Die Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und bei der Lebenserwartung zwischen den einzelnen sozialen Gruppen steigen nach Angaben der WHO. So ist heute das Risiko, innerhalb Westeuropas an einem chronischen Leiden zu erkranken, im unteren sozioökonomischen Milieu bereits rund doppelt so hoch wie in der Oberschicht.

Lebens- und Arbeitsbedingungen, Ernährung, Bildung, Wohn- und Lebenssituation, Umweltverschmutzung und der Zugang zu den Gesundheitsleistungen sind dafür ausschlaggebend. Nicht die reichsten Länder, betont Anna Ritsatakis, sondern Länder mit den geringsten Einkommensunterschieden haben die beste Gesundheit.

Die Kluft wird größer Es genüge daher nicht, die Ausgaben für das Gesundheitssystem zu erhöhen, um diesen Trend umzukehren. Denn der Gesundheitszustand ist in jenen Länder am besten, wo man sich aktiv mit den sozialen Faktoren von Gesundheit auseinandersetzt.

Daß eben nicht nur die Qualität der Medizin eine zentrale Rolle spielt, sondern auch Faktoren wie Armut, bestätigte eine Untersuchung der WHO: Gesundheit hängt zu 29 Prozent von Erbfaktoren, zu 24 Prozent von der Umwelt, zu 37 Prozent vom Lebensstil und nur von zehn Prozent von der Medizin ab.

Ein Beispiel dafür ist Schweden, wo es auf Grund geringer sozialer Unterschiede eine relativ homogene Lebenserwartung gibt. In England ist die Kluft stärker ausgeprägt - der Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen beträgt dort sechs Jahre, Tendenz steigend. Kamen etwa in England 1975 eines von 14 Kindern in Haushalten, in denen beide Elternteile arbeitslos waren, auf die Welt, so trifft diese Armut heute eines von fünf Kindern.

Man könne, veranschaulicht Ritsatakis die Problematik, beispielsweise von einer alleinerziehenden Mutter nicht verlangen, daß sie mit dem Rauchen aufhört, wenn diese Frau in Armut lebt, sich sonst nichts leisten kann und der Zigarettenkonsum deshalb für sie eine besonders große Bedeutung hat.

Ein weiteres Problem in Westeuropa ist die Frage des Zugangs zu Gesundheitsleistungen. Dies unterstreicht eine aktuelle Studie aus Salzburg. Das Land rangiert im oberen Fünftel der reichsten Regionen in Europa. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ist aber auch in Salzburg nicht für Programme zur Gesundheitsförderung, gesunde Ernährung und Vorsorge ansprechbar. Diese Einstellung ist vor allem bei sozial benachteiligten Menschen zu finden.

Angst vor Jobverlust Gesundheitsförderprogramme haben nur dann Sinn, so der Nationalratsabgeordnete (ÖVP) und Präsident des EHFG, Rheumatologe Günther Leiner, wenn sie auch die Lebensumstände mit berücksichtigen.

WHO-Vertreterin Ritsatakis fordert in diesem Zusammenhang unter anderem, einen gleichbleibenden Zugang zu den Gesundheitseinrichtungen zu ermöglichen. Denn viele Arbeiter gingen bei Beschwerden nicht zu einem Arzt, weil sie dann einen freien Tag nehmen müßten und Angst haben, ihren Job dadurch zu verlieren. Medizinische Dienste sollten daher auch außerhalb der normalen Arbeitszeit angeboten werden.

Alkohol und Nikotin Etwas anders ist die Problematik in den osteuropäischen Ländern. Hier ist zwar Armut ebenfalls eine der Hauptursachen für Krankheit und vorzeitigen Tod, aber es fehlt vor allem an Geld und Gesundheitsbewußtsein. Außerdem verführt Armut besonders Männer zu übermäßigen Alkohol und Nikotinkonsum.

Der Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen Europas ist weit dramatischer als innerhalb der EU. Ein Bub, der heute in Rußland geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 61 Jahren. Wäre er in Österreich geboren, dann könnte er seine Pension bis zum Alter von 74 Jahren genießen. Er hat also eine um 13 Jahre geringere Lebenserwartung.

Die größte Armut herrscht derzeit in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Das Nettoeinkommen ist etwa in Litauen seit der Wende von 1989 auf 40 Prozent geschrumpft. Die Gesundheit hat dadurch stark gelitten. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Die Folge: die Lebenserwartung unterscheidet sich in einzelnen Landesteilen um bis zu zehn Jahren.

In erster Linie auf Grund der Entwicklung der Sterblichkeitsrate in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber auch wegen der steigenden Zahl vorzeitiger Todesfälle in den unteren Sozialschichten in nahezu jedem europäischen Land, ist zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg die Lebenserwartung in Europa insgesamt gesunken - von 73,1 Jahre im Jahr 1991 auf nunmehr 72,4 Jahre.

Obdachlosigkeit Weitere wichtige Ansatzpunkte zur Verbesserung der Gesundheit in ganz Europa sind nach Ansicht der Teilnehmer des EHFG: * Zurückdrängung der Obdachlosigkeit: Nach wie vor müssen viele Menschen auf der Straße leben. Allein in London gibt es mehrere hunderttausend registrierte Obdachlose, das gleiche gilt auch für Frankreich. Schätzungsweise 60.000 Kinder leben in Moskau auf der Straße.

* Zwischen zehn und 30 Prozent der Erwerbstätigen in den hochindustrialisierten Ländern sind noch immer übermäßigen körperlichen Belastungen ausgesetzt, in Ländern mit einem niedrigen Entwicklungsstand beziffert sich der Anteil teilweise sogar auf 50 Prozent.

* Acht bis 30 Prozent der gesamten Ausgaben für die Gesundheitsversorgung entfallen auf Arzneimittel, wobei jedoch in allen Ländern hinsichtlich der Verschreibung und Anwendung von Arzneimittel nicht bedarfsgerechte und unangemessene Praktiken festzustellen sind.

* Vor allem bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen muß angesetzt werden, auf deren Konto beinahe die Hälfte (49 Prozent) aller Todesfälle gehen, in den osteuropäischen Staaten sind es 53 Prozent. Menschen unter 65 Jahren haben in Osteuropa, verglichen mit Westeuropa, sogar ein viermal höheres Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit zu sterben.

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