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Tendenz zur Aufschaukelung

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Im Vorjahr wurden in Österreich 18.204 Ehen rechtskräftig geschieden (ein Plus von 80 Prozent in den letzten 25 Jahren). Zweifellos eine beachtlich große Zahl...

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Im Vorjahr wurden in Österreich 18.204 Ehen rechtskräftig geschieden (ein Plus von 80 Prozent in den letzten 25 Jahren). Zweifellos eine beachtlich große Zahl...

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Bezieht man diesen Wert auf die Eheschließungszahlen desselben Jahres, so ergibt dies 38,3 Scheidungen, auf 100 geschlossene Ehen. In der Schlagzeile liest man dann die verkürzte, daher falsche Meldung: 38 von 100 Ehen wurden im Vorjahr geschieden.

Diese Formulierung springt zwar ins Auge, vermittelt sie doch den Eindruck einer katastrophalen Situation des Zusammenlebens in unserem Land, sie stimmt aber so nicht. Genau genommen sagt dieser Wert folgendes aus: Sollte mmmmmm^^—mmmmmmmmm die 1995 registrierte Scheidungshäufigkeit fortbestehen, so ist damit zu rechnen, daß von 100 geschlossenen Ehen langfristig 38 früher oder später in ihrem Verlauf vor dem Scheidungsrichter enden.

Wie lange dauern nun solche Ehen im allgemeinen? Rund neun Prozent kürzer als zwei, etwa 30 Prozent kürzer als fünf und 16 Prozent 20 Jahre oder länger. Im zeitlichen Vergleich erkennt man, daß der Anteil der Scheidungen nach kurzer Ehedauer sinkt (um ein Drittel seit 1961), jener nach längerer Dauer steigt (ebenfalls um ein Drittel).

Parallel zur steigenden Scheidungshäufigkeit nimmt auch die Zahl der Scheidungswaisen zu (siehe Graphik): Seit 1961 um etwa 150 Prozent. Im Vorjahr betrug die Zahl der von Scheidungen betroffenen Kinder 19.945, in der letzten Dekade dürften es ungefähr 170.000 gewesen sein.

Wie liegt Osterreich nun mit diesen Werten im internationalen Vergleich? Zieht man dazu die Scheidungsraten (Zahl der Scheidungen je 1.000 Einwohner) von 17 europäischen Ländern heran, so landete Osterreich 1993 mit einem Wert von

2,04, der etwas über dem Durchschnitt liegt, im Mittelfeld (auf Platz 10). Spitzenreiter ist mit Abstand Großbritannien gefolgt von den skandinavischen Ländern. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist somit die Scheidungshäufigkeit in Österreich weniger rasch gestiegen als im übrigen Europa, (siehe Graphik)

Meist werden die steigenden Scheidungszahlen als Indikator für den sich verschlechternden Gesundheitszustand der Familie herangezogen. Und diese Einschätzung hat etwas für sich. Allerdings ist zu beachten, daß die Scheidungen nur eine Facette eines umfassenden Phänomens sind.

Da kommt nämlich die in ganz Europa sinkende Bereitschaft, überhaupt eine Ehe einzugehen, hinzu. Im Durchschnitt sind die Eheschließungsraten seit 1948 um 40 Prozent gesunken, besonders rasch in den letzten 15 Jahren. ^Österreich liegt im Trend, etwas über dem Durchschnitt. Das unverheiratete Zusammenleben hat sich als Lebensform etabliert. Laut Familienbericht der Bundesregierung halten 75 Prozent der Jugendlichen das Modell „Probe-Ehe” für ratsam und richtig. Fast 80 Prozent von ihnen leben einige Jahre in einer solchen Beziehung.

Da diese Beziehungen noch instabiler sind als Ehen, begünstigen sie auf längere Sicht einen Trend zum Single-Dasein, der ja auch in den Medien vielfach als schick dargestellt wird. Diese Vereinzelung des Menschen ist vor allem aber eine Folge des Zusammenbruchs der Mehr-Generationen-Familie. Die in Österreich 1991 registrierten 900.000 Ein-Perso-. nen-Haushalte (um 100.000 mehr als 1981) zeigen das Ausmaß des Phänomens: Fast in jedem dritten Haushalt nur mehr ein Bewohner, meist eine alleinstehende alte Frau. Allerdings ist die Zahl der „berufstätigen” Singles stark steigend.

Neben dieser Vereinzelung und Destabilisierung der Paarbeziehung durch Scheidung registriert man noch ein massives Schrumpfen der Familie. Kennzeichnend dafür sind die dramatisch sinkenden Geburtenzahlen. Fast kein europäisches Land hat heute eine Geburtenrate, die den Fortbestand seiner Bevölkerung gewährleisten würde. In manchen Ländern zeichnet sich geradezu ein demographischer Zusammenbruch ab. Spitzenreiter in dieser Entwicklung sind Italien, Deutschland (vor allem die östlichen Bundesländer), Spanien. Die EinKind-Familien werden zum Standardmodell, Familien mit mehr als drei Kindern zur Seltenheit.

Muß man diese Entwicklung als notwendige Begleiterscheinung der auf wirtschaftlichen Erfolg zentrierten Wohlstandsgesellschaft ansehen? Muß man sie als quasi naturgegeben hinnehmen? Bedenkt man die vielen negativen Begleiterscheinungen, die insbesondere mit der Destabilisierung der Paarbeziehungen einhergehen, so scheint ein Gegensteuern mehr als vordringlich.

Um welche negativen Folgen handelt es sich da? Ein Blick in einschlä-■ Schwierigkeiten bei der Gestaltung von Partnerschaften: Viele Kinder hegen die Befürchtung, sie können die gleichen Fehler wie ihre Eltern machen. Außerdem glauben sie nicht, auf Dauern eine funktionierende Beziehung führen zu können.

■ Eine höhere Anfälligkeit für Delinquenz vor allem bei den Burschen. Bei den Mädchen wiederum läßt sich hingegen eine geringere Sorgfalt bei der Auswahl der Sexualpartner feststellen, was sich unter anderem in einem hohen Prozentsatz von Abtreibungen niederschlägt.

Ähnliche Ergebnisse liefert auch eine Langzeituntersuchung von Judith Wallerstein in den USA. Die Autorin wollte ursprünglich nachweisen, daß eine Scheidung für Kinder nach einer kurzen Belastungsphase insgesamt eine Befreiung aus unerträglichen Konfliktsituationen darstellt. Aufgrund ihrer Beobachtungen mußte sie jedoch ihre Hypothese revidieren.

Besonders bei kleinen Kindern beobachtete sie eine tiefsitzende, lang anhaltende Existenzangst, das Gefühl der Verlassenheit, der Ungeschütztheit. Mit der Scheidung dürften die Kinder den für ihre Entwicklung so wichtigen Baum der Sicherheit verlieren. Bei Grundschulkindern entwickeln sich häufig Schuldgefühle. gige Studien zeigt, daß vor allem die Kinder leidtragend sind. Eine erst kürzlich veröffentlichte Langzeitstudie der Familien- und Jugendsoziologin Anneke Napp-Peters ergab, daß Kinder Jahre, ja Jahrzehnte unter den Folgen der Trennung ihrer Eltern leiden. Da ist die Bede von langanhaltenden, erheblichen Erziehungsschwierigkeiten, von Problemen bei der Bewältigung des Alltagslebens und bei der Entwicklung von Lebensperspektiven, von größerer Anfälligkeit für Drogen, Alkohol und Jugendkriminalität. Buben seien anfälliger als Mädchen. Sie reagieren stärker mit Leistungsabfall in der Schule, Aggressivität und Konzentrationsschwäche.

Ähnliches stellt eine Untersuchung des Münchner Soziologen Wassilios Fthenakis fest. Sie hebt vor allem drei Aspekte hervor:

■ Ein erhöhtes Bisiko psychischer Erkrankungen, das in den ersten fünf Jahren nach der Scheidung viermal so hoch ist wie bei Kindern aus nicht geschiedenen Ehen.

Explosion der Scheidungszahlen?

Es gibt statistische Daten, die Jahr für Jahr den Stoff für Spitzenmeldungen in den Medien liefern. Zu ihnen gehören die Scheidungsraten. Auch heuer wurde in Österreich wieder von einem Scheidungsrekord berichtet „38 von 100 Ehen enden vor dem Scheidungsrichter”: So oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen. Medien, die in ihrer alltäglichen Berichterstattung für sexuelle Liberalisierung eintreten, jede Art von Autorität suspekt oder lächerlich machen, Treue als Relikt der verzopften bürgerlichen Gesellschaft verulken, läuten dann plötzlich die Alarmglocken und zeigen sich besorgt über eine Entwicklung, zu der sie durch ihr Wirken erheblich beitragen.

Wie sind daher solche Meldungen zu bewerten? Wie sieht die Entwicklung über einen längeren Zeitraum aus? Und: Wie hoch ist Österreichs Scheidungshäufigkeit im internationalen Vergleich? Näheres dazu im folgenden Schwerpunkt

Sie hätten ihren Eltern nicht ausreichend geholfen, meinen die Kinder dann.

Eine Schweizer Untersuchung wiederum („Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos”) kommt zu dem Ergebnis, daß Ehen, bei denen mindestens ein Ehepartner aus einer Scheidungsfamilie stammt, doppelt so häufig geschieden werden als Ehen von Partnern aus vollständigen Familien. Als besonders instabil erwiesen sich die Ehen von männlichen Scheidungswaisen.

Bemerkenswert ist der ebenfalls in dieser Studie registrierte Umstand, daß Personen, die ihrer Ehe eine Probebeziehung vorgeschaltet hatten, ebenfalls anfälliger für ein Scheitern ihrer Ehe waren (ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko). Von Scheidungen

Damit wird ein Problem offenkundig: Es besteht die Gefahr eines sich selbst aufschaukelnden Prozesses der Instabilität. Kinder aus gescheiterten Beziehungen suchen früher Halt beim anderen Geschlecht, ohne ausreichende Fähigkeit zur Konfliktre-gelung, mit großen Erwartungen an den Partner, aber wenig Zuversicht in das eigene Durchhaltevermögen. Ihr Scheitern hinterläßt Kinder, die wiederum mit derselben Hypothek belastet sind... .... Clr-iif.

Aber nicht nur für die Kinder ist die Scheidung der Eltern alles andere als eine Befreiung. Die Statistik läßt erkennen, daß auch für die beteiligten Erwachsenen die Belastung fortdauert. So ist die Sterblichkeit Geschiedener in allen Altersstufen deutlich höher als jene der Verheirateten. Sie übertrifft sogar jene der Verwitweten und ist besonders wiederum bei den Männern ausgeprägt. Für einen 30-bis 40jährigen Mann ist es bedrohlicher, sich scheiden zu lassen als stark zu rauchen. In dieselbe Bichtung weist die Selbstmordstatistik: Die Anfälligkeit Geschiedener ist überdurchschnittlich hoch.

Was bleibt als Fazit? Scheidung mag in einzelnen Fällen ein Ausweg aus einer unterträglich verfahrenen Beziehung sein. Als Massenphänomen in der modernen Gesellschaft ist sie jedoch eine Gefahr für deren Fortbestand, weil sie zur Destabilisierung der Persönlichkeit einer wachsenden Zahl von Betroffenen beiträgt und die Tendenz zur Aufschaukelung des Phänomens in sich trägt. Die Trends sprechen eine beredte Sprache.

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