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Jedes Jahr klagen uns 85.000 Kinder an

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Steifen Siesich ein vollbesetztes Fußballstadion vor. Und dann stellen Sie sich, bitte, vor, daß alle Stadionbesucher mißhandelte Kinder sind. Eine grauenvolle Vorstellung? Sie ist durchaus realistisch, wenn man die Ergebnisse einer Studie ,,Erziehungsnormen und Züchtigungsverhalten der Österreicher” ernst nimmt. Österreichs mißhandelte Kinder eines Jahres könnten durchaus ein Fußballstadion füllen.

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Steifen Siesich ein vollbesetztes Fußballstadion vor. Und dann stellen Sie sich, bitte, vor, daß alle Stadionbesucher mißhandelte Kinder sind. Eine grauenvolle Vorstellung? Sie ist durchaus realistisch, wenn man die Ergebnisse einer Studie ,,Erziehungsnormen und Züchtigungsverhalten der Österreicher” ernst nimmt. Österreichs mißhandelte Kinder eines Jahres könnten durchaus ein Fußballstadion füllen.

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Die bereits 1978 (vor dem „Jahr des Kindes”) abgeschlossene Studie wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz vom Institut für empirische Sozialforschung (IFES) in Wien durchgeführt. Sie wurde bisher nie umfassend publiziert, doch führten ihre Ergebnisse unter anderem zur Aktion „Liebe statt Hiebe” in der Fernsehsendung „Wir”. Für die Untersuchung wurden 2598 Personen herangezogen, für bestimmte Zielgruppenuntersuchungen wurden dabei Alkoholkranke, Lehrlinge, Schüler, Be-währungshilfeprobanden und Drogenabhängige befragt.

„In kaum einem anderen Bereich als bei Kindesmißhandlungen ist die sogenannte Dunkelziffer höher” sagt die IFES-Studie. Aus der Polizeistatistik lassen sich pro Jahr etwa 200 Anzeigen wegen Kindesmißhandlungen herausfiltern. Etwa zehn Kinder sterben jährlich an deren Folgen. Schätzungen von Zehntausenden Kindesmißhandlungen pro Jahr in Österreich wurden immer wieder laut. Sie werden durch die IFES-Studie leider bestätigt.

Für die Studie gilt das „regelmäßige Schlagen” als Indikator für eine Mißhandlung. Um die Zahl der mißhandelten Kinder annähernd abschätzen zu können, hat man zwei Wege zu beschreiten versucht. Den ersten durch die Frage „Sind Sie als Kind regelmäßig, manchmal, sehr selten oder überhaupt nie geschlagen worden?”, den zweiten durch die Frage „Kennen Sie Kinder (von Bekannten oder Nachbarn), die häufig schwer geschlagen werden, sodaß man eigentlich schon von Mißhandlung reden kann?”.

Bei der Befragung gaben zwölf Prozent der über 50jährigen, sieben Prozent der 30- bis 49jährigen und fünf Prozent der unter 30jährigen an, als Kind regelmäßig geschlagen worden zu sein. Nimmt man an, daß sich das Züchtigungsverhalten in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat, dann werden auch derzeit fünf Prozent aller unter 16jährigen (hier als Kinder definiert) mißhandelt, das wären rund 85.000.

Geht man davon aus, daß vier Prozent aller Befragten eines oder mehrere mißhandelte Kinder kennen, jeder einzelne davon im Durchschnitt 2,2 mißhandelte Kinder, kommt man unter der Voraussetzung, daß ein mißhandeltes Kind von etwa sechs Personen als mißhandelt gekannt wird (eine Hypothese), zu genau dem gleichen Ergebnis: rund 5.000 mißhandelte Kinder.

Und dieses randvollbesetzte Fußballstadion mißhandelte Kinder fällt der überwältigenden Mehrheit von uns nicht auf, sondern nur einer Minderheit von vier Prozent?!

Wo bleiben da die nicht mißhandelnden Elternteile, die Lehrer und Erzieher, die Kindergärtnerinnen, die Schulärzte, die Verwandten, Bekannten, Nachbarn? Ist ihnen die Gesundheit der Kinder genau so egal wie das Leben der abgetriebenen Ungeborenen (nach Schätzungen etwa auch 85.000 pro Jahr)? Ist es da ein Trost, wenn die vorsichtigsten Schätzungsvarianten „nur” auf etwa 50.000 Kindesmißhandlungen pro Jahr hindeuten?

Immerhin dürften die Zahlen in den letzten Jahrzehnten doch zurückgegangen sein. Erklärt noch ein Viertel aller über 50jährigen Facharbeiter als Kind regelmäßig geschlagen worden zu sein, sind es unter den unter 30jährigen aller Berufsgruppen maximal fünf Prozent (Ausnahme: zwölf Prozent der Hilfsarbeiter). Gewisse schichtspezifische Unterschiede will die IFES-Studie nicht überbewertet wissen: Kinder aus der Oberschicht würden „subtiler” und vor' allem psychisch mißhandelt.

Gewalttätigkeit als Erziehungsmittel lehnt die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung ab: vor allem das Prügeln mit Gegenständen (nur ein Prozent hält es „für angebracht”!) heftige Ohrfeigen und andere schmerzhafte körperliche Züchtigungen. Positiv wird dagegen der gelegentliche leichte Klaps bewertet, eher neutral das Schlagen mit der Hand. Bei den psychischen Strafen hält die Bevölkerung am meisten vom Entziehen von Vergnügen, weniger bis nichts vom Tadeln, Bösesein, Schreien und Schimpfen oder „längere Zeit nicht mehr miteinander reden”.

Schläge als Erziehungsmittel werden von 25 Prozent der Befragten überhaupt abgelehnt. Interessantes Detail: An der Häufigkeit des Schlagens hat sich bei Jüngeren im Vergleich zu den

Älteren nichts geändert, doch schlagen die Jüngeren seltener aus der Uberzeugung der Älteren heraus, „daß Kinder so etwas brauchen”. Sie sind ansprechbarer für Aufklärungsmaßnahmen. Der biblische Satz „Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn” wird übrigens nur von einer Minderheit positiv bewertet.

Schläge gehen jedenfalls auf die Dauer nicht spurlos an einem Kind vorüber. Darauf deutet jener Teil der Studie hin, der die Erfahrungen Gescheiterter und Gestrauchelter (Alkoholkranker, Drogenabhängiger, unter Bewährungshilfe Stehender) mit körperlichen Züchtigungen unter die Lupe nimmt. Fazit: Wer Gewalt ständig am eigenen Leib erlebt, wird selbst zum Gewalttäter oder zerbricht an dieser Gesellschaft.

Ein Faktum ist zunächst, daß instabile Lebensverhältnisse abweichendes Verhalten begünstigen. Während von den Lehrlingen und Schülern nur knapp ein Fünftel bis zum durchschnittlich 17. Lebensjahr mehrere Lebenssituationen (Primär-Bezugspersonen) erfahren hat, sind es bei den kaum älteren Be-währungshilfeprobanden schon 78 Prozent, bei den durchschnittlich 24jähri-gen Drogenabhängigen sogar 96 Prozent.

Ein weiteres Faktum ist, daß nicht eine unvollständige Familiensituation, sondern der Wechsel der Bezugspersonen negative Einflüsse auf das Kind hat. Und schließlich stammen Drogenabhängige meist aus einem wohlhabenden Milieu, das ihnen erlaubt, früher der Familie zu „entfliehen”.

Folgendes Umfrageergebnis spricht wohl für sich: Während von den befragten Schülern keiner angab, als Kind regelmäßig geschlagen worden zu sein, waren es von-den Lehrlingen zwei Prozent, von der Gesamtbevölkerung acht Prozent, von Alkoholkranken zwölf Prozent, von den Bewährungshilfepro-banden 20 und von den Drogenabhängigen sogar 32 Prozent!

Dabei hatten unter dem geächteten Prügeln mit Gegenständen 68 Prozent der Bewährungshilfeprobanden, 46 Prozent der Drogenabhängigen und 30 Prozent der Alkoholkranken zu leiden, aber höchstens 15 Prozent der anderen befragten Gruppen. Gegenstände, die beim Schlagen verwendet wurden, waren in erster Linie Rute, Kochlöffel und Stock, aber auch (vor allem bei Bewährungshilfeprobanden und Drogenabhängigen) Teppichklopfer, Riemen und Peitsche!

Für 48 Prozent der Bewährungshilfeprobanden, 40 Prozent der Alkohol-kranken und 36 Prozent der Drogenabhängigen war Geschlagenwerden nichts Besonderes, es „gehörte grundsätzlich dazu”. Unter den Bewährungshilfeprobanden fand sich kein einziger, der nicht geschlagen worden ist.

Die Studie ergibt klar, daß die drei Krisengruppen nicht nur häufiger, sondern auch regelrecht sadistisch mißhandelt wurden, und resümiert: „Eine brutale Erziehungsumwelt, in der Gewalt als akzeptierte Erziehungsmaßnahme vermittelt wird, in der das Kind gedemütigt wird, provoziert geradezu devjantes Verhalten, in welcher Form auch immer!”

Fest steht auch, daß sich die Krisengruppen durch die Schläge geschädigt fühlen und körperliche Züchtigungen fast genauso stark wie die Gesamtbevölkerung ablehnen, die Drogenabhängigen sogar mit noch größerer Mehrheit. Sie führten mit 100 Prozent „erklären” als wichtigste zu setzende Erziehungsmaßnahme an, gefolgt von „loben”, und „korrigieren”.

Dies alles ist in der Vergangenheit geschrieben, weil die Erfahrungen der für die IFES-Studie Befragten dieser angehören. Aber das Problem ist gegenwärtig und brennt unter den Nägeln. Die Zeit des Rohrstockes und der Rute muß auch außerhalb der Schule vorbei sein. Denn die Geschlagenen von heute sind die Schläger von morgen, die mißhandelten Kinder der Gegenwart die „Sozialfälle” der Zukunft.

Schon aus dieser praktischen Erwägung heraus müßten Staat und Gesellschaft sich hier voll einsetzen, vor allem aber aus humanen Gründen. Denn kein Mensch, der leidet, darf Christen gleichgültig sein. Schon gar nicht ein Kind. Auch nicht nach dem „Jahr des Kindes”.

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