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Aufgabe für die Sozialforschung

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Der sozialistische Publizist Josef Hindels war es, der darauf hinwies, daß es in einem Jahr, welches uns so viele Gedenkfeiern beschert, eine dankenswerte Aufgabe für die empirische Sozialforschung wäre, einmal eine nüchterne, vorurteilslose Tatbestandsaufnahme durchzuführen: Was hat die österreichische Öffentlichkeit zu Österreich als Nation und als Staat im Jahr 1965 zu sagen? Gibt es heute ein österreichisches Nationalbewußtsein oder haben jene Pessimisten recht, die aus einzelnen Vorgängen in gewissen Organisationen den Schluß ziehen, die Kräfte der Zersetzung fühlen sich heute schon wieder so stark, daß sie frech werden, aus ihrer Verachtung gegenüber Österreich kein Hehl mehr machen, vor allem die Jugend wieder mit dem Gift infiltrieren, das vor mehr als 30 Jahren den Anfang vom Ende vorbereitet hat? Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft, die sich seit Jahren besonders mit Problemen der politischen Soziologie dn Österreich befaßt, hat sich dieser Aufforderung angenommen und im Zuge eines langfristigen Forschungsprogrammes die Aufgabe gestellt, mit den Methoden der modernen Soziologie das österreichische Nationalbewußtsein zu untersuchen.

Die Studiengesellschaft hat zunächst einmal zwei demoskopische Umfragen in Österreich zu diesem Themenkreis durchgeführt. Wir berichteten über die Ergebnisse der ersten Umfrage in der „Furche“ Nr. 16/1965 („Der Österreicher hat ein Vaterland“). Sie befaßte sich mit der Frage, ob sich die Österreicher als Nation fühlen und von wann an sie ihr Nationalbewußtsein datieren beziehungsweise auf welche Faktoren sie sein Entstehen zurückführen. Die zweite Meinungsumfrage untersuchte vor allem die Intensität des Nationalbewußtseins in den verschiedenen sozialen und politischen Bevölkerungsgruppen. Will man die Frage beurteilen, ob ein Nationalbewußtsein vorhanden ist oder nicht, muß man natürlich Kriterien aufstellen, nach denen die Intensität dieses Bewußtseins zu messen ist. Wir gingen für unsere Untersuchung von folgenden Hypothesen aus:

• Das Nationalbewußtsein muß Hand in Hand gehen mit der Differenzierung von anderen Nationen.

• Ein Staat benötigt eine staatstragende Idee, die von den Bürgern des Staates allgemein anerkannt wird.

• Die Achtung vor den Staatssymbolen ist ein äußeres Merkmal, wie hoch dieser Staat im Ansehen ist.

• Die Staatsbürger müssen gewillt sein“, um den Bestand des Staates gegen jeden inneren und äußeren Feind zu kämpfen.

Zweifellos gibt es auch noch zahlreiche andere Punkte, die bei der Beurteilung des Nationalbewußtseins von wesentlicher Bedeutung sind. Wir wollten zunächst nur nach diesen Gesichtspunkten das österreichische Nationalbewußtsein untersuchen. Ergänzend sei noch hinzugefügt, daß wir in unserer Arbeit unter dem Begriff der Nation die Staatsnation verstanden und nicht die Volksnation. Das ist keine willkürliche Verwendung eines bestimmten Terminus, sondern ist etwa im angelsächsischen Raum selbstverständlich. Bei uns könnte manches Mißverständnis und manche Gegnerschaft von vornherein vermieden werden, wenn man den Entschluß faßte, nicht ständig Volk und Nation gleichzusetzen.

Bei der zweiten Untersuchung wurden 1215 Österreicher interviewt. Davon 53 Prozent Männer und 47 Prozent Frauen. Zu den einzelnen politischen Parteien bekannten sich folgende Prozentsätze der Befragten:

FPÖ ...................5,6 Prozent

KPÖ...................3 Prozent

ÖVP..................29,7 Prozent

SPÖ ..................38,2 Prozent

Keine Partei ..........23,5 Prozent

Der zu geringe Prozentsatz der Wähler, der sich zur ÖVP bekannte, erklärt sich auch daraus, daß der größere Teil jener Befragten, die sich zu keiner Partei bekannten, auf Grund von Erfahrungen in anderen Untersuchungen überwiegend ÖVP-Sympathisierende sind. Die Befragung war bemüht, hinsichtlich Altersgruppen, Sozialschichten, Bildungsgrad und Bundesländerverteilung eine repräsentative Streuung zu erreichen. Das Sample weist einige Verzerrungen auf, die aber bei der statistischen Auswertung entsprechend berücksichtigt wurden.

Die Ergebnisse der Untersuchung

Was waren nun die wichtigsten Ergebnisse dieser zweiten Befragung?

Die Einleitungsfrage lautete: „Welche Nation ist Ihnen am sympathischsten?“

Die Antwortmöglichkeiten waren vorgegeben, die Befragten konnten sich vorwiegend zwischen unseren Nachbarnationen entscheiden. Folgende Resultate wurden erzielt:

Die deutsche ...........45 Prozent

Die schweizerische .....24 Prozent

Die niederländische .....9 Prozent

Die ungarische ..........3 Prozent

Die tschechische ........2 Prozent

Die italienische .........2 Prozent

Keine Meinung ........15 Prozent

Gliedert man diese Antworten nach dem politischen Standpunkt der Befragten auf, ergibt sich ein recht interessanter Unterschied:

Während die ÖVP- und SPÖ-Sym-pathisierenden in ihrer Stellungnahme kaum voneinander abwichen, gaben von den FPÖ-Wählern 77 Prozent die Antwort: „Die deutsche Nation.“

Die Frage 2 lautete: „Über die Aufgaben Österreichs gibt es verschiedene Auffassungen. Welche, Anden Sie, ist die richtige?“ Das Ergebnis: Österreich soll eine Brücke sein zwischen Ost und West, 31 Prozent; Österreich soll eine neutrale Friedenszone zwischen den Machtblöcken sein, 26 Prozent; Österreich soll .ein Schaufenster sozialer Demokratie sein, 10 Prozent; Österreich soll eine Vorhut des christlichen Abendlandes sein, 5 Prozent; Österreich ist Träger einer großen kulturellen Erbschaft, 5 Prozent; Österreich soll nur für die Österreicher da sein, 11 Prozent; Österreich hat keine wirkliche Aufgabe, 2 Prozent; keine Meinung, 3 Prozent.

Interessant waren auch die Antworten auf einen Test, bei dem den Befragten verschiedene Meinungen über unser Land vorgelegt wurden:

Es war anzugeben, ob man diese Meinung für richtig oder für falsch hielt. Der entscheidende Punkt bei diesem Test war „Österreich würde sich am liebsten an Deutschland anschließen“. 9 Prozent fanden diese Meinung für richtig, 73 Prozent hielten sie für falsch, 18 Prozent sagten „weiß nicht“.

Demnach ist der Anschlußgedanke nicht nur bei Politikern, sondern bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung heute einfach nicht mehr da. Vielleicht sollten das aber auch jene stärker berücksichtigen, die bei allen möglichen Debatten immer gleich die Anschlußidee vermuten.

Die nächste Frage lautete: „Wenn man heute Österreich auf seine Nachbarstaaten aufteilen wollte, wie das tatsächlich 1918 geplant war, was würden Sie heute im Ernstfall machen?“

Wieder konnte man zwischen den verschiedensten Antworten wählen. „Nichts“, sagten 18 Prozent, Auswandern: 10 Prozent, dagegen als Partisanen kämpfen: 11 Prozent, dagegen streiken: 18 Prozent, mit der Mehrheit gehen: 22 Prozent, es begrüßen: 1 Prozent. Der Rest verteilte sich auf „andere Antworten“ und „weiß nicht“. In diesen Zahlen spiegelt sich auch eine sehr österreichische Haltung wider. Begrüßen würde die Auflösung Österreichs praktisch niemand, aber die meisten würden nicht aktiv dagegen Stellung nehmen, sondern passiv die Entwicklung hinnehmen.

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf Detailziffern einzugehen, obwohl die einzelnen regionalen, sozialen und politischen Vergleiche erst wirklich Interessantes über die Signifikanz der einzelnen Ergebnisse aussagen. Wir können zusammenfassend feststellen, das Nationalbewußtsein der Österreicher kann hinsichtlich der Differenzierung gegenüber anderen Nationen, Wille zur Aufrechterhaltung der Identität des Staates und Schutz der Staatssymbole, als gefestigt betrachtet werden. Am schwächsten ist das österreichische Nationalbewußtsein bei den^Wah'.ern der FPÖ entwickelt. Ein deutliches Gefälle ist bei den Altersgruppen festzustellen. Die jüngeren Leute sind nationaler im Sinne eines bewußten österreichertums als die älteren. Die meisten Befragten waren überzeugt, daß Österreich eine nationale Aufgabe in der jetzigen weltpolitischen Situation hat. So weit, so gut.

Weitere Forschungsarbeit ist notwendig

Der Verfasser dieses Aufsatzes war als Vizepräsident der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellchaft bei der Ausarbeitung und der Durchführung dieses Projektes wesentlich mitbeteiligt. Ich weiß, wie schwierig solche Untersuchungen sind und wie wenig in Österreich an ähnlichen Untersuchungen bisher vorliegt. Merkwürdigerweise lassen die Hochschulen auf diesem wichtigen Forschungsgebiet in ihrer Arbeit fast völlig aus. Der Ordinarius an der Universität Wien für Soziologie, Univ.-Prof. Dr. Rosenmayer, ist eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen, die sich seit Jahren bemühen, mit den Methoden empirischer Sozialforschung an die gesellschaftlichen Realitäten unseres Landes heranzugehen. Aber wie armselig sind selbst heute die Budgetmittel, welche dieser Lehrkanzel zur Verfügung stehen. Dabei muß man offen bekennen, daß demoskopische Umfragen erst Orientierungspunkte für die weitere Forschung geben können.

Kritik an der eigenen Arbeit

Wir sind keine Perfektionisten, die meinen, entweder müsse alles auf den ersten Anhieb den Idealvorstellungen entsprechen oder es zahle sich überhaupt nicht aus, anzufangen. Das gilt sowohl für die Forschung wie für den in diesem Fall untersuchten Gegenstand selbst. Die empirische Sozialforschung steht bei uns erst am Anfang. Viele Arbeiten auf diesem Gebiet müssen notwendigerweise Pionierarbeit sein. Ergebnisse der Arbeit sind schon deswegen sehr oft schwer interpretierbar, weil Vergleichsmöglichkeiten mit anderen einschlägigen Untersuchungen fehlen. Aber ein Anfang ist gesetzt worden. Den gilt es auszubauen. Ein Anfang ist auch gesetzt worden in der Sache selbst hinsichtlich der Entwicklung unseres Nationalbewußtseins. Das kann man selbst auf Grund der bisherigen Untersuchungen sagen. Aber wieviel mehr an Ö3terreichbewußtsein wird bei sieben Millionen Österreichern, vor allem bei den verantwortlichen Politikern, notwendig sein, wenn wir die Probleme unserer Zukunft bewältigen wollen.

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