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Wer wählte die SPÖ ?

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In der Wahlnacht 1970 erfuhren die österreichischen Wähler nicht nur schneller als je zuvor, wie sie gestimmt hatten. Einfachen Stimmbürgern ebenso wie Politikern und deren Anhang wurde überdies ein in diesem Ausmaß bisher noch nirgends auf der Welt geleisteter Service geboten. Parallel mit den Hochrechnungen im Statistischen Institut, die in dem Augenblick, in dem die endgültigen Ergebnisse feststehen, nur noch historischen Wert haben, wurden die einlaufenden Ergebnisse im Rechenzentrum des ORF nach einem neuartigen Verfahren analysiert.

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In der Wahlnacht 1970 erfuhren die österreichischen Wähler nicht nur schneller als je zuvor, wie sie gestimmt hatten. Einfachen Stimmbürgern ebenso wie Politikern und deren Anhang wurde überdies ein in diesem Ausmaß bisher noch nirgends auf der Welt geleisteter Service geboten. Parallel mit den Hochrechnungen im Statistischen Institut, die in dem Augenblick, in dem die endgültigen Ergebnisse feststehen, nur noch historischen Wert haben, wurden die einlaufenden Ergebnisse im Rechenzentrum des ORF nach einem neuartigen Verfahren analysiert.

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Bisher wurde die Frage, welche Bevölkerungsschichten in welchen Gegenden welche Trends verursacht hatten, jeweils mit mehr Fingerspitzengefühl als genauer Kenntnis beantwortet. Diese Antwort wurde frühestens am Tag nach der Wahl gegeben. Diesmal war alles anders. Kaum hatte man erfahren, daß die ÖVP in den westlichen Bundesländern schwerste Einbußen hinnehmen mußte, da stand auch schon fest, daß die FPÖ zum „Durchhaus“ geworden war (um mit Pisa zu sprechen) und daß die gut verdienenden, gehobenen Angestellten stark zum politischen Erdrutsch beigetragen hatten. Am Tag der Wahl wurden die Ergebnisse in den Sendungen des ORF soziologisch analysiert wie nie ein österreichisches Wahlergebnis zuvor. Mitmenschen, die mit ihrem Vokabular up to date bleiben wollen, müssen ein neues Wort lernen: „Mul-tivariatenanalyse“. Das Prinzipielle klingt wieder einmal recht einfach: Der Computer wird nicht dazu verwendet, von den bereits eingelangten Auszählungsergebnissen auf jene zu schließen, die erst einlangen werden, sondern dazu, in einem zweistufigen Verfahren (lineare Analyse und Multivariatenanalyse) die Ergebnisse in Gemeinden, die jeweils ein Kennzeichen gemeinsam haben, unter einer Vielzahl weiterer Gesichtspunkte miteinander (und mit den Ergebnissen der letzten Nationalratswahl) zu vergleichen. Dadurch ist es erstmals möglich, etwa den „reinen Einfluß“ des „Industriegemeindeseins“ herauszuschälen und alle störenden Eihflüsse auszuschalten. Dabei kann theoretisch herauskommen, daß sich gerade die Tatsache, daß es sich um Industriegemeinden handelt, positiv für eine bestimmte Partei ausgewirkt haben kann, obwohl andere, ebenfalls gerade in den Industriegemeinden wirksame Faktoren für diese Partei eben in den Industriegemeinden zu schweren Verlusten geführt haben.

Die Analyse wurde vom Institut für empirische Sozialforsehung für den ORF durchgeführt, der Anstoß kam vom Leiter des Instituts, Karl Blecha, der als neuer SPÖ-Abgeordneter dem Parlament angehören wird. Er gilt als bedächtiger Sprecher, aber als außerordentlich reaktionsschneller und sicherer Denker und jonglierte in der Wahlnacht in einem Zimmer auf dem streng abgeschirmten

„ORF-Gang“ der Hauptwahlbehörde mit den über ihn hereinbrechenden, von seinem Team im Rechenzentrum des ORF in intellektueller Schwerstarbeit gefilterten Zahlenmaterial. Hohen Anteil an Zustandekommen und Gelingen des Unternehmens

hatten die Wiener Bull-Niederlas-sung, die das Rechenprogramm in einem harten Arbeitsmonat erstellte, und der stellvertretende Leiter des „IFES-Instituts“, Ernst Gehmacher, der die Methodik für die Multi-variatenanalyse entwickelt hat. Geradezu archaisch mutet die Art und Weise an, wie die Wahlergebnisse in das Rechenzentrum gelangten: Nicht über die Hauptwahlbehörde, in der die Ergebnisse regional zusammengefaßt einlangen. Vertrauensleute, die in den 800 für die Untersuchung herangezogenen, nach Größen geschichteten, zum Teil auch sozio-ökono-misch, ansonsten nach Random-Verfahren ausgewählten Gemeinden angeworben worden waren, gaben nach der Stimmenauszählung die Resultate telephonisch in das Rechenzentrum des ORF (20 Telephonistin-nen) durch.

Für die Untersuchung mußte unter anderem eine Gemeindetypologie erstellt werden. Sie wurden unter einer Vielzahl von Kriterien erfaßt, etwa als ÖVP-, SPÖ- und NichtHochburgen, als umkämpfte oder als nichtumkämpfte, als Agrar-, Indu-

strie-, Dienstleistungs-, Fremdenverkehrs- oder gemischt strukturiert Gemeinden. Als stabile Gameinden oder als solche mit hoher Abwan-derungs- beziehungsweise Zuwanderungsquote, als Gemeinden mit hohem, mittlerem oder niederem Jungwähleranteil, Frauenanteil, Anteil von Wählern der verschiedenen Parteien, und so weiter und so fort. Eine außerordentlich wichtige Grundlage bei der Erfassung der Gemeinden waren die Lochkarten des Institutes für höhere Studien, ohne die wahrscheinlich keine Multivariatenanalyse möglich gewesen wäre.

Verglichen wurde jeweils in Kombinationen von bis zu vier Merkmalen — größere Gruppen von Merkmalen hätten die Zahl der jeweils miteinander verglichenen Gemeinden zu sehr verkleinert, wären auch kaum noch zu verkraften gewesen. Auch so hat die externe Organisation (Vertrauensmänner!) glänzend funktioniert, das Computerprogramm gehalten, was es versprach, während die Gehirne der mit der Auswertung der vom Computer ausgespuckten Papierstöße beschäftigten Menschen Ing. Gehmacher zufolge „den einzigen Engpaß bildeten“. Die Aussagen auf Grund der Multivariatenanalyse machen das Verhalten des österreichischen Wählers so transparent wie niemals zuvor. Nie zuvor ließen sich so prägnante Aussagen mit solcher Verläßlichkeit machen.

So konnte die SPÖ im Westen Österreichs vor allem einen Einbruch in die Schichten der mittleren und gehobenen Angestellten erzielen, im Süden und Osten auch sehr stark bei der ländlichen Bevölkerung gewinnen, jedoch weniger stark bei jenen Schichten, die im Westen zu ihrem Wahlsieg beigetragen hatten. Vereinfacht gesagt, der Tiroler Bauer erwies sich als ÖVP-treuer als der Bauer im Osten Österreichs, bei den Mittelständlern war es umgekehrt Die Jungwähler entwickelten kaum eine Eigentendenz und stimmten mit dem vorherrschenden Trend, sie erwiesen sich als sehr stark determiniert durch das Elternhaus... Die sozialen Kernschichten, freilich nicht die eigentlichen Kerntruppen der ÖVP, wurden aufgeweicht, Auflockerung des Wählers auf der ganzen Linie registriert. Der FPÖ sind verhältnismäßig mehr Frauen als Männer treu geblieben. Dies nur eine kleine Auswahl aus einem Informationsmaterial, das möglicherweise die österreichische Parteipolitik und vor allem den Stil der Wahlwerbung noch tiefgreifender beeinflussen wird als der Wahlentscheid vom vergangenen Sonntag. Bisher wurden die Zielgruppen weitgehend „über den Daumen identifiziert“. Nun haben die Parteisekretariate die Chance, „ihre“ Wähler noch näher kennenzulernen.

sich den anderen Nationen und Völkern durch das Vorzeigen ihrer Werke vorstellt, doch ist die Form solcher Selbstoffenbarung auf das Niveau des Ländermatches herabgekommen, weil ausschließlich darauf beschränkt. Kunst und frei forschende Wissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten eine Art Defensivkampf gegen die Gesellschaft geführt und in dieser Verteidigungsstellung „sich eingegraben“. Was unser kleines Land anbelangt, so haben die klügsten Ratten das sinkende Schiff längst verlassen. (Dem Kapitän geht das Wasser des kulturellen Notstandes bis an den Mützenrand. Er salutiert. Von unten glucksen und gurgeln die Massen die Bundeshymne herauf. Sie gilt den nimmermüden Händen, die schaffen und schaffen, unermüdlich schaffen, und in Abständen von ein paar Jahren einen Stimmzettel abgeben.)

Es ist hoch an der Zeit, daß man aufhört, Wohlstand zu verheißen, während man damit fortfährt, kulturellen Notstand zu verursachen.

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