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Mister Gallup in Budapest

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Seitdem die früher als bürgerlichkapitalistisch verpönte Soziologie auch im Osten Eingang gefunden hat, werden in zunehmendem Maße Meinungsumfragen durchgeführt, deren Ergebnissen man aufschlußreiche Einblicke in das politische Bewußtsein der Bevölkerung verdankt. So hat kürzlich die ungarische Wochenschrift „Elet es Irödä-lom“ das Resultat einer Umfrage unter 125 Schülern von fünf Sekun-darschulklassen veröffentlicht. Die Schüler hatten ihre schriftlichen Antworten anonym eingesandt. Das Ergebnis wurde von dem politischen Meinungsforscher als so besorgniserregend empfunden, daß er ihm einen ausführlichen Artikel widmete, der dann seinerseits eine größere Pressediskussion auslöste.

Die erste Frage, die gestellt wurde, lautete: „Sind Sie stolz, ein Ungar zu sein? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum?“ 83 Prozent der befragten Schüler erklärten ohne Einschränkungen und entschieden, sie seien stolz, Ungar zu sein. Nur 6,5 Prozent antworteten auf die Frage mit Nein. Vilmos Faragö meint in seiner Analyse dieser Umfrageengebnisse, er habe die sympathischsten Antworten unter denjenigen gefunden, die mit Nein geantwortet hätten. Unglücklicherweise handle es sich dabei aber um eine kleine Minderheit. Worauf aber ist die Mehrheit stolz? Die Antworten lassen nach Ansicht von Faragö einen „pazifistischen Nationalismus“ erkennen, der ihn mit Sorge erfüllt.

Die zweite Frage diente dazu, das Bild zu differenzieren: „Was ist — neben der ungarischen — Ihre bevorzugte Nationalität, und warum?“ Beinahe 25 Prozent erklärten sich für Frankreich, dann folgte England mit 15 Prozent, die Neutralen Schweiz und Schweden mit 11,5 Prozent, die Russen mit 9 Prozent, die Deutschen mit 8 Prozent, die Polen mit 4 Prozent. Nur ein einziger der 125 Befragten erklärte sich für Amerika.

Damit im Zusammenhang stand die dritte Frage: „Welche Nationalität möchten Sie unter keinen Umständen haben? Warum?“ 25 Prozent erklärten, für sie gebe es keine Nationen, die sie ablehnen würden. 17 Prozent erklärten sich gegen eine amerikanische Staatsbürgerschaft. 14 Prozent wollten keine „Neger“, 6 Prozent keine Chinesen, 4 Prozent keine Tschechen und 3 Prozent keine Russen sein.

Faragö zieht daraus den für ihn alarmierenden Schluß, daß aus diesen Ergebnissen eine Art ideologisch-politische Kapitulation verbunden mit Nationalismus und einer Tendenz zur Neutralität herauszulesen sei. In den vielen Stimmen für Frankreich, die Schweiz und Schweden manifestiere sich die Illusion einer Neutralität. Anderseits werde diese Jugend nicht vom hohen Lebensstandard Amerikas angezogen, sondern lehne die Vereinigten Staaten als möglichen Initiator eines Krieges ab. Einer der Jugendlichen schrieb: „Ich will nicht Amerikaner sein, weil die Amerikaner in der ganzen Welt den Krieg schüren und auch im eigenen Lande Unruhe haben (Neger). Ich will an einem friedlichein Orte leben.“ Seit dem Ungarnaufstand von 1956 scheint sich in der Tat in der Beurteilung Amerikas ein erheblicher Meinungsumschwung vollzogen zu haben. Verantwortlich dafür scheint vor allem die amerikanische Vietnampolitik zu sein, die offenbar auch viele nichtkommunistische Osteuropäer Amerika entfremdet hat. Bemerkenswert ist auch, daß sich nur drei Prozent der Befragten dagegen ausgesprochen haben, Russen zu sein. Auch im Verhältnis zur Sowjetunion scheint sich da ein erstaunlicher Wandel vollzogen zu haben. Immerhin erklärte einer der Befragten: „Der Grund, warum ich kein Russe sein möchte, liegt darin, daß die Russen für alles und jedes übermäßig gepriesen werden; das Einzige, was man hört, ist, daß die Russen in allem Erfolg haben, daß die Russen alles wissen. Ich bin bereit, zu glauben, daß sie während des Krieges die größten Menschenopfer gebracht haben, aber mir wird übel von dieser Vergötzung.“

Eine weitere Frage lautete: „Würden Sie einen Neger, einen Zigeuner oder irgendeinen anderen Farbigen heiraten?“ Nur 37 Prozent antworteten mit Ja. 45 Prozent erklärten, daß für sie eine solche Heirat nicht in Frage komme. Der Rest gab kleine eindeutige Antwort. Auch über dieses Resultat zeigte sich Faragö bestürzt, aber ain der an-'schliießeniden Pressediiskiussion wurde nicht zu Unrecht darauf hiingewie-sen, daß die Frage zu wenig überlegt worden sei. Wie könne man Siebzehn- bis Achtzehnjährigen, die überhaupt noch keine Erfahrungen mit farbigen Menschen gemacht hätten, und für die diese Alternative — einen Farbigen zu heiraten — gar nicht existiere, eine solche Frage stellen? Immerhin beweisen diese Antworten, daß es dem sogenannten Sozialismus noch in keiner Weise gelungen ist, das Übel der Rassenvorurteile auszurotten.

Schließlich die letzte Frage: „Bedroht irgend jemand den Frieden und die Unabhängigkeit Ungarns? Wenn ja: Wer ist das nach Ihrer Meinung?“ Faragö meint, vor zehn oder fünfzehn Jahren hätte es auf diese Frage eine absolute Mehrheit zustimmender Antworten gegeben. Er will damit sagen: Damals hätte eine große Mehrheit erklärt, daß der Frieden und die Unabhängigkeit Ungarns durch die Sowjetunion bedroht würden. Aber welcher Wandel hat sich auch hier vollzogen: Heute antworteten nur 53 Prozent der Befragten mit Ja. Und zwar bezeichneten 49 Prozent die imperialistischen Mächte als diejenigen, die Frieden und Unabhängigkeit Ungarns bedrohten. Es bleibt offen, ob ein Teil der Befragten auch die Sowjetunion als imperialistische Macht bezeichnen würde, aber nur vier Prozent nannten direkt die Sowjetunion als eine Frieden und Unabhängigkeit bedrohende Macht. 24 Prozent erklärten, daß niemand Ungarn bedrohe, und 23 Prozent wußten keine Antwort.

Bezeichnend ist, daß eine große Zahl der Befragten der Meinung ist, Friede und Unabhängigkeit würden durch die imperialistischen Mächte auf eine indirekte Weise bedroht. Ungarn werde nicht direkt bedroht, aber diese Mächte bedrohten den Weltfrieden und damit auch den Frieden Ungarns. Eine Antwort lautete: „Amerika bedroht uns über die Sowjetunion.“ Ein anderer schrieb: „Viele Völker beteiligen sich bereits am Vietnamkrieg, und wenn Ungarn an der Seite der Sowjetunion ebenfalls interveniert, werden die Amerikaner auch uns bombardieren.“ Man scheint also einerseits Amerika als diejenige Macht zu betrachten, die in erster Linie verantwortlich ist für die Bedrohung des Weltfriedens, und anderseits zu fürchten, daß man dank der unfreiwillig engen Bindung an die Sowjetunion in einen Weitkonflikt hineingezogen werden könnte.

Vielleicht das übernajschienidsite Ergebnis dieser Umfrage ist, daß sie zeigt, in welchem Ausmaß die Politik des Westens — man denke an Vietnam — Wandlungen im politischen Bewußtsein des Ostens hervorzurufen vermag.

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