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Politik außerhalb der Parteien?

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Als in den jüngsten Oktoberwochen die sowjetische Atommegalomanie in einem immer lauter dröhnenden Crescendo bis zu dem (einstweiligen) Höhepunkt von 57 Megagraden auf dem 22. Parteitag der KPdSU anschwoll, waren die Österreicher intensiv damit beschäftigt, jene Vorgänge aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen. Es schien ihnen zu genügen, daß der Bundespräsident unsere Meinung zu dem Gegenstand Atombombe vor längerer Zeit eindeutig formuliert hatte, daß unsere Delegierten bei den Vereinten Nationen sich dem Protest der Mehrheit anschlossen, daß der Bundeskanzler Herrn Chruschtschow in einem Schreiben zu verstehen gab, daß wir der Sowjetunion auch ohne so gefährliche Demonstrationen ihre nuklear- energische Potenz glauben. Weitere Volksmeinung schien durch Aufmachertitel und entrüstete Leitartikel in den Zeitungen zur Genüge ausgedrückt zu sein. Die einzigen, die „unten” öffentlich erkennbar reagierten, waren die Delikatessenhändler, welche auf flott gemalten Schrifttafeln das Publikum diskret aufforderten, sich „einzudecken”. Ansonsten herrschte Schweigen, von dem man nicht einmal genau weiß, ob es ein ominöses oder betroffenes war.

Nur nicht sich’s mit jemandem verscherzen

Ja, was hätten wir denn tun sollen? wird mancher fragen. Für so was ist doch eben die Regierung da, Politiker, Mandatare, Parteien. Die letzteren sind jedoch in dieser Sache nicht „in Erscheinung getreten”. Sie waren mit dem Aushandeln des Budgets beschäftigt. Es ist jedoch fraglich, ob sie etwas getan hätten, wenn gerade nicht das Budget gewesen wäre. Denn da ist noch die Sache mit unserer Neutralität. „Schau’n S’”, sagte einer, „wenn wir jetzt eine Aktion starten täten, würden die Russen gleich sagen: ,Aha, heji uusl(.protestiprts, aber wie iiie. Amerikaner und Engländer und Franzosen ihre Versuche g’macht haben, da seids nicht auf die Straßen gegangen.’ Und das stimmt, nur daß wir eben damals aus dem gleichen Grund wie jetzt nichts unternommen haben — die anderen hätten damals g’sagt, daß wir den Russen zu Gefallen protestieren.” (Offiziell haben wir übrigens damals auf ähnliche Weise wie diesmal bei den UNO-Abstimmungen und durch den Mund des Bundespräsidenten reagiert.) Die Frage ist nur, ob das ausreicht. Ohne Zweifel haben sich die Russen nicht durch offizielle Vorhaltungen von ihrer Aktion abbringen lassen.

Erhebt sich die Frage, wer hier agieren soll. Den großen Parteien genügen die offiziellen Manifestationen. Die FPÖ reserviert sich das

Recht zu politischen Manifestationen für Gelegenheiten, bei denen die spezifischen Belange dieser Partei manifestiert werden. Es von der KP zu verlangen, käme, wenn es sich um sowjetische Atombombenversuche handelt, einer Aufforderung zum Vatermord gleich. Man könnte es von ihr nicht einmal zu jenem künftigen Zeitpunkt erwarten, an dem Frol Koslow oder ein anderer Nachfahre einem noch oder nicht mehr lebenden Chruschtschow vorwerfen wird, er habe, um „die Folgen seiner parteifeindlichen Fraktionsmacherei zu übertönen und seines Personalismus wegen, unnötigerweise Wasserstoffbomben explodieren lassen und die Stellung der Sowjetunion als Friedensmacht kompromittiert”. Die politischen Parteien bei uns k’önimett ars ’rifdit ‘in Betracht. Die Art und Umstände, wie in Großbritannien eine außerparteiliche Bewegung bei dieser Gelegenheit in Aktion trat, sind aus mehreren Gründen recht lehrreich.

Sitzstreik in der Sowjetbotschaft

Das „M ovement for Unilateral Nuclear Disarmement”, die britische Bewegung für einseitige Atomabrüstung im eigenen Land, besteht aus einer Unzahl kleiner Komitees und Vereinigungen mit verschiedenartigen Zielen und Anschauungen. Es gibt da alle möglichen religiösen, liberalen, rechts- und linkssozialistischen, kommunistischen, rein pazifistischen und anderen Einflüsse und Haltungen. Ohne etwas von diesen aufzugeben, haben sich alle diese Körper, von denen viele oft selber kein organisatorisches Gerippe besitzen, in den letzten Jahren zu großen Protestaktionen und Aufmärschen gegen die britische Atomaufrüstung und gegen amerikanische Stützpunkte in Großbritannien für A-Bombenflugzeuge und U-Boote mit Polarisraketenabschuß zusammengefunden. Da diese Aktionen einseitig gegen die eigene, westliche Kriegsbereitschaft gerichtet waren und die Entstehung einer solchen Bewegung in der Sowjetunion ebenso unwahrscheinlich ist wie eine einseitige selbstveranlaßte Abrüstung, wurden die Leute der britischen Bewegung entweder als Narren oder als Bettgenossen der Kommunisten oder überhaupt als Kommunisten hingestellt. Sie ließen sich davon nicht abschrecken, und merkwürdigerweise wuchs auch ihr Einfluß und erfaßte große Gewerkschaften zur Gänze und auf diesem Wege auch Teile der Labour Party. Die „Unilateralen” veranstalteten noch im September dieses Jahres große Demonstrationen, besonders in London mit Sitzstreiks auf Straßen und Plätzen, von denen sie mit Polizeigewalt entfernt werden mußten. Dann kamen die sowjetischen A-Bomben- versuche, die logischerweise auch zu Tests dieser Bewegung wurden. Nach etlichem Zögern und einiger Verwirrung in jenen Gruppen, die tatsächlich unter kommunistischem Einfluß stehen, richtete die Bewegung das Feuer immer stärker gegen das sowjetische Unternehmen. Die gleichen Szenen und Manifestationen, die am schottischen Holy Loch, dem Ankerplatz der amerikanischen Polaris- U-Boote, und vor britischen Atom- forschungs- und Rüstungszentren vor sich gegangen und von der sowjetischen Propaganda hochgepriesen worden waren, spielten sich nun rund um Kensington Palace Gardens, dem Viertel, in welchem die Sowjetbotschaft in London haust, ab. Demonstranten gelangten sogar in die Räume der Botschaft, ließen sich dort auf den Teppichen nieder und erklärten, nicht früher aufzustehen, ehe sie nicht die Zusicherung erhalten hätten, daß die Russen ihre A-Bomben-Versuche einstellen würden. Sie mußten schließlich von Polizisten aus dem Gebäude herausgetragen werden. Es ging dabei friedlicher zu als einen Monat vorher am Trafalgar-Square, wo dermaßen viele Demonstranten verhaftet worden waren, daß sich die Verhandlungen vor den Polizeigerichten noch bis jetzt in den November und sicherlich noch Dezember hineinziehen.

Von all dem wird hier berichtet, nicht um zu einer Nachahmung der britischen Bewegung aufzufordern, die ihre eigentliche Motivierung immer noch vom Widerstand gegen die Atomaufrüstung im eigenen Land, die es bei uns nicht gibt, erhält. Wie immer man von Österreich und unserer Situation aus diese britische Bewegung beurteilt, muß man jedoch anerkennen, daß hier sehr starke ethische Triebkräfte von geradezu religiöser Intensität und Reichweite wirksam sind. Weder die politischen Parteien noch die konservative Regierung konnten über die Existenz dieser Bewegung hinweggehen, und manche — insbesondere für die Amerikaner — unverständlichen Wege der britischen Außenpolitik müssen in Zusammenhang mit dieser Bewegung, die in viele soziale Bereiche Großbritanniens ausstrahlt, gesehen werden.

Die Ohnmacht der Machthaber

Was ist hierbei für uns so interessant und lehrreich? Vor allem der (für Großbritannien allerdings nicht neue) Typ einer vorwiegend außerhalb und ohne Hinzutun der Parteien für ein bestimmtes Einzelziel entstandenen Bewegung. Jahrhundertealte Erfahrungen zeigen, daß solche Assoziationen in Großbritannien oft nur verhältnismäßig kurz bestehen, bis sie eben ihr Ziel oder gewisse Erfolge erreicht haben. Ebenso zeigt die Erfahrung, daß sie geeignet und imstande sind, Impulsen aus der Bevölkerung leichter und schneller Ausdruck zu verleihen als die Parteien, daß sie oft zu dem Zweck, solche Impulse an die Parteien weiterzuleiten, entstehen. So kommt es in Großbritannien, aber auch in Frankreich nicht selten vor, daß nach der Bildung solcher Komitees und Vereinigungen durch außerhalb der Parteien stehende Leute, Repräsentanten und Mandatare von den Parteien eingeladen werden, dem Komitee beizutreten und dessen Sache sodann in ihren Parteien zu vertreten. Welche bedeutende Rolle solche Assoziationen bei den heutigen Konstellationen haben, in denen Regierungen von Wahlparteien immer geringeren weltanschaulichen Charakters gebildet werden, zeigt die folgende wahre Anekdote: Norman Thomas, der

Führer der Sozialistischen Partei der USA (die so winzig ist, daß sie nur ganz selten als Werberin für sich auf- tritt und noch seltener irgendwo gewählt wird), ging einmal zum Präsidenten Roosevelt und forderte ihn auf, eine bestimmte Reform durchzu führen. Roosevelt sagte: „Die Sache interessiert mich, und ich möchte sie durchsetzen. Aber dazu müssen S i e zunächst einmal durchs Land ziehen und so viele Leute wie möglich davon überzeugen. Sie können es sich erlauben, mit solchen Anliegen vor die Leute zu treten. Ich kann sie erst durchsetzen, wenn ich weiß, daß genug Leute dafür sind.” Roosevelt drückte damit eine Situation aus, die in Amerika schon lange besteht. Außerhalb der beiden großen Parteien stehende Körperschaften und Vereinigungen aller Art bringen alle möglichen Anliegen vor die Bevölkerung. Die beiden Parteien regieren lediglich oder stimmen in der Legislative ab. Es sieht so aus, als ob die Lage bei uns sich immer mehr der amerikanischen näherte.

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