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Die deutsche „Arbeitsbiene“ — einmal ohne Honig

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ln kaum einem Lande, außer Amerika, ist die Meinungsforschung so verbreitet wie im Nachkriegsdeutschland-West. Es ist, als wäre dieses Volk entsprechend dem Ratschlag griechischer Weisheit geradezu davon besessen, sich selbst zu erkennen. Die Meinungsforschung ist dafür ein wenn auch grobes, so doch recht taugliches Instrument. Die feineren Analysen sind im Spiegel der Künste noch um vieles schärfer und erregender zu sehen, doch es ist nicht jedermanns Sache, sie zu verstehen. In Nachkriegsdeutschland-Ost sind die Spiegel freilich aus gutem Grunde verhängt, weder Meinungsforschung noch freie Kunstausübung sind, da beide im Sinne unserer Betrachtung gleich gefährlich, erlaubt.

Wenn ein Bauer seine Felder ordentlich bestellt hat und mit dem Einbringen einer wohlgesegneten Ernte beginnt, ist er gemeinhin glücklich und zufrieden. Die Bundesdeutschen haben ihr bombendurchpflügtes Land mit bewundernswertem Fleiß bestellt, sie stecken mittendrin in der reichsten Ernte ihrer bisherigen Geschichte. Also sollte man annehmen, daß auch sie glücklich und zufrieden seien. Doch nein, sie sind es nicht. Das äußert sich in vielen Dinįjėii, Tri merkwürdigen Päradöxorien zumal, die rtiifiLögik nicht'zü efifündöö slläf? ®

Was liegt näher, als die deutsche Arbeitsbiene nach ihrer Arbeit zu fragen? Da zeigt es sich, daß in der gleichen Zeit, da der Lebensstandard von Jahr zu Jahr wuchtig stieg, nämlich' von 1949 bis 195 5, die Unzufriedenheit mit der Berufsarbeit kräftig zunahm. Nur 18 Prozent der Arbeitenden empfinden ihren Beruf als Erfüllung einer Aufgabe, nur 28 Prozent immerhin noch als befriedigende Tätigkeit, während nicht weniger als 35 Prozent lediglich eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, sehen, 14 Prozent gar ein notwendiges Uebel und 4 Prozent eine schwere Last.

Ein Vergleich zeigt, daß die negativen Antworten trotz des zunehmenden Reichtums, trotz der besiegten Arbeitslosigkeit, trotz des internationalen Gewinnes an Ansehen, Macht und Geltung, den die Bundesrepublik erzielte, von 1949 bis 195 5 um volle sechs Prozent gestiegen sind. Wenn man näher zusieht, merkt man, daß die negativen Antworten an die Meinungsforscher in Wirklichkeit weniger der Berufsarbeit selbst gelten, als vielmehr ein allgemeines Unbehagen mit dem eigenen Leben und seinem Sinngehalt ausdrücken. Denn auf die spezielle Frage nach dem Arbeitsplatz erklärten sich 80 Prozent für befriedigt, nur 11 Prozent wenig und nur 7 Prozent gar nicht befriedigt. Auf die Frage nach dem Chef zeigen sich volle 50 Prozent zufrieden, 27 Prozent übten eine leichte Kritik — nur 10 Prozent waren eindeutig ablehnend und gar nur ein Prozent der Meinung, von ihm ausgebeutet zu werden. Das sind unerhört positive Zahlen, die beweisen, daß die Deutschen zu einer Reife gekommen sind, die kaum mehr ein soziales Ressentiment kennt.

Aehnlich unlogisch, wie die negativen Antworten auf die Frage nach der Berufsarbeit sich zusehends in positive verwandelten, sobald man konkret nach Arbeitsplatz und Boß fragt, ist es bei der berühmten Erkundigung „Wie geht es Ihnen?“ Da machen die Bundesdeutschen ein faltiges Gesicht. 34 Prozent klagen, es gehe gar nicht besser als vor dem Kriege, und 38 Prozent gar, es gehe ihnen schlechter als damals, während nur 23 Prozent eine Besserung zugeben. Diese Antworten wirken geradezu komisch, wenn man den einzelnen in seine Wohnung begleitet, wo er verdutzt zugeben muß, wieviel mehr er heute als vor dem Kriege besitzt, wobei die Galerie von der Bekleidung bis zum Eisschrank, vom Elektro- rasienpparat immer häufiger bis zum Fernseh kasten und eigenem Auto reicht, Mopeds und Roller nicht gerechnet. Was wollen diese Menschen eigentlich? Recht besehen, mit früheren Jahrhunderten, selbst mit der Lebensführung einstiger Fürsten, Kaiser und Könige verglichen, führt doch der Durchschnittsdeutsche ein Luxusdasein. Für jede Krankheit kann er bei Tag und Nacht den nächsten Kassenarzt konsultieren, ihm werden nicht die Zähne ausgebrochen, wobei ein Stück Kiefer mitgeht, wie es noch dem Sonnenkönig geschah, Knopf- und Hebeldrucke verschaffen ihm Licht, Wärme, Musik, Kino im eigenen Heim, seine Nahrung ist die beste, die sich denken läßt, zu Trinken, zu Rauchen gibt es — Herz, was verlangst du mehr?

In den Betrieben sind Psychologen am Werk, die ängstlich darüber wachen, daß den Arbeitnehmern nichts Unbilliges zugemutet wird, die die Arbeitsstätten nicht nur mit den glänzendsten hygienischen Einrichtungen, mit Sportplätzen, Bibliotheken einrichten lassen, sondern auch dafür sorgen, daß die Arbeits- und Aufenthaltsräume in allem und jedem, vom Geruch bis zur Farbe, von der Gestaltung der Einrichtung bis zur Musikberieselung optimal für die Bedürfnisse dės Menschen ausgestattet 'werden.

Und dennoch, es nützt nichts, das Unbehagen wächst. Es wächst nicht nur in Deutschland, das uns hier auf Grund vorhandener Ziffern und Untersuchungsergebnisse als Modellfall dient. Es wächst auch in anderen hochzivilisierten Ländern, zumal in den mit Reichtum gesegneten, unaufhaltsam. Es ist aus dem Gehege der nicht immer ganz ernst genommenen Literatur und Kunst herausgetreten, es hat die Statistik erreicht und ist mit blanken Ziffern beweisbar geworden. Es hat sich durch seine Zunahme den Anspruch erworben, ernst genommen zu werden.

Anfangs gab es tausend Erklärungen. Die Frauen sind unzufrieden, weil sie außer Haus arbeiten, die Arbeiterinnen speziell, weil sie sich ein höheres Einkommen wünschen, die Chemiearbeiterinnen insonderheit, weil sie manchmal schmutzige Finger bekommen. So ließ sich das Unbehagen scheinbar wunderschön auflösen und harmlos quasi als Hühnerauge erklären, das durch eine schnelle, hygienische und perfekte kosmetische Operation mühelos ... Nein, man sah bald, daß man auf diese Weise nicht weiterkam.

Stimmten die rationalen Erklärungen dem Augenschein nach, so wären sie doch zumindest gerade deshalb historisch falsch. Denn im Gegensatz zur jüngeren und ferneren Vergangenheit lebt der Bürger der meisten zivilisierten Länder heute geradezu in einem irdischen Paradies mit einem bisherigen Minimum an sozialen Sorgen, körperlichen Leiden, arbeitsmäßigen Anstrengungen. So blind sind nur wenige, daß ihnen diese Veränderung nicht wenigstens manchmal bewußt würde.

Nein, die kleine Stenotypistin, die täglich

50.0 bis 80.000 Anschläge schafft, leidet nicht daran, daß ihr nur halbstarker Ringfinger angesichts der noch nicht reorganisierten Tastatur der gebräuchlichsten Schreibmaschinen den häufigsten Buchstaben „e“ bedienen muß, sondern daran, daß sie sich über den höheren und tieferen Sinn ihres zunehmenden Wohlstandes weder gefühlsmäßig noch geistig klar werden kann. Sie fühlt' sich unbehaust, ob sie nun verlobt, verheiratet, geschieden ist, ob sie Kinder hat oder keine. Darin, auch das ergibt sich aus dem Studium von meinungsforscherischem Gesamtmaterial, ist sie ihren Schicksalsgefährtinnen von der untersten bis zur obersten Sprosse der sozialen Stufenleiter verwandt.

Ob das ein Vorteil ist oder ein Nachteil? Wer wollte das zu beantworten wagen. Der eine wird das Unbehagen pessimistisch als Krankheit werten, der andere wird meinen, es sei einem Erwachen aus dem Traum von der Ueberbewertung der irdischen Güter gleichzusetzen. Es gibt sogar welche, die behaupten, das große Unbehagen künde eine Aenderung, nämlich eine Aenderung im Verhältnis des Menschen zu Gott an: vom Gebrauch der Religionen als Balsam für die Seele zur offenen Hingabe an Gott. Eine solche Entwicklung wäre allerlei Schmerzen wert. Vielleicht war es kein Zufall, daß Christus selbst in äußerstes menschliches Unbehagen hineingeboren wurde.

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