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China und das eine Deutschland

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BENDA: „Wie hat der sowjetische Ministerpräsident auf Ihre Frage reagiert? Hat er sich damit zufrieden gegeben?“

PAUL REYNAUD: „Ja. Er gab sich damit zufrieden. Ich konnte feststellen, daß ein entspanntes Lächeln auf sein Gesicht trat. Er hat nicht weiter insistiert...

Aber Sie wollten wissen, ob ich in absehbarer Zeit eine konkrete Lösung des deutschen Problems für möglich halte. Ich möchte Ihnen diese Frage bejahen: Den Schlüssel dazu sehe ich im Verhältnis zwischen Moskau und Peking. Es ist dabei ohne Belang, ob es zu einer Bereinigung des ideologischen Konflikts kommt oder ob die gegenseitigen Polemiken zwischen den beiden Formen des Sozialismus unentwegt weitergehen. Ehe unser Jahrhundert zu Ende geht, wird es eine Milliarde Chinesen geben. Sie breiten sich wie Ameisen aus und sehen in Sibirien ihren natürlichen Lebensraum. Sie drängen nach Norden. Bereits in wenigen Jahren werden die Chinesen über eine Atombombe verfügen. Und die Tatsache, daß — je weiter man nach Osten schaut — die Angst vor Leid und Tod geringer wird (die Russen fürchten das Leid weniger als die Westeuropäer und die Chinesen weniger als die Russen), macht die chinesische Atombombe hinsichtlich ihres Einsatzes besonders gefährlich. Vor einiger Zeit hat ein chinesischer Minister dem Marschall Tito gesagt, daß China für den Fall einer atomaren Auseinandersetzung die Vernichtung von 300 Millionen Men-

schen einkalkuliert habe, denn dieser ungeheure Verlust werde den Bestand des Staates keineswegs gefährden. Es blieben mindestens 300 weitere Millionen ...

Wenn man sich dies vor Augen führt, wird man für die Sowjets kaum einen anderen Weg der Existenzsicherung sehen, als sich in absehbarer Zeit — ich möchte sagen: in den kommenden fünf bis zehn Jahren — mit der übrigen weißrassigen Menschheit zu einem Defensivblock zusammenzuschließen. Konkret militärisch gesprochen, bedeutet das eine sowjetisch-amerikanische Verteidigungsgemeinschaft und letztlich einen amerikanischen Schutz für die Sowjets für den Fall eines chinesischen Angriffs. Nichts liegt näher, als daß Washington diesen Schutz den Sowjets von sich aus anbietet. Dieses Anerbieten könnte mit einer Garantie der USA gegen einen Angriff der Sowjetunion durch ein wiedervereinigtes Deutschland — die Wiedervereinigung wäre der amerikanische Preis für die Garantie — gekoppelt werden. Hier sehe ich eine ernsthafte Chance für die Lösung der deutschen Frage in absehbarer Zukunft. Sie liegt quasi in der Logik der übersehbaren Entwicklung des nach neuem Lebensraum drängenden chinesischen Kolosses.“

BENDA: „Ihre Gegner, Herr Präsident, werden Ihnen vorhalten, daß sich Ihre Spekulationen auf reine Hypothesen stützen; manche werden sagen, daß das ideologische Element bei den Kommunisten stärker sei als das rassisch-imperialistische und mithin eins Blockbildung der wei-

ßen Rasse zur Abwehr der farbigen Expansionsbestrebungen an der Weltanschauungsklippe Marxismus gegen Kapitalismus scheitern müsse...“

PAUL REYNAUD: „Und doch glaube ich, die tatsächlichen Gegebenheiten richtig und realistisch zu beurteilen. Wenn ich mich gegen den Rückfall in einen überholten Nationalismus de Gaulles wende — der mit unserer Isolierung in der NATO, in Europa und damit unter den bestehenden Verhältnissen mit dem faktischen Abdanken Frankreichs gleichbedeutend ist —, wenn ich die Force de Frappe als Illusion bezeichne und in der progressiven Entfernung unseres Landes von den USA ein Verhängnis sehe, wenn ich für die Verteidigung der weißen Rasse eintrete, so mag das natürlich manchen mißfallen.

Ich habe mich in meinem Leben nicht selten dem Vorwurf aussetzen müssen, ein .Prediger in der Wüste' zu sein, einer Kassandra zu gleichen. Und trotzdem hat man mir recht geben müssen, wenn es zu spät war, wenn wegen vorangegangener Fehler und Versäumnisse nichts mehr gerettet werden konnte. Das war beispielsweise 1940 der Fall, als mich das damalige linksorientierte Regime — als Exponent der .Rechten' — mit der Regierungsführung betraute. Kein Realist konnte sich damals der Erkenntnis verschließen, daß die Katastrophe angesichts der verhängnisvollen Orientierung unserer Armeeführung zwischen den beiden Weltkriegen unabwendbar war: Das Verhängnis lag in der unklugen und kurzsichtigen Konzentration des Generalstabs auf den Abwehrkrieg. Bereits am 5. Juli 1924 hatte ich in der Zeitschrift ,La Revue hebdomadaire' einen Artikel veröffentlicht, der die Uberschrift trug: .Entspricht unsere Armee den Erfordernissen oder ist sie eine Armee unserer Gewohnheiten?' (,Avons nous l'armee de nos besoins ou 1'armee de nos habitudes?')

In diesem Aufsatz sprach ich mehrere konkrete Voraussagen aus: Nach meiner Überzeugung war eine Defensivarmee wohl nach dem Frieden von Frankfurt berechtigt, nicht aber nach dem Verlust aller unserer Alliierten nach dem ersten Weltkrieg. Für den Fall, daß die Armeeführung die Notwendigkeit einer Offensivarmee nicht erkennt — so schrieb ich damals —, werde Deutschland zunächst seinen Angriff nach Polen tragen, und über den Leichnam Polens werde die Rote Armee nach Westen vorstoßen. Frankreich werde eine Invasion erleben, seine Fabriken würden zerstört und seine Friedhöfe verwüstet werden.

Diese Voraussage fand 15 Jahre später ihre Erfüllung. Unsere Generalität, die vorher über meine Forderung nach Panzern, Flugzeugen und schwerer Artillerie gelächelt hatte, hielt es 1940 nicht mehr für angezeigt, mich weiterhin eine .Kassandra' zu nennen.

In der Tat habe ich auch nichts mit Kassandra gemein: Sie war eine schöne Frau, der man Tempel baute, und sie kündigte Katastrophen an. Ich habe mich dagegen immer bemüht, Katastrophen zu verhindern.“

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