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Werte im Wandel

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Ronald Ingleharts Buch basiert auf einer beachtlichen Zahl von Umfragen, die in einer Reihe von Ländern, speziell der westli­chen Welt, über einen Zeitraum von fast 20 Jahren durchgeführt wur­den. An Hand dieser Untersuchun­gen erforscht Ronald Inglehart „die Auswirkungen wirtschaftlicher, ge­sellschaftlicher und politischer Ver­änderungen auf die Kultur und den Einfluß der Kultur auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den entwickelten Industriestaaten" (11). Der Verfasser führt damit eine Untersuchung fort, die 1970 begon­nen wurde und Anstoß zu seinem Buch „The Silent Revolution" gab, das 1977 erschien.

Das neue Buch ist aufschlußreich und interessant für alle, die in Wirt­schaft, Politik, Kultur und auch in den Kirchen tätig sind, oder sich mit diesen Fragen auseinanderset­zen. Als Priester und Seelsorger möchte ich in dieser Besprechung vor allem jene Ergebnisse heraus­greifen, die unmittelbar die Fragen der Ethik und Religion betreffen. Um aber über das Ganze einen Überblick zu geben, nenne ich die Überschriften jener Kapitel, auf die ich in der Besprechung nicht näher eingehe.

Kapitel 1: Kultur, stabile Demo­kratie und wirtschaftliche Entwick­lung

Kapitel 2: Stabilität und Wandel in den Überzeugungssystemen

Kapitel 5: Werte, soziale Schicht und wirtschaftliche Leistung

Kapitel 8: Der abnehmende Grenznutzen des wirtschaftlichen Determinismus; Niedergang des Marxismus

Kapitel 9: Der Einfluß von Wert­vorstellungen auf Ideologie und politisches Verhalten

Kapitel 10: Von Eliten-gelenkter zu Eliten-lenkender Politik: Kogni­tive Politisierung, neue Geschlech­terrollen und neue Werte

Kapitel 11: Neue soziale Bewe­gungen: Werte, Ideologie und ko­gnitive Mobilisierung

Kapitel 12: Die Rolle der Kultur im sozialen Wandel: Schlußfolge­rungen.

Obgleich auch in diesen genann­ten Kapiteln viele für die Kirchen wichtige und interessante Aussa­gen zu finden sind, beschränke ich mich bei der Besprechung auf:

Kapitel 2: Das Vordringen der postmaterialistischen Werte

Kapitel 4: Struktur des Wertsy­stems: die materialistische/postma­terialistische Dimension

Kapitel 6: Veränderungen in den religiösen Einstellungen, bei den Geschlechterrollen und im Sexual­verhalten

Kapitel 7: Subjektives Wohlbe­finden und Wertewandel: Anpas­sung von Ansprüchen an Situatio­nen.

Für das Verständnis des ganzen Buchas entscheidend sind die Be­griffe „materialistisch" und „post­materialistisch ". Wie kommt Ingle­hart zu diesen Begriffen, und was versteht er darunter? Wie kann es dazu kommen, daß die „Materiali­sten" bedeutend religiöser sind?

Die Materialisten sind Menschen, die meist aufgrund von prägenden Mangelerfahrungen in den ersten Jahrzehnten ihres Lebens der wirtschaftlichen und physischen Si­cherheit den Vorrang geben. In den Umfragen bejahen sie vorrangig: stabile Wirtschaft; Wirtschafts­wachstum; Kampf gegen steigende Preise; starke Verteidigungskräfte; Kampf gegen Verbrechen; Auf­rechterhaltung der Ordnung. Sie sind nicht Materialisten, weil sie geistige Werte geringschätzen oder ablehnen. Ihre Einstellung bestä­tigt vielmehr die bekannten Prinzi­pien: Zuerst leben und dann philo­sophieren; zuerst das Fressen und dann die Moral; oder: Not lehrt beten. Für diese Gruppe wichtig ist die Sicherheit und die Ordnung. -Das ist selbstverständlich eine nur sehr undifferenzierte Beschreibung.

Die Postmaterialisten hingegen sind vielfach unter wirtschaftlich­politisch gesicherten Verhältnissen aufgewachsen. Darum ist für sie die wirtschaftliche und physische Sicherheit eher selbstverständlich und darum weniger wichtig. Für sie sind vorrangig: Selbstverwirkli­chung, soziale Zugehörigkeit und Achtung. Bei Umfragen bejahen sie vorrangig: Weniger unpersönliche Gesellschaft; mehr Mitspracherecht am Arbeitsplatz, in der Gemeinde, bei Regierungsentscheidungen; Redefreiheit; Ideen zählen; schöne Stadt/Natur.

Nach den Untersuchungen von Inglehart nimmt die Zahl der Post­materialisten in den westlichen Industriestaaten besonders in der jüngeren Generation zu. „Das bis­lang ungekannte Maß wirtschaftli­cher und physischer Sicherheit hat zu einer intergenerationellen Ver­schiebung von materialistischen hin zu postmaterialistischen Wertvor­stellungen geführt" (136). Diese Verschiebung wird - so Inglehart - in Zukunft große Konsequenzen haben. „Wie wir in den Kapiteln 10 und 11 sehen werden, sind die Post­materialisten besser ausgebildet, sie können sich besser artikulieren und sind politisch aktiver als die Mate­rialisten. Sie werden deshalb in vielen politischen Bereichen wahr­scheinlich einflußreicher sein als die Materialisten. Der Generations­wechsel wird sich vermutlich nach­haltig auf die vorherrschenden Wertvorstellungen der Menschen in den westlichen Gesellschaften aus­wirken" (136f).

Die im Buch angeführten Tabel­len bestätigen, daß in einer Reihe von Ländern die Postmaterialisten jetzt schon im Bevölkerungsteil mit hohem Bildungsniveau, mit beruf­lichem Prestige und sogar auch mit höherem Einkommen besonders stark vertreten sind. Und dies soll sich bis zum Jahr 2000 steigern.

Für die Kirchen von höchstem Interesse ist das Kapitel über die Veränderungen in den religiösen Einstellungen, bei den Geschlech­terrollen und im Sexualverhalten. Der Verfasser bemüht sich, die Si­tuation möglichst objektiv und dif­ferenziert darzustellen; differenzierter als es in dieser Besprechung geschehen kann.

Die Grundfrage lautet: Verlieren die religiösen Werte an Bedeutung? Diese Frage bezieht sich zunächst auf alle und nicht bloß auf die Unterschiede zwischen den Mate­rialisten und Postmaterialisten. Diese Frage erfährt sowohl in den einzelnen Ländern wie auch bei den einzelnen Altersgruppen eine sehr unterschiedliche Antwort.

Dies soll an der Frage: „Wiewich­tig ist Gott in Ihrem Leben?" illu­striert werden (siehe Tabelle 3). Als Antwortmöglichkeit gibt es eine Skala von 1 bis 10, wobei 1 die niedrigste Bedeutung angibt. Die nun folgenden Zahlen beziehen sich auf jene Befragten, die eine niedri­ge Bewertung (1 bis 4) angaben. -Auffallend ist zunächst der große Unterschied zwischen einzelnen Ländern. Während in Dänemark 56 Prozent, in Frankreich 50 Pro­zent, in der Bundesrepublik Deutschland 42 Prozent eine nied­rige Bewertung angeben, sind es in Italien 31 Prozent, in Irland zehn Prozent, in den USA acht Prozent und in Mexiko drei Prozent. Ähn­lich frappierend sind in einzelnen westlichen Ländern die Unterschie­de zwischen den Altersgruppen. Während der Unterschied zwischen den 18-bis 24jährigen und denmehr als 65jährigen in den USA vier Prozent, in Irland 13 Prozent, in Italien sieben Prozent beträgt, be­trägt er in der Bundesrepublik Deutschland 34 Prozent, in Frank­reich 30 Prozent und in Dänemark 56 Prozent.

Inglehart untersucht die gleiche Frage nach der Bedeutung Gottes auch nach dem Werttyp: Materia­list/Postmaterialist. Hier stellt sich heraus, daß die Bedeutung Gottes bei Postmaterialisten zirka 20 Pro­zent niedriger ist. Ähnliches trifft auch zu bezüglich der Fragen, ob sie an Gott glauben; ob sie glauben, daß es ein Leben nach dem Tod gibt; und ob sie sich selbst als reli­giös bezeichnen (siehe Tabelle 1).

Ebenso groß oder noch größer sind die Unterschiede bei den morali­schen Fragen: Abtreibung, Scheidung, außereheliche Beziehungen, Prostitution, Homosexualität und Euthanasie (siehe Tabelle 2).

Wenn es stimmt, daß der Postma­terialist der Typ der Zukunft ist und sein Einfluß auf das gesell­schaftliche Leben zunehmen wird, dann sind die Ergebnisse für die Kirche bedenkenswert und besorg­niserregend. Inglehart stellt selbst die Frage, ob unter diesen Umstän­den die monotheistischen Religio­nen an Bedeutung verlieren wer­den. Er läßt die Frage offen und nennt auch Gründe, die dagegen sprechen.

Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die Antwort auf die Frage: „Wie oft denken Sie, wenn überhaupt, über Sinn und Zweck des Lebens nach? - Oft, manchmal, selten oder nie". Mit 41 Prozent antworten die Postmaterialisten am häufigsten mit „Oft". Die Postma­terialisten befassen sich also am häufigsten mit der Frage nach Sinn und Zweck des Lebens. Daraus folgert Inglehart: „Vielleicht haben Postmaterialisten potentiell mehr Interesse an Religion als Materiali­sten. Eine religiöse Botschaft, die Gefühle wirtschaftlicher und phy­sischer Unsicherheit anspricht, findet bei Postmaterialisten jedoch kaum Gehör. Vielleicht würde eine Religion, die in der zeitgenössischen Gesellschaft Sinn vermittelt, ein Bedürfnis befriedigen, das immer mehr Menschen empfinden" (268). - Ich möchte diese Interpretation einfach stehen lassen. Die Wirk­lichkeit ist wohl noch viel komple­xer.

Aufschlußreich sind auch die Untersuchungen über die Lebens­zufriedenheit. Es ist auffallend, daß die Höhe des Einkommens und des Bildungsstandes nur einen gerin­gen Einfluß auf die Lebenszufrie­denheit hat. Die Ansprüche des Menschen scheinen sich nach der Situation auszurichten, in der je­mand lebt. Zum Beispiel: Wer wenig hat, ist mit weniger zufrieden; wer mehr hat, braucht mehr, um zufrie­den zu werden.

Auffallend ist auch der Unter­schied zwischen den einzelnen Ländern. Auf die Frage, ob sie ins­gesamt mit ihrem Leben „zufrie­den" oder „sehr zufrieden" sind, antworten 96 Prozent der Däner. und nur 62 Prozent der Portugiesen mit ja. In ähnlicher Weise sind auch die Niederländer zufriedener und glücklicher als die Deutschen. Die Ursachen dürften soziokultureller Art sein und sind schwer zu erfor­schen.

Interessant ist auch, daß Däne­mark, wo 96 Prozent angeben, mit ihrem Leben zufrieden oder gar sehr zufrieden zu sein, im Spitzenfeld der Selbstmordraten liegt. Ingle­hart gibt unter anderem folgende Interpretation: „In einer Gesell­schaft tief unglücklich zu sein, wo von jedermann erwartet wird, daß er glücklich ist, läßt sich wahrscheinlich noch schwerer ertragen oder schafft ein noch stärkeres Gefühl der Isolation, als in einer Gesellschaft unglücklich zu sein, in der man damit nicht so sehr von der Norm abweicht" (308). - Es gibt also auch Gesellschaften, die es nicht gestatten, unglücklich zu sein.

Zum Schluß sei noch auf einige Themen der Untersuchung hinge­wiesen, die für die politische Ent­wicklung bedeutsam sein können:

• Niedergang des Marxismus

• Von der schichtorientierten poli­tischen Polarisierung zur wert­orientierten politischen Polarisie­rung

• Neue Themen und alte Parteibin­dungen in der politischen Polari­sierung

• Die beiden Gesichter von Links und Rechts

• Postmaterialisten dringen in die Eliten vor

• Die Kluft zwischen den Ge­schlechtern schließt sich

• Neue soziale Bewegungen. Gerade die gegenwärtigen Um­brüche im Osten, die vor wenigen Jahren kaum jemand erahnen konn­te, zeigen, wie unvorhergesehen solche Entwicklungen verlaufen. Trotzdem sind die Ergebnisse, die Inglehart vorlegt, und die Perspek­tiven, die er eröffnet, aufschluß­reich und bedenkenswert. Sie sind ein wichtiger Beitrag; auch wenn er aus anderen Perspektiven ergänzt werden muß und nicht absolut ge­setzt werden darf. - Letztlich bleibt die Zukunft immer offen.

KULTURELLER UMBRUCH. Wertewandel in der westlichen Welt. Von Ronald Inglehart. Campus Verlag, Frankfurt 1989. 500 Seiten, öS 998,-.

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