Zukunft der Religion - © Foto: iStock/gremlin

Die Zukunft der Religion: Explosives Potenzial

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Säkularisierung versus Individualisierung und Politisierung: Die Zukunft der Religion nach den Wandlungsprozessen der letzten Jahrzehnte.

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Säkularisierung versus Individualisierung und Politisierung: Die Zukunft der Religion nach den Wandlungsprozessen der letzten Jahrzehnte.

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Über die Zukunft der Religion lässt sich nur sprechen, wenn man von ihren Wandlungstendenzen in der Vergangenheit ausgeht. Seit den 1990er Jahren haben sich viele Sozialwissenschafter, Philosophen und Historiker entschlossen, zur Kennzeichnung dieser Wandlungstendenzen auf das Konzept der Säkularisierung zu verzichten. Stattdessen verkündeten sie die Wiederkehr der Götter (Friedrich Wilhelm Graf), die Deprivatisierung der Religion (José Casanova) und die Wiederverzauberung der Welt (Ulrich Beck).

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Als Beleg für ihre religionsdiagnostischen Aussagen verwiesen sie gern auf Regionen außerhalb Westeuropas, in denen Religion keinen Bedeutungsrückgang zu verzeichnen habe, sondern an sozialer Relevanz gewinne. Immer wieder führten sie die USA als Gegenindiz für die Gültigkeit der Säkularisierungstheorie an und behandelten das „tiefgläubige“ Amerika als Paradebeispiel für die Vereinbarkeit von Religion und Moderne.

Das religiöse Wiedererwachen in Ost- und Mittelosteuropa nach dem Niedergang des Staatssozialismus diente ihnen als Beweis für die unbezähmbare Vitalität der Kirchen, die selbst nach Jahrzehnten der politischen Repression neue Dynamik zu entfalten vermögen. Die Länder Südostasiens apostrophierten sie geradezu als Springquell der Entstehung neuer Götter. Und das Erstarken des Islam in der arabischen Welt, in Afrika, in der Türkei und in Indonesien machte in ihren Augen unmissverständlich klar, dass Prozesse der Modernisierung nicht auf Kosten von Religion gehen, sondern mit ihrem Aufschwung kompatibel sind.

Eine dramatische Abkehr

Inzwischen freilich haben sich diese religionsapologetischen Aussagen empirisch als unhaltbar erwiesen. Die Vereinigten Staaten zeigen seit den 1990er Jahren unverkennbare Anzeichen einer dramatischen Säkularisierung. Der Anteil der Konfessionslosen ist seitdem von etwa sechs auf über 30 Prozent gestiegen und entspricht damit in etwa dem Anteil der Konfessionslosen in Westdeutschland. Ebenso wuchs auch der Anteil der Amerikaner, die angeben, niemals den Gottesdienst zu besuchen, sowie der Anteil derer, die sich nicht zum Glauben an Gott bekennen, vor allem unter den Jüngeren. Die Vereinigten Staaten stellen gerade kein Gegenbeispiel zur Säkularisierungsthese dar, sondern entsprechen ihren Annahmen; die Art des Rückgangs der Religiosität folgt den gleichen Mustern wie in Westeuropa und vollzieht sich wie in den westeuropäischen Ländern vor allem als ein Rückgang von einer Generation zur nächsten. Auch viele postkommunistische Länder Ost- und Ostmitteleuropas sind nach Jahren einer beachtlichen religiösen Stabilität inzwischen von einem tiefgreifenden Prozess der Säkularisierung erfasst.

Das gilt selbst für ein so hochkatholisches Land wie Polen. Ergebnissen einer Studie des Pew Research Centers zufolge, in die 106 Länder einbezogen waren, weicht der Anteil der unter 40-Jährigen, die erklären, Religion sei in ihrem Leben sehr bedeutsam, von dem Anteil der über 40-Jährigen, die das sagen, in keinem anderen Land so stark ab wie in Polen. Er liegt 23 Prozentpunkte unter dem Anteil der Älteren. Ebenso sind in Polen auch das Vertrauen in die katholische Kirche und die Beteiligung am kirchlichen Leben seit dem Untergang des Kommunismus stark zurückgegangen.

Auch in der islamischen Welt

In der Türkei ist das behauptete Zusammengehen von Islamisierung und Modernisierung unter Erdoğan inzwischen umgeschlagen in die Aufrichtung eines autoritären Obrigkeitsstaates, der die Islamisierung der Gesellschaft befördert. Gleichwohl geht die Intensität der religiösen Bindung in der Bevölkerung der Türkei zurück. In den letzten zehn Jahren ist der Anteil derer, die angeben, regelmäßig zu fasten, gefallen, und der Anteil derer, die eine religiöse Heirat für das Zusammenleben von Mann und Frau nicht für erforderlich halten, gestiegen. Rückläufig entwickeln sich die Religiositätsindizes auch in den arabischen Ländern. Einer Befragung des Arab Barometer von 2019 zufolge hat sich besonders in Nordafrika der Anteil der Menschen, die sich als nicht-religiös bezeichnen, erhöht. Im Durchschnitt der untersuchten Länder – unter ihnen Tunesien, Libyen, Algerien, der Libanon, Marokko, Ägypten, Jordanien und andere – stieg er allein in den letzten fünf Jahren von 13 Prozent, bei den unter 30-Jährigen sogar auf 18 Prozent. In Tunesien, dem liberalsten Staat in der Region, definieren sich inzwischen 31 Prozent als nicht-religiös; bei den 18- bis 29-Jährigen beläuft sich ihr Anteil auf fast die Hälfte.

Auch viele postkommunistische Länder Ost(mittel)europas sind nach Jahren einer beachtlichen religiösen Stabilität inzwischen von einem tiefgreifenden Prozess der Säkularisierung erfasst.

Und auch in Südostasien laufen Prozesse der Säkularisierung ab. Nach umfassender Sichtung verfügbarer Religiositätsindikatoren kommt Ian Reader zu dem Schluss, dass in Japan nicht etwa von einer rush hour of the gods, sondern von einer rush hour away from the gods gesprochen werden könne. In Südkorea, wo das kirchliche Wachstum über Jahrzehnte hinweg von Prozessen der Demokratisierung und Wohlstandsanhebung begleitet war, ist der religiöse Aufschwung inzwischen rückläufig.

Wohlstand und Religiosität

Zurückzuführen sind die hier dokumentierten weltweit zu beobachtenden Tendenzen der Säkularisierung auf Prozesse des Wohlstandsanstiegs, der Bildungsexpansion, der Urbanisierung, des Ausbaus des Gesundheitssystems und des Sozialstaats usw. Pippa Norris und Ronald Inglehart schlagen in ihrer Studie „Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide“ zur Erfassung von Modernisierung den Human Development Index (HDI) vor, der in seine Messungen das Bruttonationaleinkommen pro Kopf, die Lebenserwartung sowie die Schulbesuchsdauer einbezieht. In ländervergleichenden Analysen zeigen sie und andere empirisch arbeitende Sozialwissenschafter wie etwa Franz Höllinger und Johanna Muckenhuber, dass der HDI negativ mit dem Religiositätsniveau korreliert: Je höher ersterer, desto niedriger letzteres. Dabei beziehen sich diese Untersuchungen nicht allein auf die Länder Westeuropas, sondern auf Länder aller Erdteile, was die oft aufgestellte Behauptung, die Säkularisierungstheorie lasse sich nur auf Westeuropa anwenden, obsolet macht.

Doch gibt es zu den herausgestellten Säkularisierungsprozessen auch Gegentendenzen. Zwei seien benannt: Tendenzen der Individualisierung des Glaubens sowie Tendenzen seiner Politisierung. Tendenzen der religiösen Individualisierung lassen sich beispielsweise daran erkennen, dass sich immer mehr Menschen Gott nicht so vorstellen, wie ihn die Bibel verkündigt: als Person, die in das Leben des Einzelnen einzugreifen vermag, sondern als eine unpersönliche Höhere Macht. 1981 herrschte unter den Gottgläubigen in Westeuropa noch das persönliche Gottesbild vor, 40 Jahre später stellt sich in den meisten Ländern die Mehrheit der Gottgläubigen Gott als ein unpersönliches höheres Wesen vor. Auch ist der Anteil derer gestiegen, die sich nicht mehr als religiös, sondern als spirituell bezeichnen.

Gegenläufige Tendenzen

Zu bedenken ist allerdings, dass die Tendenzen der Individualisierung und Spiritualisierung des Religiösen die Säkularisierung nicht nur abschwächen, sondern auch bestärken können. Wer sich Gott mehr als unpersönliche Macht denn als Person vorstellt und sich mehr als spirituell denn als religiös definiert, räumt seiner Religiosität weniger Einfluss auf die eigene Lebensführung ein als jener, der einen persönlichen Gott verehrt und sich als religiös, nicht als spirituell versteht. Die Verflüssigung kirchlicher Transzendenzvorstellungen scheint insofern mit dem Rückgang der Relevanz des Religiösen einher zu gehen.

Anders verhält es sich bei der Politisierung der Religion. In den Ländern Ost- und Mittelosteuropas schätzen in der Mehrheit der Länder doppelt so viele Menschen Religion als bedeutsam für die nationale Zugehörigkeit ein wie in Westeuropa. In Russland etwa meinen 73 Prozent, um ein guter Russe zu sein, müsse man orthodox sein. Zwischen der Zuschreibung von Religion als Faktor nationaler Identität und dem Grad der Religiosität besteht in Ländern wie Russland, Polen, Georgien oder auch der Ukraine ein starker positiver Zusammenhang. In diesen Ländern ist das hohe Religiositätsniveau ein Ausdruck des Gefühls nationaler Überlegenheit. Das zeigt, dass Religion, auch wenn sie in unseren Breiten weithin gezähmt ist, nach wie vor ein hochexplosives Potenzial besitzt.

Der Autor ist Professor für Religionssoziologie an der Uni Münster.

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