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Amerikas Katholizismus verliert seine Traditionen

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Eine Analyse der Situation, in der sich die katholische Kirche der USA heute, zwölf Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanums, befindet, muß aus Quellen schöpfen, die oft erheblich voneinander abweichen. Da sind zunächst die offiziellen Äußerungen des höchsten Forums des amerikanischen Katholizismus, der „National Catholic Bishop Conference“, die periodisch zusammentritt und sich mit den wichtigsten Zeitproblemen sehr offen auseinandersetzt. Da sind aber auch die Stimmen der Kritiker, die als Kristallisationspunkte oppositioneller Bewegungen bisher wenig Bedeutung erlangten, die aber dochMeinungen wiedergeben, dieim amerikanischen Katholizismus weit verbreitet sind.

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Eine Analyse der Situation, in der sich die katholische Kirche der USA heute, zwölf Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanums, befindet, muß aus Quellen schöpfen, die oft erheblich voneinander abweichen. Da sind zunächst die offiziellen Äußerungen des höchsten Forums des amerikanischen Katholizismus, der „National Catholic Bishop Conference“, die periodisch zusammentritt und sich mit den wichtigsten Zeitproblemen sehr offen auseinandersetzt. Da sind aber auch die Stimmen der Kritiker, die als Kristallisationspunkte oppositioneller Bewegungen bisher wenig Bedeutung erlangten, die aber dochMeinungen wiedergeben, dieim amerikanischen Katholizismus weit verbreitet sind.

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Als eine solche Stimme verdient ein in katholischen Kreisen Aufsehen erregendes Werk des Priesters Andrew Greeley, „Catholic schools in a declining church“ (Katholische Schulen in einer an Bedeutung verlierenden Kirche), eine tiefschürfende Betrachtung, die sich auf viel statistisches Material beruft und Zustände von 1963 mit jenen von 1974 vergleicht, sich also mit einer Zeitspanne befaßt, die unmittelbar auf das Zweite Vatikanum folgte. Father Greeley wird vom Kirchenestablishment als „wilder Priester“ bezeichnet, worunter man nicht einen Dissidenten zu verstehen hat, sondern einen Kritiker, der zu „wüden“ Konklusionen neigt Nichtsdestoweniger sind die Statistiken Greeleys bedeutend und reichen weit über das hinaus, was sonst etwa zur Verfügung steht. Er ist auch keineswegs ein Kritiker des Vatikanums. Vielmehr sieht er eine der Hauptursachen für das Verflachen und Abfallen des amerikanischen Katholizismus in der Enzyklika „Humanae vitae“, das heißt also, im Verbot der Empfängnisverhütung, das, weil nicht realisierbar, die Integrität und Autorität der katholischen Kirche in den USA in Frage gestellt habe.

Zu berücksichtigen sind auch die Meinungen einer zweimal monatlich erscheinenden Zeitschrift namens „Remnant“, des Sprachrohrs jener Kreise, die von konservativer Warte aus Kritik am Vatikanum und seinen Auswirkungen üben. Als wichtiger Sammelpunkt der verschiedenen Meinungen und Richtungen muß schließlich die auf hohem intellektuellen Niveau stehende Wochenzeitschrift der Jesuiten, „America“, angesehen werden, der es gelingt, den wi-derstrebendsten Tendenzen innerhalb des amerikanischen Katholizismus ein Sprachrohr zu bieten, wodurch auch die schärfste Kritik einen konstruktiven Aspekt erhält

Um eine der wichtigsten Schlußfolgerungen gleich vorwegzunehmen: Das Zweite Vatikanum hat den amerikanischen Katholizismus in keinerlei Krisen oder Schismen gestürzt. Befragungen haben ergeben, daß 60 bis 70 Prozent der amerikanischen Katholiken das Vatikanum II positiv beurteilen, wobei die Akademiker mit 78 Prozent die höchste Zustimmungsrate aufweisen, während nur 42 Prozent der Nichtakademiker positiv eingestellt sind. Unter den Nationalitäten verhalten sich die Katholiken deutscher Abstammung zu 78 Prozent zustimmend, Katholiken spanischer Abstammung nur zu 59 Prozent Dazwischen liegen die Zustimmungsraten bei Italienern, Iren und Polen. 66 Prozent der Männer stimmen dem Vatikanum zu, 67 Prozent der Frauen, 60 Prozent jener, die über 50 Jahre alt sind, und 74 Prozent der Zwanzig- bis Fünfzigjährigen. Die breite Mitte des amerikanischen Katholizismus steht also hinter dem Vatikanum, die Opposition konzentriert sich auf dem rechten und dem linken Flügel Laut Greeley hat das religiöse Leben des Katholizismus in Amerika seit dem Vatikanum eine fühlbare Vertiefung erfahren. Während vor zehn Jahren nur 13 Prozent der Katholiken wöchentlich kommunizierten, sind es jetzt 26 Prozent. Anders ausgedrückt geht heute die Hälfte der Messebesucher zur Kommunion, vor 10 Jahren nur ein Fünftel.

Hier muß ein Wort über die kluge Taktik des amerikanischen Generalstabs der Katholischen Kirche gesagt werden: Wohl haben sich hier, wie auch in vielen anderen Ländern, Gruppen gebüdet die vor allem die neue Liturgie und die „Nationalisierung“ der heiligen Messe ablehnen. In Baltimore gibt es eine Gruppe um einen Father Pauw, die so lebt und wirkt, als habe es kein Vatikanum II gegeben. Aber die Hierarchie macht daraus keine „cause celebre“, so daß es zu keinen dramatischen Konfrontationen ä la Lefebvre kommt. Auch fehlt es der Führung des amerikanischen Katholizismus ein wenig an intellektuellem Format, wodurch eine der Voraussetzungen für einen geistigen Zusammenstoß wegfällt Schließlich ist das religiöse Leben Amerikas außerhalb des Katholizismus an eine so weitgehende Aufsplitterung in Sekten und-Minisekten gewöhnt, daß die Abweichungen im Katholizismus als ein natürlicher Bestandteil der amerikanischen Liberalität empfunden werden

Trotzdem ist eine bedrohliche Loslösung vom Katholizismus, ein Verlust religiöser Traditionen in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg fühlbar. Es gibt dafür viele Erklärungen. Die vielleicht zutreffendste davon ist der amerikanische Assimilierungsprozeß als solcher. Jene Millionen Iren, Italiener, Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken, die in Europa noch in strengen katholischen Traditionen aufwuchsen, sterben allmählich aus. Die ihnen folgende Generation hat bereits, nach materiellen und sozialen Erfolgen, mit den Assimilierungsidea-len der angelsächsischen Gesellschaft gleichgezogen. Die nationalen Infrastrukturen brechen zusammen. Damit aber auch die Anhänglichkeit an die angestammte Religion. Diese Entwicklung kommt in den hier folgenden statistischen Ziffern zunächst noch nicht zum Ausdruck. Dem Jahrbuch der amerikanischen Kirchen zufolge bekannten sich 1976 49 Millionen zum Katholizismus, also fast 23 Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Sie bü-den äußerlich den größten homogenen Block unter allen christlichen Bekenntnissen in den USA, da die insgesamt zahlreicheren Protestanten in verschiedenste Bekenntnisse aufgespalten sind, die jeweils, alleinge-npmmen, weniger Mitglieder zählen als die katholische Kirche. Die imponierende Mitgliederzahl wird ergänzt durch spektakuläre Wirtschaftserfolge der amerikanischen Katholiken. So rangierten amerikanische Katholiken einkommensmäßig noch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hinter den „Episcöpalians“, den „Presbyte-rianern“ und den Juden an vierter Stelle. Einzelne Gruppen, so die Iren, hatten allerdings bereits nach der Jahrhundertwende den steilen Aufstieg vom Lumpenproletariat zum Durchschnittseinkommen bewältigt. Die Generation des Vietnamkrieges erreichte dann die obersten Einkommenskategorien und ist heute auf höchstem wirtschaftlichem und sozialem Niveau voll integriert. Sie hat mit John F. Kennedy den ersten Präsidenten gestellt, zahlreiche führende politische Ämter besetzt und die Administration der Städte an sich gerissen. Dieser gesellschaftliche Erfolg, hat aber dem amerikanischen Katholizismus nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.

Deutlich treten die Verfallserscheinungen innerhalb des Klerus zutage. Zwischen 1965 und 1975 ist die Zahl der Ordensangehörigen erheblich gesunken. Die Zahl der Nonnen von 180.000 auf 135.000, die Zahl der (nicht ordinierten) Ordensbrüder von 12.300 auf 8600, ein Umstand, der vor allem die Lehrkörper der katholischen Schulen aushöhlt 1965 waren noch fast 49.000 junge Studenten in Priesterseminaren inskribiert, im Schuljahr 1972 waren es nur 23.500. Von 56.712 Priestern (davon über 20.000 Ordenspriestern) werden etwa 2500 Priester jährlich ihrer Berufung untreu Zwischen 1963 und 1968 haben 7137 Priester um Laisierung angesucht, 5652 solcher Ansuchen wurden genehmigt. Dabei war die Zahl der dispensierten Ordenspriester erheblich höher als jene der Diözesanprie-ster (etwa 4000 gegenüber 3000).

Die Scheidungsrate der Katholiken hat fast schon die amerikanische Durchschnittsrate erreicht, derzu-folge jede vierte Ehe in den USA geschieden wird. Nur 20 Prozent der geschiedenen Katholiken heiraten nicht mehr, 80 Prozent hingegen gehen eine neue Ehebindung ein.

Der regelmäßige Messebesuch an Sonntagen lag 1966 noch bei 71 Prozent aller Katholiken. 1971 lag er nur noch bei 52 Prozent Sporadisch besuchen die Messe 38 Prozent, 10 Prozent öfter als regelmäßig.

Einer Gallup-Befragung von 1971 zufolge haben es 63 Prozent der Katholiken unterlassen, während der letzten acht Wochen vor der Befragung zu beichten. 24 Prozent beichteten einmal, 12 Prozent mehr als einmal pro Jahr. 53 Prozent sind für die Priesterehe, 36 Prozent dagegen.

Der vielleicht wichtigste Faktor des amerikanischen Katholizismus ist jedoch sein Schulwesen. Die katholischen Privatschulen sind eine wesentliehe kulturelle Einrichtung des Landes, weü sie einen höheren Büdungs-grad als die öffentlichen Schulen vermitteln und obendrein kein Schulgeld einheben. Die steigenden Unterrichtskosten und die abnehmende Wirtschaftsbasis haben diesen Zustand in den letzten Jahren etwas, modifiziert, doch ist das Einkommen aus Schulgeldern noch immer minimal. Die katholische Kirche führt daher schon seit vielen Jahren einen Kampf um Zuschüsse aus Budgetmitteln, hat aber trotz gelegentlicher Unterstützung durch einflußreiche Politiker, die vor den Wahlen katholische Stimmen angeln wollen, wesentliche Entscheidungen vor dem Obersten Gerichtshof verloren. Diese Entscheidungen basieren auf der in der Verfassung verankerten Trennung von Kirche und Staat und dürften somit auch in der Zukunft nicht aufgehoben werden. Die katholische Kirche unterrichtete 1973 in 8647 Elementarschulen 2,8 Millionen Schüler und in 1702 höheren Schulen fast eine Million Studenten aus eigenen Mitteln. Durch Schließungen von Schulen aus finanziellen Erwägungen und wegen Lehrermangels verlören in diesem Jahr 156.000 Elementarschüler und 180.000 Studenten ihre Studienplätze.

Immer schon war die katholische Schule ein religiöses Bollwerk in den Urbanen Zentren Chikago, Los Angeles, Boston (alles Städte mit über zwei Millionen Katholiken), New York, Detroit Newark und Philadelphia (Städte mit über 1,3 Millionen Katholiken) weisen die meisten katholischen Schulen auf. Mit dem Verfall der Großstädte setzte jedoch eine Flucht in die Vorstädte ein, so daß heute nicht nur katholische Schüler konfessionslose öffentliche oder private Schulen besuchen, sondern auch die in den Großstädten freigewordenen Schulplätze von Nichtkatholiken eingenommen werden. Die katholische Schule war an sich niemals de jure eine konfessionelle Schule. Dieses Bild verändert sich jetzt einigermaßen, weil die katholischen Schulen den Katholiken nicht so ohneweiteres in die Vorstädte folgen können und weil die freigewordenen Plätze in den Großstädten von Kindern besucht werden die einer völlig veränderten sozialen und wirtschaftlichen Schicht angehören. Hier entstehen jetzt die Brutstätten ultraprogressiver Ideen und Unruheherde, die bis in die Spitzen der Hierarchie Unsicherheit verbreiten.

Unsicherheit herrscht vor allem unter den Priestern. 1971 glaubten noch ,56 Prozent aller Priester an die Unfehlbarkeit des Papstes. Einer Gallup-befragung von 850 Priestern 1967 zufolge, glauben 52 Prozent aller Befragten, daß es dem einzelnen Priester überlassen bleiben sollte, zu heiraten oder nicht zu heiraten. 77 Prozent der. Priester unter 40 Jahren sind für die freie Wahl für oder gegen den Zölibat aber auch 36 Prozent der Priester über Vierzig befürworten die persönliche Entscheidung.

Das Wort von der „declining church“ ist für den heutigen Zustand der katholischen Kirche in Amerika nicht übertrieben. Viele dem Mittelstand und dem gehobenen Mittelstand angehörende Katholiken fühlen sich in ihrer seit mehreren Generationen errungenen Position angegriffen und kritisiert, wenn die amerikanischen Bischöfe soziale und wirtschaftliche Ungleichheit bemängeln und politische Standpunkte einnehmen, die sie naiverweise für populär halten. Kritik findet auch die schwankende Haltung der amerikanischen Bischöfe in der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung, die in einigen Fällen zu einem echten Zerwürfnis zwischen orthodoxen Laien und einzelnen Elementen innerhalb der Hierarchie geführt hat.

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